I. Wo es anfängt (Tafel 1 – 7)

I. Wo es anfängt
Entscheidung und Ordnung der Liebe (Tafel 1 – 7)
Die Weichen, die die Richtung des Weges bestimmen, werden gleich zu Beginn im ersten Tugend-Laster-Paar gestellt: in der Liebe zum Himmlischen und in der Liebe zur Welt. An diesem Anfangspunkt steht es dem Menschen zu, sich zu entscheiden, worauf er seine Liebe ausrichtet. Aus dieser inneren Einstellung erwachsen dann die folgenden Haltungen.
Augustinus spricht in seinem großen Werk „Der Gottesstaat“ von zweierlei Liebe: von der bis zur Verachtung Gottes gesteigerten Selbstliebe und von der bis zur Verachtung seiner selbst gehenden Gottesliebe. Beide gründen ihren Staat, die eine den Weltstaat, die andere den himmlischen Staat (De civitate Dei 14, 28.). Ähnlich setzt Hildegard an. Die Liebe zur Welt erscheint in ihrer Vision als eine Äthiopierin, die auf einen Baum voller Blüten klettert und sie an sich reißt. Auf diese Weise zieht die Weltliebe die ganze Reihe der Laster hinter sich her. In diesem Anfangszustand ist es der Mensch, der handelt. Nachdem er aber den Weg der Laster bis zum Ende gelaufen ist, wird das Laster es sein, das ihn festhält. Am Ende, in der letzten Vision, sehen wir den Baum wieder, allerdings vertrocknet und ohne Blätter, der den Menschen umschlingt, so dass er sich nicht mehr wehren kann.
Die himmlische Liebe demgegenüber ist voller Verheißung. Sie nennt sich den Spiegel aller Tugenden. Wie der Spiegel das Licht sammelt und in gesteigerter Intensität zurückwirft, so enthält die an Gott entfachte Liebe in sich die Fülle der Gotteskräfte und strahlt sie in kräftiger Vitalität aus. In der Entscheidung für die selbstlose Liebe werden große Energien freigesetzt.
Dieser leidenschaftlichen Glut folgt die Disziplin, weil jene erste große Liebe eine Form der Zucht braucht, um sich auf Dauer zu bewähren. Die Disziplin zwingt kein Korsett auf, sondern ordnet als „Gürtel der Heiligkeit“ die wallende Leidenschaft der Liebe. Wie man sich in einem weit faltenden Kleid erst an die Arbeit machen kann, wenn man sich einen Gürtel umbindet, so rüstet die Disziplin die himmlische Liebe zum alltäglichen Dienst. Ohne Zucht und Ordnung wäre unsere Liebe nur Illusion. In der Disziplin findet sie ihre geordnete Form und tragfähige Kraft, die zur Barmherzigkeit, Geduld und weiteren Tugenden führt.

Sr. Maura Zátonyi OSB