“Scivias”-Kodex: Tafel 12: Mutterschaft aus dem Geist und dem Wasser

„Aus lebenden Seelen wird der himmlische Bau aus lebendigen Steinen errichtet. Wie eine riesige Stadt umfasst er die große Schar der Völker und wie ein weites Netz eine ungeheure Menge Fische.“ (Sc II,3)

Nachdem in den ersten beiden Miniaturen des zweiten Buches Scivias das Erlösungswerk des dreifaltigen Gottes erläutert wird, beschreiben die folgenden Bilder die Vergegenwärtigung der Erlösung in der Kirche und ihren Sakramenten. „Gott schenkt den Menschen durch die Kirche das Heil, indem er ihnen durch die Sakramente seinen Weg in die Nachfolge seines Sohnes eröffnet, sie auf ihm festigt und stärkt und die Menschen, wenn sie gesündigt haben, in der Buße wieder auf den Weg Gottes zurückführt.“ (Zöller, S. 248)
Die Miniatur zeigt in Teildarstellungen das Wesen der Kirche und das Sakrament der Taufe.
Riesengroß wie eine Stadt erscheint der Seherin die Frauengestalt als die neue Braut und Mutter. Sie erstrahlt von einem überhellen Licht, denn die wahre Sonne Jesus Christus durchstrahlt sie, ihr Haupt mit einem Schmuck umkränzt, vom Schmuck der Apostel und Märtyrer. Aber sie ist noch nicht vollendet, deshalb nicht in voller Gestalt sichtbar. Die heilsgeschichtliche Entwicklung der Kirche als der jungfräulichen Braut des Sohnes Gottes ist in der Miniatur im lichtvollen Glanz der Gestalt angedeutet.
Der „Ort“ der Kirche ist der Altar, den sie rechts oben mit ausgebreiteten Händen umfasst. Auf dem Altar zeigt sich Christus, der zugleich Hoherpriester und Opfergabe ist. Vom Altar aus überblickt die Kirche den gesamten Horizont der Welt.
Ihr eigenes Wesen drückt die Kirche auf dem Spruchband links oben mit den Worten aus: „Ich muss empfangen und gebären.“ Auf der Brust blitzt ein rötlicher Schein wie Morgenrot. Das Lied, das daraus ertönt, preist Maria als die „funkelnde Morgenröte“. Engel eilen herbei und bereiten Stufen, Leitern und Sitze für die Menschen, durch die die Kirche vollendet werden soll.
In der unteren Teildarstellung der Miniatur ist die Taufe dargestellt als Wiedergeburt der Gläubigen aus Geist und Wasser. In ihrem Leib trägt die Kirche das Fischernetz Petri, in das Menschen gleich dunkelhäutigen Fischen hineinschwimmen. „Die gesegnete Mutter“ zieht diese zu ihrem Haupt empor, so dass sie durch ihren Mund verwandelt in Licht hervorgehen. Sie sind für das neue Leben in Christus geboren. Die Frauengestalt weist auf den dreifaltigen Gott hin, denn die Täuflinge sind auf den Vater, den Sohn und auf den Heiligen Geist getauft.
Und die Kirche spricht zu jedem ihrer Kinder:
„Lege die alte Ungerechtigkeit ab, ziehe die neue Heiligkeit an. Denn die Tür zu deinem Erbe ist dir wiedererschlossen. Bedenke, wie du belehrt worden bist, deinen Vater zuerkennen, zu dem du dich bekannt hast.
Siehe dir nun die beiden Wege an: der eine führt nach Osten (Reich Gottes), der andere führt nach Norden (Region des Teufels). Wenn du eifrig mit deinen inneren Augen auf mich schaust, wie es dich der Glaube lehrt, nehme ich dich in mein Reich auf. Wenn du mich aufrichtig liebst, will ich tun, was du nur willst. Verachtest du mich aber und wendest dich ab von mir und eilst zum Teufel, als ob es dein Vater wäre, wird dich das Verderben ereilen.“
In der Miniatur werden die beiden Wege durch die klare farbliche Trennung zwischen dem Höllenfeuer und dem Licht Gottes dargestellt.
Die Mutter Kirche schaut ihre Kinder, die durch sie hindurchgegangen waren und nun im Licht wandeln, gütig an und sagt mit trauriger Stimme: Ich empfange und gebäre viele, die mich bedrücken. Denn sie bekämpfen mich durch Irrlehren, unsinnige Kämpfe, Raub, Mord und andere Verfehlungen.
Doch viele erstehen in wahrer Buße zum ewigen Leben.“

Sr. Hiltrud Gutjahr OSB