Hildegard-Musik
Die Musik der heiligen Hildegard ist ohne den Hintergrund ihrer benediktinischen Lebensform nicht zu verstehen. Schon mit 14 Jahren begann für Hildegard das klösterliche Leben im Schatten eines Mönchskonventes. Mit 16 Jahren entschied sie sich auf Lebenszeit für die benediktinische Lebensform. Die heutige Interpretation der Hildegard-Musik ist häufig gelenkt von der Suche nach „Außergewöhnlichem“. Hier nun ein anderer Ansatz: Ihre benediktinische Lebensform, ihr Alltag, der zunächst der gewöhnliche in einem benediktinischen Kloster war.
1. Benediktinische Liturgie im Mittelalter – das Umfeld Hildegards
Wie sah Mönchtum, benediktinisches Leben zur Zeit Hildegards aus? Ja, man darf wohl sagen, das sich viele Spuren, die Grundwerte, bis in unsere Tage erhalten haben. Mönchtum nach Benediktusregel bedeutet, dem Gottesdienst nichts vorziehen. Der Glaube der Mönche äußert sich nirgendwo so intensiv wie in der Liturgie – leiturgia: Gottes Werk an uns, unser Werk für ihn – Dienst. Liturgie steht im Mönchtum in engster Verbindung mit dem gesamten monastischen Leben. Allein schon die Tagesordnung in einem mittelalterlichen Kloster zeigt dies auf: das Opus Dei ist die Hauptpflicht eines Klosters im Mittelalter. Gleichzeitig ist sie damit auch Quelle aller monastischen Bildung zu der sie gleichzeitig anregte und worin sie sich verwirklichte, denn in ihr begegnet der Mönch zu einem großen Teil der Hl.Schrift und den Gedanken der Kirchenväter, also der theologischen Überlieferung. In der Liturgie fand die monastische Bildung aber auch ihre vornehmliche Ausdrucksmöglichkeit. Für die Liturgie, oder durch sie angeregt, verfaßten die Mönche ihre meisten Schriften, ja man darf auch sagen: ihre Meisterwerke, die heute zum Allgemeingut abendländischer Liturgie geworden sind. Liturgie, d.h. hier im weitesten Sinn: alle Ausdrucksformen des Gebetes. Im Mittelalter gewinnt immer mehr die besondere Hochschätzung des öffentlichen Gottesdienstes an Bedeutung, ja sie wird zum Merkmal monastischen Lebens schlechthin. Das ganze monastische Leben verlief unter dem Zeichen der Liturgie, im Rhythmus des Stundegebetes, der Zeiten und Feste des Kirchenjahres. Liturgie war einfach das Beherrschende im Mönchsleben, die Sorge: Gott in allem zu verherrlichen. Dieses Grundanliegen kommt in allen Schriften zum Ausdruck und zwar in dreifacher Hinsicht:
1. Schriften, die Themen der Liturgie behandeln
2. Texte, die für den Gebrauch im Gottesdienst bestimmt waren
3. Schriften, die den Einfluß der Liturgie auf die Frömmigkeit der Mönche bezeugen.
Im Zusammenhang des Themas interessiert besonders der 2.Punkt: Die Schriften, die die Mönche für die Liturgie verfaßten. In diesen Jahrhundert entstehen eine Fülle neuer Texte: Tropen, Hymnen, Sequenzen – Gedichte von höchster künstlerischem Wert – bis hin zu Mysterienspielen. Alle diese Werke haben nur das eine Ziel: Gott zu loben, ihm Antwort zu geben auf seine Liebe. So schreibt z.B. Walter von Coincy, daß alle Mönche in seinem Kloster „die lieblichen Litaneien, die schönen und süßen Sequenzen mit lauter Stimme und in hellen Tönen“ sangen. Es gab sogar Klöster, die ein Fest einsetzten oder einen Festrang erhöhten, nur um der Freude willen, dabei schöne Texte zu singen oder vorzutragen.
Was kennzeichnete diese Literatur?: Sie nährten sich aus der Bibel und den Schriften der Väter. Die Ausdrucksweisen sind konkret und reich an Bildern. Ihre Worte wiegen weniger durch das, was sie sagen, als durch das, was sie sagen wollen; die Kraft der Vergegenwärtigung ist größer als die begriffliche Genauigkeit. Jedes Wort gleicht einer Note, die den ganzen Akkord zum Klingen bringt. Die mittelalterlichen Autoren bedienen sich der Worte der Heiligen Schrift in freier, harmonischer Form. Die großen Heilswahrheiten der Offenbarung stehen im Mittelpunkt ihrer Frömmigkeit, ihres Denkens. In ihren Gottesdiensten feiern die Mönche die Geheimnisse der Erlösung, die Heiligen, die deren lebendige zeugen waren, die Gottesmutter Maria, in der sich die Geheimnisse des Glaubens erfüllt haben. In allen Dichtungen spiegeln sich froher Glaube, glühende Begeisterung, innige Freude und Vertrauen in die Führung Gottes wider. Freude an Gott, an seinen Wohltaten in der Schöpfungen – das mußten die Mönche des Mittelalters einfach heraussingen, herausjubeln und immer wiederholen.
Nun mußten die Texte aber noch in eine musikalische Form gebracht werden. In ihren Gottesdiensten wurde – und bei uns in Eibingen wird es bis auf den heutigen Tag – alles gesungen. Gottesdienst war aber selbstverständlich kein Konzert oder primär ästhetisches Tun. Ja im „Speculum virginum“ (unbekannter Verfasser) wurde sogar gesagt: „Lieber mit rauher Stimme singen als sich im Chor langweilen.“ „Musicus et monachus“ – das war für mittelalterlichen Mönche ein wichtiges Zusammenspiel in einer Persönlichkeit (Guido v. Arezzo). Sie wurden Musiker, weil sie Mönche waren. In allen ihren Schriften stehen nebeneinander Theorien über modi und toni und Gedanken über Liturgie und monastisches Leben. Der Zweck ihrer Arbeit sahen sie darin, ihren Mitbrüdern zu helfen, sich durch einen wohlgeordneten einmütigen Gesang dem Lobpreis anzuschließen, den das All und die Engel Gottes darbringen und schon auf Erden den ewigen Gesang im Himmel vorwegzunehmen.
Insgesamt kann man sagen: Die Liturgie hat dem ganzen Leben der Mönche, der ganzen monastischen Kultur ihr Siegel aufgedrückt. Die Liturgie und ihre Feste haben den Lebensrhythmus der Mönche geprägt. Umgekehrt gilt: Die Liturgie ist Widerschein und Krönung ihrer Kultur. In den Texten und Kompositionen verdichtet sich die Theologie der Mönche, fand ihre Sehnsucht nach Gott den ihr angemessenen Ausdruck. In der Liturgie hatten die Mönche Anteil am ewigen Lobgesang
2. Hildegards musikalisches Schaffen im Rahmen ihrer benediktinischen Lebensform
„Nunc omnis ecclesia in gaudio rutilet ac in symphonia sonet.“ „Nun erstrahle die ganze Kirche in Frohlocken und erschalle in symphonischen Klang.“ Diese Worte aus dem Hymnus, den wir gerade gehört haben, treffen ins Zentrum dessen, was bisher allgemein über das Mönchtum gesagt wurde. Wie zentral die Musik im Leben, in der Theologie, in der Anthropologie und Kosmologie Hildegard war, läßt sich schon an folgendem Phänomen festmachen: In unzähligen Variationen besingt sie Gott, das Schöpfungsgeschehen, das Mysterium der Inkarnation, ja den gesamten Kosmos mit einer Bildersprache aus dem Bereich der Musik. Vom Urbeginn her ist alles vom Musik durchtönt. Schlüsselworte ihres Werkes sind: Symphonie, Harmonie, Klang.
Ich möchte nun in drei Punkten über das musikalische Schaffen Hildegards sprechen: 1. Aspekte der Überlieferung des musikalischen Werkes Hildegards. 2. Die Texte der Gesänge und ihre Verwurzelung im Gottesdienst des Klosters Rupertsberg.3. Die musikalische Umsetzung der Texte.
2.1 Aspekte der Überlieferung
Die Lieder der hl. Hildegard sind uns in zwei bedeutenden Handschriften hinterlassen. Die ältere Handschrift, Kodex 9 (Villarenser Kodex, Kloster Villers) des heutigen Klosters Dendermonde ist noch zu Hildegards Lebzeiten auf dem Rupertsberg geschrieben worden. Dann die jüngere HS, kurz nach dem Tod Hildegards ev. im Zusammenhang mit dem Heiligsprechungsprozess auf dem Rupertsberg geschrieben, der sogenannte Riesenkodex, heute HS 2 in der Hessischen Staatsbibliothek/Wiesbaden. Sodann sind uns einzelne Gesänge in verschiedenen HSS z.T. auch ohne Neumennotation überliefert, insgesamt rechnen wir mit 77 Gesängen und das Mysterienspiel „Ordo virtutum“. Diese Kompositionen umfassen Antiphonen, Hymnen, Sequenzen und Responsorien, meist zu den vielfältigsten Ereignissen des Kirchenjahres verfaßt. Das wohl bedeutendste Selbstzeugnis in Bezug auf ihre Musik gibt uns Hildegard in der Praefatio zum „Liber vite meritorum“. Dort bezeichnet sie selbst ihre Lieder als „symphonia harmoniae caelestium revelationem“, etwas frei übersetzt: musikalische Umsetzung der Harmonie des Himmels. Aber auch im „protocollum canonisationis“, d.h. in der Heiligsprechungsakte aus dem 13. Jh., ziemlich bald nach ihrem Tod, enthält schon Zeugenaussagen über ihr musikalisches Schaffen. Dort kommen Stellen vor wie : „caelestis harmoniae cantum“ – Lieder der himmlischen Harmonie, die sie geschrieben hat, oder von „cantum eius“. Daß eine hohe musikalische Begabung bei ihr vorausgesetzt werden kann, darf man vielleicht auch davon ableiten, daß ihr Bruder Hugo Domkantor in Mainz war.
2.2 Die Texte und ihre Verwurzelung im Gottesdienst des Klosters Rupertsberg
Inhaltlich darf man die Lieder Hildegards nicht lösen von ihrem gesamten Prosawerk, wenngleich sie auch daneben recht eigenständig stehen. Sie verarbeiten die Themen etwas anders als in ihren Prosawerken, aber es sind dennoch die Themen, die auch für das 12. Jh. als typisch belegt sind. Gott, der Schöpfer und Vater, neigt sich in Liebe seinen Geschöpfen zu. Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes – die Menschwerderung war besonders bei Bernhard von Clairvaux das große Thema des Hochmittelalters. Jesus Christus, der Erlöser steht ganz im Mittelpunkt ihrer Lieder. Der Hl. Geist – die Lieder an den Hl.Geist, zu Ehren des Hl. Geistes, gehören sicher mit zu den schönsten Teilen ihres Schaffens. In einer dieser Aantiphonen „Spiritus Sanctus vivificans vita“ besingt Hildegard den Hl.Geistes als „radix in omni creatura“ , die Wurzel alles Schöpfung. Der Hl.Geist ist in ihrem Denken derjeigen, der in allem lebt und alles bewegt und neu belebt. Ein relativ großer Teil ihrer Carmina ist Maria gewidmet. Durch Bernhard von Clairvaux wissen wir auch, welche große Stellung als Folge der Menschwerdung Maria im Denken des Hochmittelalters hatte. Durch ihr Ja-Wort holt sie das Nein Evas im Paradies wieder ein (Doppelung Eva – Ave). Maria heilt die Wunde des Todes. Hildegard nennt sie in einem Responsorium „mater sanctae medicinae“ – Mutter der Heilkunde. Maria gibt durch die Geburt der verlorenen Menschheit das Leben zurück; und sie gießt dadurch Salböl in die Wunde des Todes und hat dadurch das Leben wieder aufgerichtet. Solche Bilder aus dem Bereich der Medizin benutzt Hildegard immer wieder und weist damit auf die eigentliche Krankheit des Menschen hin, nämlich die Krankheit zum Tod, die Krankheit der Gottverlassenheit, der der Mensch durch die Gottvergessenheit entfliehen will. Heil wird – im Denken Hildegards – nur da, wo sich der Mensch wieder auf den Weg zu rück, auf den Ursprung besinnt und sich wieder in die Urverbundenheit mit Gott begibt. Insgesamt sind uns 16, als eine sehr große Zahl, an Maria überliefert. Die anderen Teile ihres musikalischen Schaffens gelten vor allem den Heiligen. Es fällt auf, wenn man es überblickt, daß sie jeweils zwei Gesänge zu einem Thema geschrieben hat, zwei über die Engel, zwei über die Patriarchen und Propheten, zwei über die Apostel, zwei über die Martyrer, zwei über die Bekenner, drei über die Jungfrauen, eine über die heiligen Frauen. Im Mittelalter beachtete man besonders hoch den Stand der Jungfräulichkeit, d.h. es kommt in ihrem musikalischen Schaffen der ganze „himmlische Hofstaat“ vor. Dies ist insofern bemerkenswert, als sie in der Schlußvision ihres Werkes Scivias verschlüsselt beschreibt, welches in ihrem Denken die Aufgabe der Musik ist. In dieser Vision schaut sie die Himmelsbürger in der Gemeinschaft der Heiligen. Sie sind vereint in einem einzigen Lobpreis der Herrlichkeit Gottes. Jeder Gruppe der Heiligen ist ein Musikinstrument zugeordnet, entsprechend Ps 150, wo beschrieben wird, wie und mit welchen Instrumenten in besonderer Weise Gott zu loben ist. Der Mensch wird in dieser Schlußvision aufgerufen, in diesen Lobpreis einzustimmen, denn, so schreibt Hildegard: „Jubellieder, die in Einfalt, Einmütigkeit und Liebe erschallen, geleiten die Gläubigen zu jener Seeleneinheit, die keine Zwietracht kennt. Sie bewirken, daß die, die auf Erden weilen, mit Herz und Mund nach dem himmlischen Lohn trachten.“ Hildegard meint, daß im Lied, in der Musik der Mensch hier auf Erden schon Anteil am ewigen Lob des Himmels nimmt. Mit dieser Deutung des Liedes sind wir eigentlich im Zentrum dessen, was Hildegard mit ihrer Musik ausdrücken will. Sie steht da ganz in der Tradition unseres Ordensvaters, des hl.Benedikt. Im 19. Kapitel seiner Regel spricht er vom Verhalten beim Psalmensingen: Der Mönch soll wissen, daß er beim Chorgebet Anteil hat an der himmlischen Liturgie, eindedenk des Psalmenwortes: Im Angesicht der Engel will ich dir lobsingen. Das Beten der Klostergemeinschaft ist also ein Eintauchen in das ewige Gebet der Engel, ein Eintauchen in die Gemeinschaft der Heiligen. Engel, hier verstanden als Bild, als Symbol von Gottes Gegenwart. Durch das Gebet, den Lobpreis als gesungenen Gebet wird der Mensch hineingenommen in die heilende und liebende Gegenwart Gottes. Im musikalischen Tun, im Singen erhebt sich der Mensch gleichsam aus seiner Erdenverhaftung und läßt sich schon, natürlich nur anfanghaft, in die Sphäre des Himmels mit hineinnehmen, die Sphäre des Himmels, die uns allen als letztendliches Lebensziel zugedacht ist: das Einswerden mit Gott und mit allen, die schon vor uns dieses Ziel erreicht haben. Wie schlimm muß in diesem Zusammenhang für sie und ihre Schwestern auf dem Rupertsberg das Interdikt durch die Mainzer Prälaten gewesen sein. In einem Brief beschreibt sie ihre Not: Das Interdikt untersagte dem Konvent den gesungenen Vollzug des Stundengebetes. Deswegen war sie und ihre Schwestern in große Traurigkeit gesunken. Gott singend zu loben, ist die Berufung des Menschen, darin sind sie Gefährten der Engel, dadurch halten sie die Verbindung zum ihrem heilen Ursprung aufrecht. Die singende Stimme eines Menschen spiegelt ähnlich der Körpersprache seinen inneren Zustand wider. Das Singen des Gotteslobes ist eine Erinnerung daran, wie wir von Gott gemeint sind und worauf wir uns hin entwickeln dürfen. Es gab zu allen Zeiten Menschen, deren Aufgabe es war, im Menschen die Sehnsucht nach dem göttlichen Ursprung wachzuhalten (Propheten). Als ich diese Gedanken zusammenstellte, fiel mir ein: man müßte einmal darüber nachdenken, was es heißt, wenn heute das Singen für viele Menschen „auf das Badezimmer“ reduziert ist. Damit verlernen wir etwas, was Hildegard noch ganz elementar gewußt hat: daß wir im Singen schon unser Lebensziel vorausnehmen, daß wir uns im Singen schon abheben können von dieser Erdenverhaftung. Wenn man weiter darüber nachdächte, käme man sich auf viele anthropologische, psychologische oder vielleicht auch theologische Konsequenzen. Dies sei aber nur am Rande bemerkt. In den monastisch-liturgischen Zusammenhang sind noch andere Gesänge Hildegards einzureihen, die bisher noch nicht erwähnt wurden. Es sind dies Gesänge von mehr lokaler Bedeutung. Hildegard schreibt Lieder auf Heilige, die ihr durch Klosterpatrozinien bekannt sind, z.B. Disibod, Rupertus, Matthias, Eucharius, Maximin und Bonifatius. Diese Lieder geben Aufschluß darüber, welche Beziehung Hildegard zu welchen Klöstern hatte, so natürlich zu ihrem Heimatkloster Disibodenberg, aber auch zu den Klöstern in Trier und Mainz. Auffällig ist auch, daß Hildegard eine große Anzahl von Liedern der hl.Ursula und den Elftausend Jungfrauen gewidmet hat – 13 an der Zahl.. An diesem Beispiel läßt sich erkennen, wie sehr Hildegard trotz der Universalität doch auch ihrer Zeit verhaftet ist. Wir wissen aus anderen Berichten, daß Elisabeth von Schönau, mit der sie sehr verbunden war, die Verehrung der hl.Ursula und der Elftausend Jungfrauen sehr gepflegt und empfohlen hat. Damals fing man auch in Köln an, die vermeintlichen Reliquien auszugraben. Von daher versteht sich die große Anzahl der Ursula-Gesänge. Ein kleiner Teil läßt auch einen direkten liturgischen Bezug ihrer Gesänge erkennen, vier Gesänge zum Kirchweihfest, zwei Antiphonen zu neutestamentlichen Cantica – Magnificat und Benedictus – und ein Kyrie. Im Villarenser Kodex, einer Gebrauchshandschrift, sind auch alle Antiphonen mit Psalmenkadenzen versehen. Das trifft nicht zu für den Riesenkodex in Wiesbaden, weil dieser als Prachthandschrift nicht für den täglichen Gebrauch bestimmt war. In jedem Fall ist jedoch dadurch belegt, daß die Carmina zum liturgischen Gebrauch vorgesehen waren. Wir wissen auch aus Zeugnissen, daß Hildegard ihre Musik im liturgischen Vollzug des Klostergottesdienstes gebraucht hat. Wibert von Gembloux, der 1177- 1179 auf dem Rupertsberg mitlebte, in einem Brief von 1175, die Gesänge von Hildegard seien geschrieben: ad laudem Dei et Sanctorum honorem compositi et in ecclesia publice de cantori facit. – zum Lob Gottes und zu Ehre der Heiligen komponiert, und sie wurden öffentlich in der Kirche vorgetragen.
2.3 Die musikalische Umsetzung der Texte
Die Gesänge, die uns in den erwähnten Codices überliefert sind, sind in der für das 12. Jahrhundert typischen Neumennotation geschrieben. ( 4 Notenlinien, fa-Linie jeweils rot , do-Linie gelb eingefärbt) Kirchmusikalisch gesehen befinden wir uns in der Spätzeit des Gregorianischen Chorals. Die feine Notationsweise der Blütezeit, wie wir das auch heute noch aus den HSS z.B. der Kodices von St.Gallen oder aus dem französischen Laon kennen, ist schon vorbei. Hildegard kennt eben schon das System der Notenlinien, wie es Guido von Arrezzo entwickelt hat. Aus den HSS läßt sich ein Rhythmisierung nicht ableiten. (Interpretationsweisen: Aequalismus – Mensuralismus) Wenn man sich das kirchmusikalische Umfeld des 12. Jh. vor Augen führt, dann scheinen die Gesänge Hildegards das Gewohnte zu überschreiten. Selbst die aus der Spätzeit der Gregorianik entstanden Kompositionen haben zwar Ansatzpunkte und Vergleichspunkte, aber Hildegards Schaffen geht immer über diesen Rahmen hinaus. Die Modalitäten lassen sich oftmals nur schwer erkennen, der Tonraum ( Extrem: 2 ½ Oktaven“(O vos angeli“, durchschnittlich 1 1/2) sprengt oft alles das, was wir sonst aus dieser Zeit gewohnt sind. Diese Melismenfreudigkeit fordert von den Sängern ein Höchstmaß an Perfektion, sowohl technisch als auch musikalisch. Dieser Befund steht – vordergründig gesehen – etwas im Widerspruch zu einer Selbstaussage Hildegards, nämlich die, daß sie musikalisch ungebildet war. An vielen Stellen spricht sie davon, daß sie „indocta“ sei, ungelehrt. Dies bezieht sich auch auf die Musik. Sie sagt damit von sich, daß ihr das handwerkliche Rüstzeug zum Komponieren gefehlt hat. Aber andererseits ist das auch kein Widerspruch. Wenn man bedenkt, daß das 12.Jh. noch ganz dem antiken Bildungsideal verhaftet war, dann kann sich Hildegard tatsächlich als „indocta“ bezeichnen, denn die Antike reihte die Musik innerhalb der sieben Künste an den fünten Platz zwischen Arithmetik und Geometrie. Man betrachtete die Musik rein unter den Aspekten von Gesetzmäßigkeit und Struktur. In diesem Sinn kann man tatsächlich sagen – und würde das alles-sprengende der Hildegardischen Lieder erklären -, daß sie „indocta“ war, nämlich in Beziehung auf Struktur und Gesetzmäßigkeit von Musik. Aus meiner Sicht war das vielleicht gerade ihr großer Vorteil. Sie spürte in sich eine große musikalische Intuition und konnte – befreit von allen Strukturen und Gesetzen der Musik – ihren Empfindungen freien Lauf lassen. Insgesamt entspricht meiner Vermutung einem Urteil, dem ich mich anschließen möchte, das Professor Dronke von der Universität Cambridge hinsichtlich der Liedtexte gefunden hat. Dies korrespondiert genau mit dem, was wir auch in der Musik, in den Melodien vorfinden: „In den poetischen Werken Hildegards begegnet uns eine höchst individuelle Sprache, manchmal unbeholfen, manchmal unklar. Die Aneinanderreihung von Adjektiven wirkt begrenzt, manche Einschübe gar übertrieben. Es ist nicht die geschliffene Sprache eines Humanisten des 12.Jh., sondern die eines Menschen, der durch seine einzigartige Kraft poetischen Vision mehr als einmal mit den Grenzen dichterischen Ausdrucks konfrontiert wird. An Höhepunkten jedoch überschreitet Hildegard diese Grenzen nahezu triumphierend und erreicht eine visionäre Konzentration und einen beschwörenden und assoziativen Reichtum, der ihr Werk absetzt von nahezu allen anderen religiösen Dichtungen ihrer Zeit.“
Hildegard sagt einmal: symphonialis est anima. Die Seele ist symphonisch. Dieses Wort gilt im höchsten Maß für sie selbst. Symphonisch, so interpretiere ich es, ist die Seele, die zu einer inneren Ordnung zurückgefunden hat, in der die inneren widerstrebenden Kräfte zur Einheit, zur Harmonie zusammengewachsen sind. Dies ist und bleibt Ziel jeden menschlichen Lebens, das wir in dieser Zeitlichkeit und Begrenztheit nie erreichen werden. Genau dies ist der Wurzelgrund, auf dem die Lieder Hildegards gewachsen sind. Sie sind Ausdruck eines Menschen ihrer Zeit, der auch von den Wellen der Zeit hin- und hergerissen wurde, aber dennoch in diesem Hin-und Hergerissensein das Streben nach Ganzheit, nach Einheit nicht aufgegeben hat. Der Einheitspunkt – da dürfen wir vom 12. Jh. lernen, ist für Hildegard unumstritten, der Zentralisationspunkt ist Gott selbst. Nur der kann zur Einheit und Ganzheit finden, der seinen Lebensanker an die richtige Stelle geworfen hat, nämlich in Gott hinein. Hildegards Musikschaffen kann vielleicht in diesem Sinn auch therapeutische wirken. Ihre Musik will heilen, indem sie Zugang zum Heil vermittelt, letztlich zum Heiler selber, der Gott ist, Gott in Christus, Christus in Maria. Da ist das Heil, das Hildegard uns vermitteln will.
In der Sequenz „O virga ac diadema“ besingt Hildegard das gesamte Erlösungswerk. In der Heiligsprechungsakte aus dem 13. Jh. wird berichtet, daß drei Nonnen des Rupertsberges nach dem Tod Hildegards bezeugt, daß sie durch den Keuzgang ihres Klosters geschritten und eben diese Sequenz gesungen hat. Der Text der Sequenz endet in der letzten Strophe mit einer Bitte an Maria – Hildegard nennt sie sogar ’salvatrix‘, Heilerin, Miterlöserin: „Sammle die Glieder deines Sohnes zur himmlischen Harmonie“. Wenn man eines aus dem musikalischen Schaffen Hildegards heraushören kann, dann ist es vielleicht die Aktualität dieser Bitte auch für uns heute. Welche Gebetsbitte wäre für die Menschen unserer Tage notwendiger denn diese: Führe uns zur himmlischen Harmonie!
Sr. Christiane Rath OSB