Das Gebet der Versöhnung
Betrachtung zum „Miserere-Psalm“ 50/51
Es gibt viele Wege, sich dem Thema „Schuld, Umkehr und Versöhnung“ zu nähern. Ein Weg, der vielleicht besonders nahe liegt, ist der „Miserere-Psalm“ 51, der an so herausragender Stelle Eingang in die Liturgie gefunden hat. In einem kleinen Buch hat Kardinal Carlo Maria Martini den Miserere-Psalm einmal als Weg der Versöhnung bezeichnet. In diesem Sinne spiegelt er in gewisser Weise auch den österlichen Weg von Aschermittwoch über Karfreitag bis Ostern wieder. Schuld, Umkehr und Versöhnung als der Weg durch den Tod der Gottferne hin zur Auferstehung, zu neuem Leben.
Die Bedeutung des Psalms 51 für die Geschichte der Kirche und der Frömmigkeit kann kaum überschätzt werden. Er ist ein von unerschöpflichem Reichtum und von großer Strahlkraft. Er bildete das Schema für den inneren Aufbau der „Bekenntnisse“ des hl. Augustinus; Gregor der Große hat ihn besonders geliebt und auch kommentiert; Martin Luther hat ihn als Zentraltext für die von ihm wiederentdeckte biblische Botschaft von der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch die Gnade und das Erbarmen Gottes (sola gratia) herangezogen; und auch viele Komponisten, u.a. J.S. Bach, haben in ihrer Musik über diesen Psalm meditiert.
Charles de Foucauld hat die einzigartige Schlüsselstellung des Psalms 51 für die christliche Spiritualität in einem Gebet einmal so zusammengefasst:
„Ich danke dir, mein Gott, dass du uns dieses göttliche Gebet des ‚Miserere’ geschenkt hast. Dieses ‚Miserere’, dieses ‚Herr, erbarme dich’, ist unsere Bitte Tag für Tag. Immer wieder sprechen wir diesen Psalm und machen ihn oft zu unserem Gebet. Er umfasst den Inhalt all unserer Gebete: Anbetung, Liebe, Opfer, Dank, Reue, Bitte. Der Psalm beginnt mit der Besinnung über uns selbst und der Erkenntnis unserer Schuld. Er geht weiter zum Nächsten und bittet für die Umkehr aller Menschen, um dann aufzusteigen bis zur Betrachtung Gottes.“
Werfen wir zunächst kurz einen Blick auf die einleitenden Verse 1 und 2, die wir normalerweise nicht mitgebeten, die aber als eine Art Überschrift über den Psalm doch eine wichtige Aussage enthalten.
Dort heißt es:
1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids,
2 als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem sich David mit Bathseba vergangen hatte.“
Diese Verse sind, wie die Exegeten sagen, ein späterer Zusatz und wollen den Psalm gezielt der Zeit der Königsherrschaft Davids zuordnen. Der Hinweis auf David, der Urija ermorden ließ, nachdem er sich mit dessen Frau Bathseba vergangen hatte, zeigt den König als typisches Beispiel für Schuld und Begnadung zugleich. Bemerkenswert dabei ist, dass dem König keine göttlichen Vorrechte eingeräumt werden. Er bleibt ein Mensch, ja sogar ein sündiger Mensch. David versündigt sich gegen die Menschen, er begeht Ehebruch und schickt seinen Rivalen Urija in den Tod. Er versündigt sich damit aber auch gegen Gott und seine Heilsordnung und muss die Konsequenzen seiner Schuld bitter durchleiden. Schließlich wird ihm die Vergebung seiner Sünde zuteil, nachdem er diese in bitterer Selbsterkenntnis im Gebet erfleht hat. David erfährt die Gnade und Barmherzigkeit seines Gottes. Wirkliches Heil im umfassenden Sinne schaute er allerdings nicht mehr für sich selbst, sondern erst Salomo, der Königssohn. Gottes Wege sind wahrhaft unergründlich: Was mit dem Vergehen Davids begann, endet schließlich mit der Friedensherrschaft Salomos, des Sohnes Davids und der Bathseba (2 Sam 12,24).
Der sich erbarmende Gott
Das eigentliche Psalmgebet beginnt dann mit Vers 3 in einer grandiosen Ouvertüre:
3 Miserere mei, Deus: Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld,
tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen.
4 Wasche meine Schuld von mir ab
und mach mich rein von meiner Sünde.
Aus tiefster Not schreit der Beter zu Gott: Miserere! Dieser Notschrei geht um die ganze Welt – Tag für Tag, seit mehr als zwei Jahrtausenden. Dieser Schrei des Miserere, der dem Psalm 51 seinen Namen gab, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Hinter ihm steckt die ganze Not der Sünde, des Losgerissenseins von Gott, der Auflehnung des menschlichen Willens gegen seinen Schöpfer. Es ist die Ursünde schlechthin, die hier angesprochen und gleichsam als immer schon vorhanden vorausgesetzt wird. Diese Ursünde, im wahrsten Sinne die Wurzel allen Übels, ist eine der großen Wirklichkeiten des menschlichen Lebens schlechthin, ja auch unseres je ganz persönlichen Lebens. Selbst können wir uns aus dieser Ursünde, aus dieser steten Versuchung – sein zu wollen wie Gott – nicht befreien. Das kann nur Gott allein. Von daher versteht sich die dreifache, so eindringliche Anrufung Gottes: Sei mir gnädig nach deiner Huld, nach deinem reichen Erbarmen tilge all meine Frevel. Gnade, Huld und Erbarmen – eine sich steigernde Trias – soll Jahwe seinem Knecht erweisen. Der Beter erinnert Gott an seinen Bund, den er seinem Volk in Ex 34, 5-7 verheißen hat: „Da fuhr der Herr in der Wolke herab … und rief: Der Herr ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue, der Gnade bewahrt bis ins tausendste Geschlecht, der Schuld und Missetat und Sünde verzeiht.“
Hier sind sie wieder – Gnade, Huld und Erbarmen. Der Akzent liegt dabei auf der an letzter Stelle der Trias genannten Wirkweise Gottes, auf seinem Erbarmen. Miserere – misericordiam – miserationum. Im Lateinischen kommt das in ganz besonderer Weise zum Erklingen. Es würde sich lohnen, anhand einer Konkordanz einmal den Stellen in der Hl. Schrift nachzugehen, an denen das Wort miserere, misericors, misericordia vorkommt. Ich erinnere hier an Psalm 136, in dem ja nach jedem einzelnen Vers die Anrufung „quoniam in aeternum misericordia eius (denn sein Erbarmen währt ewiglich) wiederholt wird. Das hebräische Wort für Erbarmen hängt sprachlich mit dem Begriff „Mutterschoß“ zusammen, erfleht also von Gott das, was mütterliche Liebe für das Kind in ihrem Schoß und ebenso auch für das geborene Kind empfindet und tut. Im lateinischen Wort misericordia steckt das Wörtchen cor – Herz und meint damit die Herzmitte, das Wesentliche und Eigentliche, ohne das Leben nicht möglich ist. Damit will der Beter also gleich zu Anfang des Psalms deutlich machen, dass der im Psalm ergehende Richterspruch Gottes über den Sünder nicht auf Rache zielt, auf Vergeltung oder gar Vernichtung, sondern auf Rettung, auf Heilung und auf Neuschöpfung des Sünders. Gottes Gerechtigkeit ist und bewirkt zugleich Erbarmen, in dem er die Sünde in ihrer Boshaftigkeit und in ihrer zerstörerischen Kraft bekämpft, dem Sünder aber in seiner überreichen Barmherzigkeit neues Leben verheißt.
Der dreifachen Anrufung Gottes gegenüber steht das ebenfalls dreifach beschriebene Vergehen des Menschen: Tilge meine Frevel, wasch ab meine Schuld, mache mich rein von meiner Sünde. Frevel – Schuld – Sünde. In dieser zweiten Trias, die der der Attribute Gottes gegenübersteht, sind die unterschiedlichen Dimensionen von Sünde zum Ausdruck gebracht. Dass sich diese Dimensionen oft vermischen und durchmischen, und nur schwer voneinander zu trennen sind, ist selbstverständlich. Frevel , so sagt uns der bei Herder erschienene Psalmenkommentar von Erich Zenger, meint die grundsätzliche Auflehnung, den Verstoß gegen die grundlegende Lebens- und Heilsordnung Gottes, das Sich-los-reißen von Gott, unser immer wieder neues Streben nach Autarkie und Unabhängigkeit. Durch die Schuld verkehren wir das Gemeinschaftsverhältnis mit Gott und untereinander und beginnen mit dem zerstörerischen Werk, das das Band zwischen Schöpfer und Geschöpf zerbricht. Die Sünde schließlich bezeichnet das ganz konkrete Abweichen vom richtigen Lebensweg – die konkrete Tat oder auch das konkrete Unterlassen, oft in ganz kleinen Dingen.
Durch die dritte Trias, die drei Verben – tilge, wasche ab, reinige mich – mit denen der Beter Jahwe um Befreiung von seinen Sünden bittet, werden diese Sünden als Schmutz qualifiziert, der das Äußere verunreinigt, aber vor allem auch das Innere, die Seele des Menschen. Von diesem Bild des Waschens und Reinigens her, denke ich, gewinnen die Taufe als reinigendes Bad, der Ritus der Fußwaschung am Gründonnerstag oder auch das Besprengen mit dem geweihten Wasser noch einmal einen ganz neuen, ganz besonderen Bedeutungszusammenhang. Äußere und innere Reinigung gehören also untrennbar zusammen, sie bedingen und ergänzen sich gegenseitig.
Selbsterkenntnis und Bekenntnis
Nach dem sprachlich wie auch inhaltlich sehr dichten Auftakt, beginnt nun mit Vers 5 der Hauptteil des Psalms.
5 Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen.
6 Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt…
7 Denn in Schuld bin ich geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
Das im Deutschen zweimal mit dem kleinen Wörtchen „Denn“ eingeleitete Schuldbekenntnis antwortet nun auf die Frage, warum es der Bitte um Gnade, um Huld und Barmherzigkeit überhaupt bedarf. Hier kommt das ins Spiel, was wohl in der Tat unumgänglich notwendig, ja im wahrsten Sinne not-wendend ist: die persönliche Erkenntnis und Einsicht und das konkrete individuelle Bekenntnis der eigenen Schuld. Dabei ist es nicht Gott, der unser Bekenntnis braucht. Er ist der immer schon Vergebende, der uns zuerst geliebt hat, auch als wir noch Sünder waren. Nicht Gott, sondern wir selbst bedürfen der Erkenntnis und des Bekenntnisses. Nur dann werden wir wirklich frei. Psalm 31,3-5 sagt es ganz deutlich: „Solange ich die Schuld verschwieg, waren meine Glieder matt … Doch dann bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir… Und du hast mir meine Schuld vergeben.“
In der Erkenntnis und im Bekenntnis stehen wir, steht mein Ich, allein vor Gottes Angesicht. Der Psalmist betont das Subjekt: „Ich erkenne meine bösen Taten, gegen dich allein habe ich gesündigt“. Mit Bedacht wird in dieser Gewissenserforschung keine konkrete Schuld im einzelnen benannt, wird kein „Sündenregister“ erstellt oder angestrengt nach dem „richtigen“ Ausdruck gesucht, um das, was uns auf dem Gewissen lastet, adäquat in Worte fassen zu können. Nein, in diesem dialogischen Bekenntnis soll sich jeder Beter, sollen wir alle uns wiederfinden können. Denn wir, nein ich, war es, die sich abgewandt hat, die getan hat, was Gott missfällt. Hier wird nichts verharmlost, hier wird auch keine Schuld abgeschoben – weder auf andere noch auf die Umstände, das eigene Sosein oder So-Geworden-sein. Nein, hier wird bekannt und anerkannt, dass der Hang zum Bösen, die Verweigerung gegenüber dem Nächsten und gegenüber Gott als immerwährende Versuchung in jedem von uns stecken.
Der Beter geht sogar soweit, dass er anerkennt, dass die Sünde nicht nur als Einzeltat auf ihm lastet, sondern gleichsam als seinsmäßiger Zustand. Er, wir sind Sünder. Wir leben im Machtbereich der Sünde – und das vom ersten Augenblick unserer Existenz an: „Denn in Schuld bin ich geboren, in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.“ Hier geht es nicht darum, wie so viele meinen, die Sexualität als sündhaft zu verteufeln. Vielmehr ist es die Sündhaftigkeit unserer ganzen menschlichen Existenz, die hier zur Sprache kommt. Es gibt keine Zeit der Unschuld, in der wir Gottes Zuwendung und Gnade nicht bedürften. Die ganze neutestamentliche Erbsündenlehre (Röm 5,12-19) ist hier in diesen Versen des Psalms 51 bereits grundgelegt. In dem Maße, in dem der Mensch, in dem wir diese unsere gebrochene und immer neu brüchig werdende Existenz erkennen, annehmen und bekennen, in dem Maße dürfen wir auf die helfende und rettende Gerechtigkeit Gottes vertrauen. Das heißt aber nicht – und das erscheint an dieser Stelle wichtig zu sein – dass wir erst dann von Gott geliebt, angenommen und geheilt werden, wenn wir erkennen, bekennen und umkehren. Nein: wir sind bereits angenommen, wir sind erlöst – und gerade deshalb können und dürfen wir vor dem Vater unsere Schuld bekennen und auf seine Barmherzigkeit vertrauen.
8 Lauterer Sinn im Verborgenen gefällt dir, im Geheimen lehrst du mich Weisheit.
Auf den ersten Blick scheint dieser Vers hier nicht so recht hineinzupassen. Und dennoch ist er von großer Bedeutung, in dem er uns sagt: Selbsterkenntnis und Bußgesinnung sind nicht Werk des Menschen, sondern allein Gottes Werk. Er allein ist es, der uns zur Lauterkeit, zur inneren Wahrhaftigkeit und zu aufrichtiger Umkehr befähigt. Ein solcher Weg ist letztlich der königliche Weg der Weisheit: Lauterer Sinn im Verborgenen gefällt dir, im Geheimen lehrst du mich Weisheit.
Weisheit ist nicht Erfolg eigenen Bemühens, sondern heilsnotwendige Gabe Gottes, Frucht des Heiligen Geistes, den ER uns schenkt. Die Weisheit lehrt uns die Unterscheidung von Gut und Böse, von Anspruch und Wirklichkeit, von Schein und Sein. Sie gibt uns die Kriterien zur Beurteilung unserer selbst an die Hand, weil sie uns den Spiegel vorhält – einen Spiegel, auf dem im Tiefsten und im Letzten immer das Antlitz Christi selbst erscheint. Wie heißt es doch in 1 Kor 1,24: „Wir predigen Christus als den Gekreuzigten, für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für uns aber Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Christus selbst ist uns zur Weisheit geworden. In seinem Licht werden wir unserer eigenen Schatten und unserer verborgenen Dunkelheiten gewahr. Indem wir sie ans Licht rücken und uns Seinem Licht, dem göttlichen Licht, aussetzen, werden wir geheilt.
9 Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein, wasche mich,
dann werde ich weißer als Schnee.
Der nächste Vers des Psalms führt das Bild der Heilung noch weiter aus. Die Besprengung mit dem Ysop-Zweig (= wilder Oregano) war Teil einer rituellen Reinigung der Aussätzigen (vgl. Lev 14). Schuld und Sünde werden hier an dieser Stelle erstmals in Zusammenhang gebracht mit Krankheit, ja sogar mit Aussatz. Aussätzige, das wissen wir, galten in biblischen Zeiten als unrein und wurden aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Auch die Sünde trennt uns von der Gemeinschaft – von der Gemeinschaft mit Gott und von der Gemeinschaft mit den Mitmenschen. Letztlich trennt sie uns auch von uns selbst – das erfahren wir nur allzu oft auf schmerzlichste Weise. Der Beter möchte durch das reinigende Handeln Gottes weißer werden als Schnee. Wie viele Assoziationen kommen uns in diesem Zusammenhang: das weiße Kleid der Täuflinge, die schneeweißen Gewänder der Engel am Grab des Auferstandenen und nicht zu vergessen das weiß-strahlende Gewand des verklärten Herrn auf dem Berg Tabor.
10 Sättige mich mit Entzücken und Freude!
Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast.
11 Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden,
tilge alle meine Frevel.
In diesen nächsten Versen scheint bereits, wenn auch noch verhalten in der Form der Bitte, ein erstes freudiges „Osteralleluia“ auf. Entzücken, Freude und Jubel ergreifen den, der sich erlöst weiß. Die von der Sünde zerschlagenen und niedergedrückten Gebeine sollen wieder mit kraftvollem Leben erfüllt werden und in einen Freudentanz ausbrechen. Man hört förmlich die Anspielung an die große Vision des Ezechiel über die Auferweckung der toten Gebeine Israels zu neuem Leben (Ez 37,1-14) „Und Gott der Herr sprach zu den Gebeinen: Siehe, ich bringe Lebensodem in euch, damit ihr wieder lebendig werdet … Da kam Odem in sie und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf die Füße…“ Der Sünder bittet also darum, wieder aufgerichtet zu werden zu neuem Leben. Hat nicht Jesus in vielen Heilungswundern genau das getan? Er hat den Kranken ihre Sünden vergeben und er hat sie geheilt. Er hat sie aufgerichtet – Steh auf – Richte dich auf – Nimm dein Bett und geh -. Und schließlich: haben nicht auch die Apostel in der Vollmacht Jesu dasselbe getan: Talita kum – steh auf – und sie richtete sich auf. Überall da, wo Schuld vergeben und Versöhnung möglich wird, in der Beichte, aber auch in jedem auf-richtigen und damit auch wieder auf-rich-tenden Gespräch, da geschieht Auferstehung mitten im Leben.
Neuschöpfung
12 Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
13 Verwirf mich nicht vor deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!
14 Mach mich wieder froh mit deinem Heil; mit einem willigen Geist rüste mich aus!
Mit dem Vers 12 beginnt der zweite Hauptteil des Psalms 51. Das verheißene neue Leben wird hier konkretisiert in der Bitte um Neuschaffung von Herz und Geist. Der Beter appelliert gleich mit dem ersten Wort an den Schöpferwillen und die Schöpferkraft Gottes. Um die Misere unseres menschlichen Lebens wirklich und wirkmächtig zu beheben, soll Gott erneut wie am ersten Schöpfungstag tätig werden. Für dieses erbetene Handeln Gottes wird ganz bewusst das hebräische Verb „bara“= erschaffen gebraucht. Dieses Wort wird nur und ausschließlich bei göttlichem Tun angewandt – nirgends wird es für eine menschliche Tätigkeit gebraucht. Der Beter bittet also um Neuschöpfung, da er sich bewusst ist, dass die erste Schöpfung – der Mensch, er selbst – durch die Sünde von Gott abgefallen ist. Und so kann auch nur Gott allein in einer erneuten Schöpfertat das Innere des Menschen wirksam erneuern.
Herz und Geist sind nach semitischem und auch nach unserem Verständnis der Sitz des Personalen, aller geistigen, willentlichen und gefühlsmäßigen Fähigkeiten und Kräfte des Menschen. Mit dem neuen, reinen Herzen und dem neuen, beständigen Geist wird also der ganze Mensch umgestaltet, ja neu geboren. Es ist in der Tat nichts Geringes, um was der Beter hier bittet: Er bittet darum, dass Gott ihm ein reines Herz schaffen möge, damit er die Geheimnisse Gottes, ja ihn selbst, erkenne und seine Lebensordnung erfasse. Und noch mehr bittet er um einen neuen beständigen Geist, damit er das mit dem Herzen Erkannte auch konsequent und mit Hingabe (mit willigem Geist) tun kann.
So bittet der Beter unseres Psalms also darum, aus der Schuldverstrickung befreit zu werden zu neuem Leben. Hier an dieser Stelle wird wieder einmal und auf ganz besondere Weise deutlich, wie sehr Altes und Neues Testament sich gegenseitig durchdringen und erklären. Denn hier findet sich gleichsam die alttestamentliche Wurzel der neutestamentlichen Wiedergeburt in Jesus Christus. Im Titusbrief (3,4-6) wird sie verkündet: “Gott hat uns nach seiner Barmherzigkeit gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung kraft des Heiligen Geistes, den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland.“
Die Neuschöpfung, um die der Psalmist bittet, ist uns in der Taufe geschenkt. Das Sakrament der Versöhnung aber ist das sakramentale Zeichen dafür, dass der Mensch wiedereingetaucht ist in die schöpferische Kraft des Taufgeistes – es ist ein Neuerfahren der Taufe.
Noch ein Wort zu dem Vers „mache mich wieder froh mit deinem Heil“. Hier ist von der christlichen Freude die Rede, von der Freude der Erlösten. „Müssten die Christen nicht viel erlöster aussehen“, fragte schon Nietzsche. Die Freude ist die Grunderfahrung derer, die sich angenommen wissen und die Kraft der Vergebung erfahren durften – nicht als Frucht unserer eigenen Anstrengung, sondern als freies Geschenk Gottes. Wir könnten uns fragen: Können wir uns eigentlich noch freuen, dass Gott in uns und an uns wirkt? Und sind wir dann in einem zweiten Schritt auch bereit, diese Freude der Erlösten in einem Wort des Verzeihens an andere weiterzuschenken?
Genugtuung, Dank, Lob und Zeugnis
15 Dann lehre ich Abtrünnige deine Weg,
und die Sünder kehren um zu dir.
16 Befreie mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.
17 Herr, öffne meine Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden.
Das zweimalige kleine Wörtchen „Dann“ leitet nun die Danksagung, das Dankopfer und die Buße ein. Der Neuschöpfung sollen und wollen Konsequenzen folgen. Der von seiner Schuld Befreite gelobt, die gute Nachricht von der Befreiung weiterzusagen, und den anderen Augen und Ohren für die rettende und heilende Gerechtigkeit Gottes zu öffnen. Der inneren Umkehr folgt also die Tat. Sie ist die Frucht der Reue auf dem Weg der Versöhnung. Dass der Sünder dabei selbst die Buße vorschlägt, die er leisten will, ist so ungewöhnlich nicht, weiß er doch selbst, wenn er sich seiner Schuld wirklich in aller Wahrhaftigkeit gestellt hat, am besten, wo es anzusetzen gilt. Im Neuen Testament finden sich im übrigen manch eindrucksvolle Beispiele ähnlicher Bußgesinnung – denken wir nur an den Zöllner Zachäus (Lk 19,1-10), der verspricht, den Armen die Hälfte seines Vermögens zu geben, um begangenes Unrecht im Übermaß wieder gut zu machen.
Das zweite „Dann“ leitet den Lobpreis ein: dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit. Loben und Danken sind im Hebräischen in dem einen Wort „todà“ zusammengefasst und begegnen uns in dieser engen Verknüpfung an vielen Stellen der Hl. Schrift. Der Dank mündet ein in den Lobpreis. Der wirklich und aus tiefstem Herzen Dankende kann gar nicht anders als dem Geber aller guten Gaben ein Loblied zu singen, ihn zu preisen für seine Huld und zu jubeln über seine Gerechtigkeit, die immer und zuerst Barmherzigkeit ist. Danken und Loben gehören also zusammen – im Gebet und auch im Alltag.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf das in diesem Zusammenhang eher fremd wirkende Wort von der „Blutschuld“, aus der der Beter sich Befreiung erfleht. Die Psalmenkommentare gehen davon aus, dass hier um Errettung aus dem Tod gebetet wird, als der die Sünde erfahren wird. Sünde und Schuld schneiden den Menschen ab von der eigentlichen Quelle des Lebens. Der Gott unseres Heiles aber kann uns mitten im Leben aus dem Tod befreien. Mit der „Blutschuld“ mag aber auch an das verbrechen Davids an Urija erinnert werden. Und nicht zuletzt wird der Plural des Wortes „sanguis“ im Lateinischen gerne gebraucht, um den in uns aufwallenden Zorn (Sanguiniker), um versteckte Aggressionen in uns zum Ausdruck zu bringen. Dass der Beter um Befreiung von dieser Art von (Blut)-Schuld bittet, ist dann nur allzu verständlich.
In Vers 17, der uns so sehr vertraut ist, da der hl. Benedikt ihn uns als ersten Lobpreis am Morgen ans Herz gelegt hat, wird das Lob Gottes nun in einen konkreten Sendungsauftrag hinein verdichtet: Herr, öffne meine Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden. Hier wird der von seiner Sünde erlöste Mensch zum Zeugen der Barmherzigkeit Gottes. Der Herr selbst ist es, der unseren Mund, unsere Lippen und unsere Zunge öffnet und uns damit zur Verkündigung bevollmächtigt. Die Antwort des Menschen ist nicht halbherzig, ist keine lästige Pflicht, sondern erwächst aus dem Überschwang des Herzens und aus der spontanen inneren Freude der Erlösten. Gerade deshalb ist das Zeugnis glaubwürdig und wert, gehört zu werden. In seiner Enzyklika „Über das Erbarmen Gottes“ (1981) bezeichnete es Papst Johannes Paul II. als die wesentliche Aufgabe der Christen heute, Zeugnis abzulegen für das Erbarmen Gottes und zwar im Bekenntnis wie in der Tat. Nur so könne in einer erbarmungslos gewordenen Welt eine Kultur der Vergebung und Versöhnung und damit des Friedens wachsen.
18 Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben, an Brandopfern hast du kein Gefallen.
19 Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott nicht verschmähen.
In Israel war es Brauch, nach der Errettung aus tödlicher Gefahr Dankopfer darzubringen. So tat es z.B. auch Noah nach der Sintflut (Gen 8,20). Hier nun reiht sich der Beter ein in die prophetische Opferkritik des Jesaja (1,11 ff.), des Jeremia (7,21 ff.), des Hosea (16,6) und des Amos (5,21 ff.). Nicht Schlacht- und Brandopfer sollen die Dankesgaben sein, sondern eine neue und rechte Gesinnung. Nicht irgendwelche Gaben, die ihn selbst symbolisieren, soll der Erlöste darbringen, sondern sich selbst als einen an Herz und Geist erneuerten Menschen. Der hartherzige, selbstgefällige und hochmütige Sünder soll sich aufbrechen lassen durch die Liebe Gottes. In ihr allein kann er in aller Demut und Wahrhaftigkeit zu seiner Gebrochenheit und Armut stehen und wird so verwandelt und bereitet für einen neuen Anfang.
An dieser Stelle endet der eigentliche Miserere-Psalm, denn die beiden letzten Verse sind ein Nachtrag, der das Gebet für eine spätere Zeit und Situation auslegt.
20 In deiner Huld tu Gutes an Zion, bau die Mauern Jerusalems wieder auf.
21 Dann hast du Freude an rechten Opfern, an Brandopfern und Ganzopfern, dann opfert man Stiere auf deinem Altar.
Hier werden die Opfer anders bewertet, auch wenn der Begriff – das rechte und gerechte Opfer – durchaus auch auf die Heilsnotwendigkeit der rechten Gesinnung hindeuten könnte.
Der Vers 20 schildert den großen Traum des zerstreuten Gottesvolkes Israel, dass Jahwe den Zion erneut zu einer Stätte des Heils und der Gerechtigkeit mache und die Gottesstadt aus den Trümmern wieder aufbaue (vgl. Jes 61,4). Die Neuschöpfung des Einzelnen wird hier am Schluss also in unmittelbare Beziehung zur Erneuerung des Bundes Gottes mit seinem auserwählten Volk gesetzt. Wo Sünder sich von Jahwe neu schöpfen lassen, da wird das Gottesvolk als Ganzes erneuert. Wir könnten auch sagen: wo ein Sünder umkehrt zum Herrn, da wird die ganze Kirche neu. So weitet sich im letzten Vers des Psalms 51 also der Blick vom einzelnen auf das ganze Volk Gottes. Der Ruf des „Miserere“ wird damit zum Weg ins Innerste der Menschen und zum Weg ins Innerste der ganzen Menschheitsgeschichte.
Ein paar Fragen im Anschluss an die einzelnen Schritte
des Weges der Versöhnung, wie ihn Psalm 50 (51) lehrt:
Der sich erbarmende Gott (Vers 3 und 4)
Welches Gottesbild habe ich? Glaube ich an die Liebe und das Erbarmen Gottes?
Was kann ich tun, um ein eventuell falsches Gottesbild zu korrigieren?
Wie hängen mein Menschenbild und mein Gottesbild zusammen? Übertrage ich u.U. jeweils falsche Vorstellungen wechselseitig?
Selbsterkenntnis und Bekenntnis (Vers 5 – 11)
Kann ich die Wahrheit über mich selbst ertragen oder weiche ich ihr aus?
Bemühe ich mich um die Bildung meines Gewissens und um die rechte Unterscheidung?
Bin ich in der Lage, meine Schuld vor Gott und vor dem Nächsten zu bekennen und um Verzeihung zu bitten?
Neuschöpfung (Vers 12 – 14)
Empfinde ich Schmerz und Reue über meine eigene Sünde?
Habe ich das Vertrauen, dass Gott in mir ein neues Herz erschaffen kann?
Erfahre ich Vergebung als Befreiung und als Neuwerden?
Genugtuung, Dank, Lob und Zeugnis (Vers 15 – 19)
Bin ich bereit, mir den neuen Anfang „etwas kosten“ zu lassen?
Kann ich noch aus ganzem Herzen danken?
Bin ich bereit, ein Loblied auf den barmherzigen Gott zu singen – und das vor aller Welt?
Von Sr. Philippa Rath