„Scivias“-Kodex: Tafel 2: Der Leuchtende

„Der große, eisenfarbige Berg bedeutet die Kraft
und die Ständigkeit des ewigen Reiches Gottes.“

Der überaus große Lichtglanz, der Hildegard in der Protestificatio überströmt, nimmt in der ersten Vision konkrete Gestalt an. Auf der dazu gehörigen Miniatur sehen wir den Bilderreichtum, der Hildegards Schau auszeichnet.
In dieser Eröffnungsvision richtet sich der erste Blick der Wahrnehmung auf Gott, dessen Stimme in der Protestificatio erscholl und dessen Gegenwart das ganze Buch Scivias erfüllt: „Ich schaute und ich sah etwas wie einen großen, eisenfarbigen Berg. Darauf thronte ein so Lichtherrlicher, dass seine Herrlichkeit meine Augen blendete.“ Gott, der Allherrscher und Allmächtige, ist zugleich auch behütender Schutz: im Schatten seiner Flügel gewährt er Geborgenheit.
Die Miniatur mit der Lichtgestalt, dem Berg und dem sternenübersäten blauen unteren Feld fasst den Inhalt des in drei Bücher geteilten Scivias zusammen. Der thronende leuchtende Mann, der seine Flügel umschirmend ausbreitet, weist auf das erste Buch des Scivias hin, in dem die Vorgeschichte des Heils erzählt wird: Der Schöpfer und der erlösungsbedürftige Mensch, dessen Gott sich erbarmungsvoll annimmt, stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Das mittlere Feld, auf dem Menschengesichter in Fenstern erscheinen, deutet auf das zweite Buch hin: Es befasst sich mit der Kirche, die ihre Heilsmittel, die Sakramente, den Menschen anbietet und ihnen das Werk der Erlösung vermittelt. Die vielen lebendigen Funken auf dem blauen Hintergrund unten sind die Gotteskräfte. Im dritten Buch werden etliche von ihnen in mannigfaltigen Gestalten erscheinen. Sie bevölkern das Heilsgebäude.

Hier, in der ersten Vision, treten aus ihrer Schar vorerst zwei Gotteskräfte hervor und zeigen sich in ihrer eigenen Gestalt. Die auf der linken Seite stehende ist die Gottesfurcht, über und über mit Augen bedeckt. Neben ihr steht die Armut im Geiste, eine junge Frau, über deren Haupt sich solchen Lichtes Fülle ergießt, dass man ihr Antlitz nicht zu schauen vermag.
Nicht zufällig stehen diese beiden Gotteskräfte am Anfang. Die Gottesfurcht ist die erste der sieben Gaben des Heiligen Geistes, die Armut im Geiste leitet die Seligpreisungen ein. Von diesen beiden Tugenden aus entfaltet sich jeweils ein hoffnungsvoller Prozess. Außerdem sind diese beiden Haltungen wichtig, wenn der Mensch anfängt, mit dem geistlichen Leben ernst zu machen. Wenn der hl. Benedikt den Aufstiegsweg des Menschen zu Gott beschreibt, stellt er die Gottesfurcht an den Beginn dieses Weges (Benediktusregel Kap. 7). Die mit den Augen überbedeckte Gestalt in Hildegards Vision zeigt, was mit der Gottesfurcht gemeint ist: sie ist eine Haltung vollständiger Aufmerksamkeit. In wachsamer Umsicht entflieht sie der Gottvergessenheit, der größten Gefahr, die den Menschen vom Heilsweg abbringt. Der Gottesfurcht verwandt ist die Armut im Geiste. Diese Gestalt der Vision stellt die Armut nicht als Mangel dar, sondern als ein vollkommenes Freisein für das Empfangen der göttlichen Gnade. Diese unscheinbare Frau in mattfarbenem Gewand ist so erfüllt vom himmlischen Glanz, dass sie durch und durch zu einer Lichtgestalt wird.
Wenn wir jetzt am Anfang des Scivias stehen und aufbrechen, um die Wege zu gehen, die uns Gott in diesem Werk weist, sollen uns diese beiden Gotteskräfte begleiten, um das Geschaute und Niedergeschriebene in Wachsamkeit und Bereitschaft aufzunehmen. Damit wir es nicht vergessen, wiederholt Hildegard am Ende jeder Vision des ersten Buches diese Worte: „Deshalb wer immer Kenntnis im Heiligen Geist und Flügel im Glauben hat, möge meine Mahnung nicht überschreiten, sondern sie im Schmecken seiner Seele umarmend empfangen.“

Sr. Maura Zátonyi OSB