Brief der First Lady der Ukraine
an den Ökumenischen Rat der Kirchen
Mrs. Olena Zelenska, die First Lady der Ukraine, veröffentlichte am 19. März einen Brief an den Ökumenischen Rat der Kirchen. Wir möchten ihre humanitären Anliegen und die Verurteilung dieses Angriffskrieges unterstützen und geben diesen Brief hier wieder. Die Übersetzung ist unsere, das Original ist in ukrainischer und englischer Sprache unter diesem Link auf der offiziellen Website des Präsidenten der Ukraine sowie den offiziellen Social Media-Kanälen von Frau Zelenska veröffentlicht.
„An den
Geschäftsführenden Generalsekretär
des Ökumenischen Rates der Kirchen
Pfr. Prof. Dr. Ioan Sauca
19.03.2022
Lieber Pater Ioan!
Ich schreibe Ihnen nicht als First Lady, sondern als ukrainische Frau, als Mutter und Ehefrau. Dies ist nicht einmal ein Brief, sondern die Stimme meines Schmerzes, der sich in diesen Tagen des Krieges angesammelt hat.
Doch wissen Sie, was das Schlimmste ist? Dass es so viele Opfer gibt, die zu Statistiken werden. Die ersten Opfer konnten wir noch mit ihren Namen betrauern, aber jetzt trauern wir um sie in Zahlen. Der Angreifer gibt nicht mehr vor, keine zivilen Objekte treffen zu wollen – er zielt mit Absicht auf sie. Die Bilder der von den Russen bombardierten Entbindungsklinik in Mariupol gingen um die Welt. Eine dieser Mütter und ihr Kind, die während des Angriffs dort waren, starben, während ich diese hier Zeilen schrieb.
Letzte Woche waren wir geschockt von der Zahl der ermordeten Kinder – es waren fast 30. Jetzt ist die Zahl auf über 100 gestiegen – mehr als einhundert getötete Kinder! Einige wurden zusammen mit ihren Eltern an Militärposten erschossen; andere wurden von Granatsplittern zerfetzt oder unter ihren eigenen zerstörten Häusern begraben, erschöpft durch Unterernährung, Dehydrierung und fehlende medizinische Versorgung. Sie liegen jetzt in provisorischen Gräbern in ihren Hinterhöfen oder… in Massengräbern.
Ja, Massengräber sind in diesen zwei Wochen in der Ukraine aufgetaucht. Wir leben im 21. Jahrhundert und meine Hand weigert sich, dies zu schreiben, meine Augen weigern sich, es zu lesen.
Ich werde wieder Zahlen nennen müssen, aber hinter jeder einzelnen Zahl steht das Leben eines einzigartigen Menschen. Mehr als zweitausend Tote – jemandes Eltern, Mütter, Großeltern, Kinder – liegen in diesen Gräbern in Mariupol. Papst Franziskus hat die Stadt letzten Sonntag als „Märtyrerstadt“ bezeichnet. Sie ist mit Blut und Tränen bedeckt und steht unter ständigem Beschuss.
Doch es gibt viele ähnliche „Märtyrerstädte“ in der Ukraine – Sumy, Okhtyrka, Kharkiv, Mykolaiv, Bucha, Gostomel, Vorzel, Chernihiv, Izyum, Volnovakha… Ukrainer suchen vergeblich nach geliebten Angehörigen, die in diesen Städten verschwunden sind. Es ist entsetzlich, ihre Nachrichten in den sozialen Medien zu lesen. „Das letzte Mal hat meine Schwester (mein Bruder, meine Mutter) vor zehn Tagen aus dem Keller angerufen„, so beginnen die Botschaften. Diese Städte sind durch die feindlichen Streitkräfte von jeglicher Hilfe und Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. Tausende von Ukrainern trösten sich mit dem Gedanken, dass ihre Angehörigen nur im Keller sind und dort keine Telefonverbindung haben. Alle beten dafür, dass sie am Leben sind und wieder ans Telefon gehen werden!
Heute ist es unser wichtigstes Ziel, dass diese Menschen endlich wieder mit ihren Angehörigen telefonieren können, warmes Essen bekommen und die notwendige medizinische Behandlung erhalten. Aber der Feind vereitelt regelmäßig unsere Versuche, „Straßen des Lebens“ zu schaffen. Menschen, die kilometerweit zu Fuß aus den besetzten Städten fliehen und dabei Kinder, alte Menschen und Tiere tragen, werden in den Rücken geschossen. So starben neulich sechs Erwachsene und ein Kind bei dem Versuch, das Dorf Peremoha in der Region Kiew zu erreichen.
Ich wende mich an Sie als Organisation, die berufen ist, Frieden und Brüderlichkeit zu predigen: Seien Sie die Stimme derer, die heute unter dem Krieg leiden! Vermitteln Sie den Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen, wie wichtig es ist, sich in unserem Land für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen, der aus dem Glauben an Gott erwächst.
Möge der Ökumenische Rat der Kirchen die Stimme der vom Krieg verfolgten Ukrainerinnen und Ukrainer sein. Zuallererst bitte ich die Mitglieder des ÖRK, Vermittler zu sein um echte humanitäre Korridore zu schaffen! Ermutigen Sie die Organisationen, von denen es abhängt, sich für diese Arbeit einzusetzen und nicht daneben zu stehen und zuzusehen!
Dieser Brief zeigt meinen Schmerz nicht nur um die Menschen, sondern auch um all das, was sie mit ihren Händen aufgebaut haben und was der Feind absichtsvoll zerstört. Diese Aktionen widersprechen unmittelbar dem Konzept der sozialen Gerechtigkeit, deren Verkündigung und Umsetzung, die eine der Hauptaufgaben Ihrer Organisation ist. Statt blühender Städte und Dörfer hinterlässt der russische Aggressor nur noch Ödland. Jedes zerstörte Gebäude, jede von einem Panzer überrollte Stadt ist das Haus von jemandem. Und es sind die Erinnerungen, die Hoffnungen, die Pläne, der Kraftort eines Menschen.
Mehrere Millionen Ukrainer haben bereits einen solchen Ort verloren. Sie können unsere Mitbürger auf den Straßen zahlreicher europäischer Städte treffen. Sie können die Fassungslosigkeit in ihren Augen sehen, denn das, wonach sie sich am meisten sehnen, ist, zu Hause bei ihren Familien zu sein.
Wir wissen um die Erfahrung des Ökumenischen Rates der Kirchen bei der Bewältigung humanitärer Krisen und bitten Sie um Ihre Hilfe. Wir bitten Sie insbesondere, über die Ihnen angeschlossenen Organisationen der Ukraine zu helfen, und den Ukrainern, die derzeit vor dem Krieg fliehen.
Ich bitte Sie und die Mitglieder des ÖRK, Ihre prophetische Stimme zu erheben, zur Verurteilung des Krieges und zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Und wir – die, die bleiben – werden dafür kämpfen, dass dies geschieht. Wir werden auch für die Rettung jedes einzelnen Ukrainers kämpfen, denn es sind die Menschen, aus denen das Land besteht. Ich bitte Sie, unser moralischer und aktiver Verbündeter in diesem Kampf zu sein.
Ich bitte Sie, der Welt weiterhin die Wahrheit über diesen Krieg zu sagen, der vor den Toren Europas stattfindet und jeden Moment in ein anderes europäisches Haus einbrechen kann. Diese Katastrophe betrifft jetzt jeden, wo auch immer er lebt – und Ihre große Autorität hilft, diese Wahrheit in die Welt zu tragen.
Mit Glauben und der Hoffnung auf Frieden, und mit der Liebe, die sicher über den Tod siegen wird –
Olena Zelenska“
an den Ökumenischen Rat der Kirchen