Dekret zur Heiligsprechung
Hildegards von Bingen
„Litterae Decretales“ – Päpstliches Dekret über den Vollzug der Kanonisation Hildegards von Bingen
BENEDIKT XVI. BISCHOF,
Diener der Diener Gottes, zum unvergänglichen Gedächtnis folgender Sache:
„Rufen wir immer den Heiligen Geist an, er möge in der Kirche weise und mutige Frauen erwecken wie die heilige Hildegard von Bingen, die, indem sie die von Gott erhaltenen Gaben wertschätzen, ihren wertvollen und je eigenen Beitrag zum geistlichen Wachstum unserer Gemeinschaften und der Kirche in unserer Zeit leisten.“
Diese Worte, mit denen wir unsere Katechese am 08. September 2010 beendeten, stellen ein wunderbares Band her zwischen dem Einsatz jener Frau, die im Mittelalter lebte, und dem Weg, zu dessen Vollendung das Volk Gottes in seiner Geschichte unablässig berufen wird. Denn das Leben, die Spiritualität und der Kult Hildegards von Bingen bezeugen voll und ganz und angemessen das absolute und unvergängliche Gut, das die Gemeinschaft mit Gott bedeutet. Diese Gemeinschaft mit Gott bewirkt, dass alle Geschöpfe als Gottes Werke miteinander im Zusammenklang stehen und einander entsprechen. Hildegard stand unablässig vor Gottes Angesicht, um seinen Willen ohne Zögern zu empfangen und aufzunehmen.
Hildegard wurde im Jahre 1098 in Bermersheim in der Nähe von Alzey als Tochter adliger und wohlhabender Eltern geboren. Mit 14 Jahren wurde sie in das Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg aufgenommen, in dem sie im Jahre 1115 ihre Ordensgelübde ablegte. Als Jutta von Sponheim etwa im Jahre 1136 starb, wurde Hildegard als ihre Nachfolgerin zur Magistra gewählt. Ihr geistliches Fundament war die Benediktusregel, die zum Weg der Heiligkeit eine geistliche Ausgeglichenheit und eine maßvolle Askese bestimmt. Wegen der wachsenden Zahl der Nonnen, was vor allem ihrer Vorbildlichkeit zuzuschreiben war, gründete sie etwa im Jahre 1150 ein Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, in das sie mit zwanzig Schwestern übersiedelte. Im Jahre 1165 gründete sie ein zweites Kloster in Eibingen, auf der anderen Rheinseite. Beiden Klöstern stand sie als Äbtissin vor.
Innerhalb der Klostermauern kümmerte sie sich um das geistliche und leibliche Wohl ihrer Schwestern, indem sie für das Gemeinschaftsleben, für den Dienst und für die Heilige Liturgie auf außerordentliche Weise Sorge trug. Außerhalb des Klosters setzte sie sich eifrig für die Stärkung des christlichen Glauben und der Werke ein, indem sie die Irrlehre der Katharer abwehrte, die Erneuerung der Kirche mit Schriften und Predigten unterstützte und die Verbesserung der Disziplin und Lebensweise des Klerus förderte. Auf die Bitte unserer Vorgänger, Hadrian IV. und später Alexander III., hin verwirklichte sie ein fruchtbares Apostolat, als sie – zu damaliger Zeit ungewöhnlich – ab dem Jahr 1159 einige Reisen unternahm, um an öffentlichen Orten und in etlichen Kathedralen die Menschen aufzurütteln, u.a. in Köln, Trier, Lüttich, Mainz, Metz, Bamberg und Würzburg. Ihre tiefe mystische Erfahrung sowie ihre Schriften betreffend den Gottesdienst und die Spiritualität, haben sowohl den Gläubigen als auch prominenten Persönlichkeiten ihrer Zeit großen Nutzen gebracht und bewirkten nachhaltige Erneuerungen in der Theologie, in den Naturwissenschaften und in der Musik.
In der Person Hildegards von Bingen stehen die Lehre und das alltägliche Leben in vollstem Einklang. Die Tugenden, die sie mit großem Einsatz lebte, sind fest in der Heiligen Schrift, der Liturgie und bei den Kirchenvätern verwurzelt. Sie führte sie unter dem Licht der Benediktusregel mit Klugheit zur Vollendung. Sie verband ihren scharfen Geist und die Gabe, mit der sie die himmlischen Dinge verstand, mit beständigem Gehorsam, Einfachheit, Liebe und Gastfreundschaft. Sie bemühte sich darum, dass in ihren zahlreichen Schriften ausschließlich die göttliche Offenbarung kundgetan und Gott in seiner klaren Liebe erkannt wird. Hildegards Lehre zeichnet sich sowohl durch die Tiefgründigkeit und die Richtigkeit ihrer Auslegungen aus als auch durch die Neuigkeit ihrer Visionen, welche die Grenzen ihres Zeitalters weit überschreiten: Ihre Texte, die mit der wahren Liebe des Intellekts durchdrungen sind, bringen eine außergewöhnliche Lebenskraft (viriditas) und Frische hervor, wenn man sie betrachtet im Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, der Inkarnation, der Kirche, der Menschheit und der Natur, die der Mensch als Gottes Geschöpf zu betrachten und der er zu dienen hat.
Nachdem sie im Sommer 1179 durch schwere Krankheit heimgesucht wurde, starb sie am 17. September 1179 auf dem Rupertsberg bei Bingen, umgeben von ihren Schwestern, im Rufe der Heiligkeit.
Aufgrund dieses Rufes, der nach ihrem Tod wuchs, und auch aufgrund zahlreicher Wunder, die ihrer Fürsprache zugeschrieben wurden, baten die Nonnen des Klosters Rupertsberg unseren Vorgänger Gregor IX., dass ihre Mutter und Magistra auf Erden verherrlicht werde. Am 27. Januar 1228 beauftragte der Papst durch ein apostolisches Schreiben bestimmte Mainzer Prälaten, die entsprechenden Untersuchungen durchzuführen. Diese erfüllten die ihnen anvertraute Aufgabe innerhalb von fünf Jahren. So wurden die Prozessakten am 06. Dezember 1233 nach Rom gebracht, zusammen mit einer Lebensbeschreibung Hildegards, mit ihren Schriften und mit deren Beurteilung, welche die Theologische Fakultät in Paris ausstellte und die Wilhelm von Auxerre summarisch so zusammenfasste: „Hildegards Schriften enthalten keine menschlichen, sondern göttliche Worte.“ Da die Prozessakten sich jedoch als mangelhaft erwiesen, wurden diese an die Richter zurückgeschickt zusammen mit einem Brief des Papstes, der auf die zu ergänzenden Lücken hinwies. Trotz dieser Hindernisse war die öffentliche Anerkennung und Verbreitung der Heiligkeit Hildegards offensichtlich. Ihr Name wurde in das örtliche Martyrologium aufgenommen und sogleich begann ihre Verehrung, welche die Amtsträger der Kirche von Mainz billigten. Daraufhin gewährte unser Vorgänger Johannes XXII. dem Kloster Rupertsberg einige Ablässe und sprach offen vom „Fest der heiligen Hildegard“. Dies war das erste päpstliche Dokument, das, am 26. August 1326 ausgestellt, Hildegard als „heilig“ bezeichnete. Von da an wird ihre Heiligkeit in den offiziellen Martyrologien immer vermerkt. Durch ein Schreiben vom 21. Februar 1940 ermöglichte der ehrwürdige Diener Gottes Pius XII., dass die Verehrung der „heiligen Jungfrau Hildegard“, die sich bislang nur auf einige Kirchen Deutschlands bezog, auf das ganze Volk übertragen wurde. Auch unser Vorgänger, der selige Johannes Paul II. nannte Hildegard im Jahre 1979 aus Anlass des Jubiläums zu ihrem 800. Todestag öffentlich „heilig“. Schließlich haben wir selbst im Jahre 2010 in zwei Generalaudienzen dasselbe gesagt.
Am 06. März 1979 hat unser ehrwürdiger Bruder Joseph Kardinal Höffner, Erzbischof von Erzbistum Köln und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, zusammen mit deren Mitgliedern, zu denen auch wir, damals Kardinal und Erzbischof von München und Freising, gehörten, dem seligen Johannes Paul II. die Bitte unterbreitet, dass Hildegard von Bingen zur Lehrerin der Universalkirche erhoben werde. In dieser Bitte hob unser ehrwürdiger Bruder die Rechtgläubigkeit von Hildegards Lehre hervor, die unser Vorgänger Eugen III. bereits im 12. Jahrhundert anerkannt hatte, sowie ihre Heiligkeit, die beim Volk bis heute fortbesteht, ebenso die Vorzüglichkeit ihrer theologischen, naturkundlichen und musikalischen Schriften. Dieser Bitte, die wir erwähnt haben, folgen mehrere Bitten, vor allem der Nonnen des Klosters in Eibingen, das Hildegards Namen trägt. Außer was die Heiligkeit betrifft, wurde hier auch die Bitte hinzugefügt, dass Hildegard zur Lehrerin der Universalkirche erhoben werden möge.
Mit meiner Zustimmung hat die Heiligsprechungskongregation nun eine sorgfältige Stellungnahme (positio) über die Kanonisation und die Erteilung des Titels einer Lehrerin der Universalkirche vorbereitet. Da es im Falle Hildegards von Bingen um eine sehr angesehene Meisterin der Theologie geht, haben wir erlaubt, dass Nr. LXXIII der Apostolischen Konstitution Pastor Bonus [die Zustimmung der Glaubenskongregation] außer Acht gelassen werden darf. Dasselbe betrifft das Wunder, das zu einer Heiligsprechung erforderlich ist. Denn der Ruf der Wunder, der Hildegard bis heute umgibt, ist völlig bestätigt. Diese Causa wurde am 20. März 2012 in der Vollversammlung der Kardinäle und Bischöfe in Gegenwart unseres ehrwürdigen Bruders Angelo Kardinal Amato, des Präfekten der Heiligsprechungskongregation, überprüft und in einer Abstimmung bestätigt. Am 10. Mai 2012 hat uns unser ehrwürdiger Bruder in allen Einzelheiten über den Stand der Frage und zugleich über die Abstimmung der Väter der erwähnten Vollversammlung der Heiligsprechungskongregation, die einstimmig zustimmten, informiert.
Also verfügen wir nach reiflicher Überlegung und mit sicherer Erkenntnis über die gültige Entscheidung der Heiligenkongregation, dass die Verehrung dieser sehr würdigen Jüngerin Christi jetzt und künftig mit der ganzen Kirche geteilt wird.
So erklären wir kraft unserer apostolischen Autorität zur Ehre Gottes, zur Mehrung des Glaubens und zum Wachstum des christlichen Lebens, dass Hildegard von Bingen, Nonne des Ordens des heiligen Benedikt, heilig ist, in den Katalog der Heiligen eingetragen wird und mit frommer Andacht verehrt und unter den Heiligen der Universalkirche angerufen werden kann.
Mit Sicherheit wissen wir, dass unsere Überlegung zur nunmehr geltenden Kanonisation dieser Frau, die mit heiligem Leben und theologischem Wissen ausgezeichnet ist, in der Kirche geistliche Früchte bringen wird. Denn Hildegard gab sich ganz der Sache Gottes hin, die sie sich mit Treue und Beständigkeit innigst zu eigen machte, und bezeugte täglich, dass Gott und dass Gottes Reich den ersten Platz einnahm. Aus ihrer Verbundenheit mit Christus floss wie aus einer Quelle ihre geistige Fruchtbarkeit, die ihre Zeit erleuchtete und sie zu einem unvergänglichen Vorbild der Wahrheitssuche und des Dialogs mit der Welt machte. Die Frauen können in ihr ein mächtig leuchtendes, ganz erfülltes Lebensbeispiel entdecken: In der Nachahmung der Jungfrau Maria war Hildegard der vorzüglichsten Eigenschaften der Frauen teilhaftig: Sie bezeugte Tapferkeit, Milde, Stärke und Ausgeglichenheit, Heiterkeit der Seele und mütterliche Fürsorge und bemühte sich auf eine außergewöhnliche Weise um das kirchliche Leben des Leibes Christi. In Anbetracht ihres Einsatzes und ihres geistlichen Charismas verstehen wir besser und tiefer die treffende Einsicht unseres Vorgängers, des seligen Johannes Paul II., der in seinem apostolischen Schreiben Mulieris dignitatis vom 15. August 1987 von den „weiblichen Charismen“ und deren vielfältigen Formen sprach.
Schließlich wollen wir, dass diese unsere Entscheidung fest, unveränderlich und unwiderruflich sei, und wir wünschen, dass sowohl die Hirten der Kirche als auch die Gläubigen sie freudig und dankbar aufnehmen. Mögen sie alle das Licht betrachten, das aus den Tugenden und der Weisheit der heiligen Hildegard fließt, Gott Lob singen und in der Gemeinschaft mit den heiligen Aposteln Petrus und Paulus und mit allen Bewohnern des Himmels auf dem Weg der Heiligkeit mit Eifer voranschreiten.
Rom bei St. Peter,
am 10. Mai des 2012. Jahres des Herrn, im achten Jahr meines Pontifikats.
Hildegards von Bingen