35. Tafel Weltschmerz – Himmlische Freude

Weltschmerz

Eine fünfte Erscheinung sah ich, welche die Gestalt einer Frau hatte. Hinter ihrem Rücken ragte ein Baum hervor, der aber ganz vertrocknet war und keine Blätter mehr trug. Von seinen dürren Ästen war diese Gestalt ganz überwuchert. Ein Ast hatte den Scheitel ihres Hauptes bedeckt, ein anderer den Hals und die Kehle umschlungen, ein weiterer sich um den rechten Arm verstrickt und einer um den linken: So vermochte sie die Arme nicht mehr auszustrecken, hielt diese vielmehr an sich verschränkt … Und sie begann zu sprechen:

Weh mir, dass ich geschaffen bin! Weh! Was soll mein Leben! Wer wird mir beistehen, wer mich retten? … Geschaffen zum Unglück und im Unglück geboren, lebe ich ohne jeden Trost dahin. Ach, was nützt denn das Leben ohne Freude! Und warum bin ich überhaupt auf Erden, wo mir doch nichts Gutes mehr begegnen kann?

Himmlische Freude

Du weißt ja nicht, was du daherredest! Gott schuf den Menschen als ein lichtes Wesen, aber wegen seiner Untreue führte ihn die Schlange in diesen See des Elends.

Ich aber besitze hier schon die himmlische Heimat, da ich alles, was Gott erschuf, mit rechten Augen ansehe … Ich nehme die Blüten der Rosen und Lilien und die ganze Grünheit zärtlich ans Herz, indem ich allen Gotteswerken ein Lob singe … All mein Tun schenke ich meinem Gott. Auch in der Traurigkeit steckt noch Freude und in aller Freude ruht ein Glück.
Hildegard von Bingen: Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste (Liber Vitae Meritorum) übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1972, S. 227