“Scivias”-Kodex: Tafel 29: Die Säule der Menschheit des Erlösers

Eine weitere Säule jenseits der Dreifaltigkeit war für Hildegard so umschattet, dass sie weder ihre Stärke noch ihre Höhe erkennen konnte. Sie bezeichnet die Menschheit des Erlösers, der vom Heiligen Geist empfangen aus der Jungfrau als Sohn des Allerhöchsten geboren wurde. Die Menschwerdung Gottes übersteigt alle Erkenntnis des menschlichen Verstandes. „Deshalb müssen die Menschen, die das Himmlische ersehnen, glauben und dürfen nicht hartnäckig untersuchen, wie der Sohn Gottes, der vom Vater in die Welt gesandt wurde, aus der Jungfrau geboren worden ist, weil die menschliche Wahrnehmung die Geheimnisse Gottes nicht erkennen kann, als der Heilige Geist es offenbart, wem er will.“
Zwischen dieser Säule und der Säule der wahren Dreifaltigkeit ist eine offene Stelle in der Mauer. Sie besagt, dass der fleischgewordene Gottessohn – wahrer Gott mit dem Vater im Heiligen Geist – noch in seinen Gliedern verborgen ist. Das symbolisiert die Gläubigen, die bis zum Ende der Welt geboren werden sollen. An der „Säule der Menschheit des Erlösers“ befindet sich eine leiterartige Treppe. Sie steht für den Aufstieg der Gläubigen über die himmlischen Wirkkräfte in der Nachfolge des Sohnes Gottes, um mit der Hilfe der göttlichen Tugendkräfte das Heilswerk zu vollenden. Himmlische Wirkkräfte oder Tugendkräfte steigen ab und auf und gehen mit Steinen beladen, mit guten Werken ans Werk. „Sie sind die aller stärksten Werkleute Gottes.“ Sie steigen im Eingeborenen Gottes durch seine Menschheit hinab und streben durch seine Gottheit nach oben. Die Steine sind die beflügelten leuchtenden Werke, die die Menschen mit ihnen wirken. Sie sollen am Heilswerk mitwirken. Es sind sieben Tugendkräfte, die den sieben Gaben des Heiligen Geistes entsprechen: Demut, Liebe, Furcht des Herrn, Gehorsam, Glaube, Hoffnung, Keuschheit. Sie sind verbunden mit dem Geist der Weisheit und Einsicht, des Rates und der Stärke, der Erkenntnis und der Frömmigkeit, und dem Geist der Furcht des Herrn.
Die Demut, rechts an der Spitze der Säule, tat zum ersten Mal den Sohn Gottes kund. Sie trägt eine goldene Krone, die auf die strahlende Menschwerdung des Erlösers hinweist mit drei herausragenden Zacken, die für die Dreifaltigkeit in der Einheit steht. Die Demut übertrifft die übrigen Tugenden. Sie funkelt vom reichen Schmuck der kostbarsten grünen und rötlichen Edelsteinen, die in der Miniatur nicht zu erkennen sind. Dass sie auf der Brust einen hellleuchtenden Spiegel trägt mit dem Bild des Gottessohnes bedeutet: in der Demut offenbarte sich der Eingeborene Gottes der Welt. Die Demut ist das stärkste Fundament alles Guten im Menschen. Die Liebe erscheint wie ein Hyazinth in der Farbe der Himmelsatmosphäre. Zwei mit Gold und Edelsteinen geschmückte Streifen sind in der Tunika eingewebt. Das sind die beiden Liebesgebote. „Du sollst deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, aus allen deinen Kräften und mit deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, er ist dein Herr. Er beherrscht die ganze Schöpfung. Wenn du Gott liebst, liebst du dein Heil. Die dritte Gestalt von oben nach unten bezeichnet die Furcht des Herrn. Sie trägt ein schattenhaftes Gewand und ist nicht menschenähnlich. Unter dem ständigen Blick ihrer durchdringenden Augen flößt sie den Menschen die Furcht vor der Größe der höchsten Majestät und Erhabenheit der Gottheit ein. Denn Gott muss von allen Menschen verehrt und gefürchtet werden, weil sie von ihm geschaffen sind. Diese Tugendkraft hat überall viele Augen an sich und lebt ganz in der Weisheit. Sie zittert aus großer Furcht vor Gott, denn sie legt Angst und Schrecken in die erleuchteten Menschenherzen, so dass sie ihre Zuversicht auf den setzen, der in Ewigkeit regiert. Die vierte Gestalt stellt den Gehorsam dar. Sie trägt ein schneeweißes Band um den Hals, weil sie die Herzen der Menschen durch die Unterwerfung gläubigen Gehorsams strahlend weiß macht. Sie hat Hände und Füße mit einer schimmernden Fessel gebunden, denn sie ist im Weiß des wahren Glaubens an das Werk Christi und den Weg der Wahrheit gebunden.
Die fünfte Gestalt, der Glaube, hat eine rote Kette um den Hals. Sie harrt gläubig aus und wird mit dem blutigen Martyrium geschmückt. Die sechste Gestalt, die Hoffnung, trägt eine blassfarbene Tunika, weil ihr zuversichtliches Wirken farblos ist. Sie sehnt sich nach dem zukünftigen Leben. Vor ihr erscheint in der Luft der Leidenspfahl des gekreuzigten Sohnes, zu dem sie hingebungsvoll Augen und Hände erhebt und mit großer Zuversicht ausschaut.
Die siebte Gestalt, die Keuschheit, trägt eine Tunika, die heller und reiner ist als Kristall. Auf ihrem Haupt sitzt eine Taube mit gleichsam zum Flug ausgebreiteten Flügeln. Das bedeutet, sie wurde durch den Schutz des Heiligen Geistes gehegt. In ihrem Leib erscheint wie in einem Spiegel ein leuchtendes Kind, auf dessen Stirn „Unschuld“ geschrieben steht. Denn im Innern dieser Tugend lebt die schöne und entschiedene Unversehrtheit. Sie trägt das Herrschaftszepter über die verkehrte Lust. Durch die Rechte der Erlösung wurde das Leben aller durch den königlichen Gottessohn in Keuschheit offenbar. Die Linke der Begierde wurde zunichte gemacht.
Auf der Spitze der umschatteten Säule, damit in herausragender Stellung vor den übrigen sieben himmlischen Wirkkräften, steht eine überaus schöne Gestalt mit männlichem Antlitz. Sie trägt bischöfliche Kleidung und ist ganz in Licht gehüllt, die göttliche Gnade. In Gott besteht sie in größter Fülle und mahnt die Menschen, Buße zu tun. „Ich bin die Gnade Gottes“, ruft sie. Sie will die Menschen mit ihrer liebevollen Ermahnung berühren, damit sie beginnen, Gutes zu wirken. Sie flammt in höchster Helligkeit in Gott. Sie ist mit einer purpurfarbenen dunklen Tunika angetan, d.h. in Liebe brennend neigt sich die göttliche Gnade zu der Schwärze der Sünder. Durch die Reue baut sie die Sünder zum Leben auf. Ein rotgelber Streifen, der über beide Schultern vorn und hinten bis zu ihren Füßen hinab läuft, weist darauf hin, dass sie sich in Stärke zu den Gläubigen neigt und sie in ihrer Güte zum Himmlischen hinaufhebt. Sie zieht im roten und gelben Glanz der Menschheit und Gottheit des Gottessohnes zur Liebe. So widersteht der gläubige Mensch sich selbst in der Begierde nach der Sünde, ganz von der Gnade bewegt. Um ihren Hals trägt sie ein mit Gold und Edelsteinen geschmücktes bischöfliches Pallium. Das bedeutet: Christus, der Sohn Gottes, ist der Hohepriester des Vaters, er hat überall das Priesteramt in kraftvoller Stärke inne, auch durch die Gestalt der Gnade. So ist sie vom hellsten Glanz der Barmherzigkeit des Allmächtigen umgeben. Ihre Arme, Hände und Füße sind im Schatten verborgen, weil die Kraft, das Werk und das Ende des Weges der göttlichen Gnade erst in den Menschen zu erkennen ist, die von keinem Leib beschwert sind. Der Glanz, der sie umgibt, ist überall voller Augen und ganz lebendig, d.h. „die göttliche Barmherzigkeit zeigt zusammen mit der Gnade Gottes das große Mitgefühl der barmherzigen Augen seiner so vielen Erbarmungen, welche auf die Schmerzen der Menschen blicken, die Gott folgen möchten.“
Die göttliche Gnade berührt und mahnt die Menschen, damit sie als Kinder Gottes das Hinfällige verachten und das Bleibende umfassen. „Ich bin eine standfeste Säule, die den, der mich sucht, niemals verlässt.“
Die lange Rede der Gnade ist nicht in der Miniatur zu erblicken, wird aber in den verschiedenen Tugendkräften als Frucht der Mitarbeit mit der Gnade Gottes veranschaulicht.
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB