“Scivias”-Kodex: Tafel 24: Die Säule des Wortes Gottes

Jenseits des Turmes des göttlichen Ratschlusses steht die Säule des Wortes Gottes. Sie ist der leuchtenden Mauer angebaut und von solchen Ausmaßen, dass das menschliche Auge sie nicht ermessen kann. Die Säule hat von oben bis unten drei scharfe Kanten, die in der Miniatur flächig wie aufgeklappt dargestellt sind. Sie stehen für die drei Heilsepochen. In der ersten Kante sitzen wie auf den Ästen eines Baumes die Ältesten: Abraham, Moses und Josua stellvertretend für alle Patriarchen und Propheten. Sie sitzen übereinander, jeder auf seinem eigenen Ast. Sie alle schauen staunend (Haltung der Hände) auf das, was das Wort Gottes in der Zukunft wirken wird.
Von der zweiten Kante geht ein heller Schein aus, der sich immer mehr ausbreitet, die Worte des Sohnes Gottes. Dort werden die Heiligen des Neuen Bundes, der Kirche sichtbar, die Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen.
Die dritte Kante bedeutet die Verkündigung des Wortes Gottes durch heilige Lehrer und die Weisheit der Heiligen, die in der Glut des heiligen Geistes erglüht. Sie verbreitert sich bis zur Mitte, wird aber nach oben hin schmäler. Das bedeutet: die Verehrung Gottes breitet sich in der Zeit aus, gegen Ende der Welt lässt sie aber nach. Doch in der Glut des Heiligen Geistes ist sie „wie ein Bogen mit Muskelkraft zum Kampf gespannt“.
An der Spitze der Säule befindet sich in einer Flut von Licht eine Taube, die in ihrem Schnabel einen goldenen Strahl trägt. Es ist der feurige Heilige Geist, der im „funkelnden Licht des Gottessohnes im Herzen des Vaters aufleuchtet.“ Er steht für den dreifaltigen Gott, der in den verschiedenen heilsgeschichtlichen Epochen sein Wort offenbart, denn das Thema der Vision ist das Wort Gottes, durch das alles gemacht worden ist und das selbst vor aller Zeit aus dem Herzen des Vaters gezeugt ist. Am Ende der Zeiten wurde es – wie die Heiligen des Alten Bundes vorausgesagt haben – aus der Jungfrau Fleisch. Obwohl das Wort Mensch wurde, gab es seine Gottheit nicht auf, sondern ist mit dem Vater und dem Heiligen Geist der eine und wahre Gott. Es erfüllt die Welt mit seiner Süßigkeit und erleuchtet sie mit dem Strahl seiner Herrlichkeit. „Was du siehst, ist göttlich“, wurde Hildegard gesagt und sie erzitterte.
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB