Einführung

Zur Bekanntheit des Liber „Scivias“ (Wisse die Wege), der ersten Visionsschrift Hildegards von Bingen, haben die 35 Miniaturen in erheblichem Maße beigetragen. Diese Bilder befinden sich in der sogenannten Illuminierten Prachthandschrift und sind inzwischen vielleicht populärer als der geschriebene Text des Werkes selbst. Über das Entstehen und das Wesen der Miniaturen gibt es noch keine endgültigen Forschungsergebnisse. Allgemein anerkannt ist die Datierungszeit der Handschrift zu Lebzeiten Hildegards, also vor 1179. Auch das Kloster Rupertsberg als Entstehungsort erscheint unstrittig. Obwohl die Originalhandschrift des Scivias-Kodex seit 1945 verschollen ist – aus Sicherheitsgründen wurde er kurz vor Kriegsende aus der Nassauischen Landesbibliothek Wiesbaden nach Dresden verlagert – verfügen wir dank der akribischen Arbeit unserer Mitschwestern, die die Handschrift in den Jahren 1927-1933 aufs Getreuste handkopiert haben, über ein wertvolles Faksimile.

 

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„Da legte ich Hand ans Schreiben.“

Die erste Miniatur des Rupertsberger „Scivias“-Kodexes stellt Hildegard dar, während sie mit feurigen Flammen überströmt in ihrer Schreibstube arbeitet und der vertraute Mönch und jahrzehntelang treue Helfer, Volmar, ihr beisteht. Dieses sogenannte Autorenbild erfüllt verschiedene Funktionen.
Der illuminierte Scivias-Kodex fängt mit diesem Bild an. Es ist also das Eingangstor zum ganzen Werk.
Diese Miniatur dient außerdem als Kommunikationsinstrument zwischen dem Text und dem Leser und schafft damit einen ersten Zugang zum Haupttext des Scivias. Weiterlesen

„Der große, eisenfarbige Berg bedeutet die Kraft
und die Ständigkeit des ewigen Reiches Gottes.“

Der überaus große Lichtglanz, der Hildegard in der Protestificatio überströmt, nimmt in der ersten Vision konkrete Gestalt an. Auf der dazu gehörigen Miniatur sehen wir den Bilderreichtum, der Hildegards Schau auszeichnet.
In dieser Eröffnungsvision richtet sich der erste Blick der Wahrnehmung auf Gott, dessen Stimme in der Protestificatio erscholl und dessen Gegenwart das ganze Buch Scivias erfüllt: „Ich schaute und ich sah etwas wie einen großen, eisenfarbigen Berg. Darauf thronte ein so Lichtherrlicher, dass seine Herrlichkeit meine Augen blendete.“ Gott, der Allherrscher und Allmächtige, ist zugleich auch behütender Schutz: im Schatten seiner Flügel gewährt er Geborgenheit. Weiterlesen

„Die Übertretung, die im Garten der Wonne geschah, sollte einst liebreich und barmherzig getilgt werden.“ (Scivias I.2.26.)

Nachdem sich in der Eröffnungsvision das Gottesreich vor unseren Augen entfaltet hat, werden nun die ersten Seiten der Heiligen Schrift in ungewöhnlich anmutenden Bildern ausgelegt. Die Meditationen dieser Vision kreisen um drei Themen: den Anfang des Bösen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau und die Erlösung. Theologisch gesehen stehen sie in engem Zusammenhang zueinander. Die Miniatur leistet Großartiges, indem sie diese heilsgeschichtlichen Momente in einem Bild zusammenfügt. Weiterlesen

„Nicht nur das Sichtbare und Zeitliche tut Gott durch seine Schöpfung kund, sondern auch das Unsichtbare und Ewige.“ (Scivias I.3.1.)

Der im Glauben verwurzelte Mensch des Mittelalters erfasste die Seinswirklichkeiten in symbolischer Weltanschauung. Er war fähig, den Verweischarakter der sinnlichen Dinge auf das Übernatürliche hin zu verstehen, die vergängliche Welt galt ihm als Gleichnis der unvergänglichen. Hildegard, die über eine feine Sensibilität für Gottes Wirklichkeit verfügte, stand auch mit der Natur in Fühlung. In dieser dritten Vision lehrt sie uns, das Heilswirken Gottes in der Schöpfung zu lesen. Weiterlesen

„Es sieht alle Menschen, die ins Leben kommen, genau voraus,
mögen sie einst verworfen oder gerettet werden.“ (Scivias I. 4. 9.)

Der kosmologischen dritten Vision folgt eine Vision mit anthropologischen Ansätzen. Sie schildert den Weg des Menschen von den ersten Regungen im Mutterschoß bis zur Trennung der Seele vom Leib. Dem reichen Gedankengut entsprechend gehören zu der Vision drei Miniaturen. Die erste, die wir nun betrachten, mutet auf den ersten Blick kompliziert an, aber die Auslegung Hildegards hilft, die einzelnen Elemente zu verstehen.
Die liegende Frau mit einem Kind im Schoß auf dem linken Feld lässt vermuten, dass es hier um die Empfängnis des Menschen geht. Das glänzende Viereck bedeutet das Vorauswissen Gottes: „Es sieht alle Menschen, die ins Leben kommen, genau voraus, mögen sie einst verworfen oder gerettet werden.“ (SV I.4. 9.) Es stellt sich sofort die Frage: “Was soll der Mensch tun, wenn Gott im voraus alles weiß, was er verfügen wird?“ (ebd.) Die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem Vorauswissen und menschlicher Freiheit durchzieht die ganze christliche Geschichte. Weiterlesen

„Gott, hast nicht Du mich erschaffen?
Siehe, gemeine Erde drückt mich nieder!“ (Scivias I.4.4.)

Hildegard spricht in ihrer Vision von einer Kugel, auf die viele Stürme eindringen. Der Künstler malt auf der Miniatur bereits die hinter den visionären Bildern stehende Wirklichkeit: den Menschen, der Anfechtungen ausgesetzt ist und um Gottes Hilfe fleht. Indem sich die Menschenseele ihrer Situation bewusst wird, wachsen in ihr Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis in gleichem Maße.
Der Mensch nimmt seinen irdischen Zustand als ein Fremdsein wahr, das von äußeren und inneren Versuchungen gekennzeichnet ist. Einerseits lauert der Teufel auf den Menschen, um sich seiner zu bemächtigen, was auf der Miniatur sehr anschaulich dargestellt wird: teuflische Gestalten zielen mit ihren Pfeilen auf den Menschen. Andererseits erfährt der Mensch seine Widersprüchlichkeit, indem die fleischliche Begierde ihn am guten Werk hindert. Gott hat den Menschen als Leib-Seele-Einheit erschaffen, deswegen ist die Leiblichkeit des Menschen eine Gottesgabe. Infolge des Sündenfalls ist aber das harmonische Verhältnis zwischen Leib und Seele gebrochen, und der Mensch erlebt die Begierden des Leibes als Gefährdung. Weiterlesen

„Ich ziehe aus meinem Zelt aus.
Aber ich Elende, Leidvolle, wohin werde ich gehen?“
(Scivias I.4.8.)

Parallel zu Tafel 5, die den Anfang des Menschenlebens zum Gegenstand hat, gestaltet sich diese Miniatur, die die letzten Augenblicke des menschlichen Daseins auf Erden und die Ankunft im Jenseits veranschaulicht.
Jeder Mensch muss sich mit dem Tod konfrontieren. Für den mittelalterlichen Menschen war diese Tatsache selbstverständlicher als für uns, die wir Kinder des 21. Jahrhunderts sind, eines Zeitalters, in dem der Tod im allgemeinen Bewusstsein ausgeblendet wird.
Der Tod bedeutet die Trennung der Seele vom Leib. Wie am Anfang die Seele in der Form einer Feuerkugel den menschlichen Leib in Besitz genommen hat, scheidet sie aus dem Körper, dessen uralte Metapher das Zelt ist. Die Auseinandersetzung mit der Realität des Todes ruft sicherlich in jedem Menschen zunächst Angst hervor. Sei es ein Mensch im 12. Jahrhundert oder im 21. Jahrhundert, die Frage bleibt dieselbe: „Ich ziehe aus meinem Zelt aus. Aber ich Elende, Leidvolle, wohin werde ich gehen?“ (Scivias I.4.8.) Weiterlesen

„Die Mutter der Menschwerdung des Gottessohnes“
(Scivias I.5.1.)
Eine traurige Frauengestalt begegnet uns auf dieser Miniatur. Sie stellt die Synagoge dar. Wer schon einmal mittelalterliche Figuren der Synagoge meistens zusammen mit der Kirche gesehen hat, auf der die Synagoge als eine Frau mit verbundenen Augen und gebrochenem Zepter dargestellt ist, der mag staunen über die ehrenvolle und würdige Haltung dieser Synagoge des Scivias.

Zum tieferen Verständnis dieser Vision führen einige Überlegungen aus dem Umfeld. Das Verhältnis der Christen zu den Juden bildet seit der urchristlichen Zeit ein Thema theologischer Reflexion. Wie Michael Zöller bemerkt, steht der Scivias „mit seiner Kritik, aber auch mit seiner Solidarität und Hoffnung gegenüber der Synagoge im Horizont der Theologie seiner Zeit“ (Gott weist seinem Volk seine Wege. Weiterlesen

„Alle diese Reihen tönten in jeglicher Art von Musik
und kündeten in wundersamen Harmonien die Wunder,
die Gott in heiligen Seelen wirkt
– ein Hochgesang der Verherrlichung Gottes“
(Scivias I.6.)
Die minuziöse Ausarbeitung aller Details und die sorgfältige Kunstfertigkeit des Künstlers faszinieren jeden Betrachter dieser Miniatur. Bei genauem Hinschauen erkennt man, dass hier neun Engelchöre dargestellt werden.

Die Vorstellung von den Engelchören reicht zurück in die biblische, liturgische und patristische Tradition. Hildegard wird diese Lehren gekannt haben durch ihre monastische Bildung, was aber die Originalität ihrer Vision nicht einschränkt. Die neun Engelchöre werden nämlich bei ihr auf eigenartige Weise gegliedert: statt dreimal drei bilden die ersten zwei, dann die folgenden fünf und schließlich die letzten beiden Chöre eine zusammen-gehörende Einheit. Hinter diesen Zahlen stehen geistliche Deutungen: Die ersten beiden Reihen weisen darauf hin, dass „Leib und Seele des Menschen Gott dienen müssen“ (Scivias I.6.1.). Sie schließen sich um fünf andere Reihen, wobei die Zahl fünf die fünf Sinne des Menschen bedeutet, die durch die fünf Wunden Jesu Christi gereinigt sind (vgl. Scivias I.6.3.). Die innersten Engelchöre sind zwei an der Zahl, weil sie die zweifache Liebe, zu Gott und zu dem Nächsten, darstellen. Weiterlesen