“Scivias”-Kodex: Tafel 26: Der Eifer Gottes

Nachdem das Geheimnis des Wortes Gottes „in der Säule des Wortes Gottes mit der Erkenntnis“ geoffenbart ist, tritt der Eifer der Liebe Gottes in dieser Miniatur offen in Erscheinung: ein massives, kahles, rotglühendes Haupt in der Mitte des Bildes , wo die beiden Mauern des Heilsgebäudes zusammentreffen, die leuchtende Mauer (Erkenntnis von Gut und Böse) und die Steinmauer (das rechte Handeln). Bewegungslos sitzt dieses furchterregende Menschenantlitz dem Mauerwinkel auf, der Leib ist von der Mauerecke verdeckt. Unbeweglich, erhaben über alles Irdische, furchterregend, ohne Haare, d.h. frei von aller unterwürfigen Schwäche – denn die Augen des Herrn sehen jede Ungerechtigkeit. Es besitzt drei Flügel von erstaunlicher Breite und Länge. Sie sind waagrecht ausgebreitet und gleichen „einer lichten Wolke“. Als Symbol der Stärke bedeuten sie „die Ausbreitung der Kraft des Dreifaltigen Gottes.“ Die drei Flügel stehen für die Kraft der Vergeltung, die sich gegen den Teufel und das Böse richtet.
Der erste von der rechten Wange ausgehende Flügel spannt sich nach Nordosten, denn Gott besiegte von der rechten Seite – der Erlösung – in seinem Sohn den Teufel und alles Böse. Der zweite geht von der Kehle aus nach Norden, denn nach der Erlösung schlug er den brüllenden Feind in die Flucht. Der dritte streckt sich von der linken Wange nach Westen. Wenn der Satan von den Auserwählten Gottes verscheucht ist, wird er auch von links – im Sohn des Verderbens – ganz vernichtet. Manchmal geraten die Flügel furchtbar schreckenerregend in Bewegung und schlagen in diese Richtungen aus. Der Eifer des Herrn übt Gericht im Zuschlagen gegen drei Gruppen von Sündern: gegen Verhärtete, gegen Menschen, die die Rechte der Kirche missachten, gegen Gläubige und Ungläubige, in ihren gottlosen und ungerechten Taten; vor allem weltliche Herrscher und Richter.

Das Thema der Vision, der „eifernde Zorn des Herrn“, ist mit folgenden Worten ausgedrückt:
„Gott, der das alte Bundesvolk mit strengem Eifer heimsuchte, zeigte sich dem neuen gegenüber aus Liebe zu seinem Sohn mild und gütig. Nicht weil er jetzt die Sünden der Fehlenden übersehe und sie gering achte, sondern weil er barmherzig auf die tiefe und wahre Reue eines lauteren Herzens wartet. Die Bosheit eines verhärteten duldet er jedoch nicht und bestraft sie nach seinem gerechten Urteil.“ Der Eifer Gottes vollzieht das rechte Urteil Gottes und möchte die Menschen durch das Wirken des Heiligen Geistes zum guten Werk erschüttern. Wo der Mensch vom Erkennen zum Handeln übergeht, wo im Bild die leuchtende Mauer auf die steinerne trifft, da ist aufmerksam und schweigend das rotglühende Haupt, der Eifer Gottes. „Der Mensch soll nämlich mit größter Tapferkeit durch die Güte des Vaters bei allen Gelegenheiten in der Erkenntnis des Guten und Bösen dem Teufel entgegenwirken, gute Werke tun und dem Schöpfer dienen.“
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB