“Scivias”-Kodex: Tafel 4: Das Weltall
„Nicht nur das Sichtbare und Zeitliche tut Gott durch seine Schöpfung kund, sondern auch das Unsichtbare und Ewige.“ (Scivias I.3.1.)
Der im Glauben verwurzelte Mensch des Mittelalters erfasste die Seinswirklichkeiten in symbolischer Weltanschauung. Er war fähig, den Verweischarakter der sinnlichen Dinge auf das Übernatürliche hin zu verstehen, die vergängliche Welt galt ihm als Gleichnis der unvergänglichen. Hildegard, die über eine feine Sensibilität für Gottes Wirklichkeit verfügte, stand auch mit der Natur in Fühlung. In dieser dritten Vision lehrt sie uns, das Heilswirken Gottes in der Schöpfung zu lesen.
Der Gegenstand der Vision, der auf der Miniatur wie ein farbiges Mandala aussieht, ist ein eiförmiges Gebilde mit einer äußeren Feuerzone (golden gemalt), einer finsteren Sphäre, einer Äther- und einer feuchten Luftschicht. In diesen Bereichen walten Winde und Leuchten in verschiedener Größe. In der Mitte des Gebildes befindet sich eine Sandkugel mit einem Berg.
In diesem Bild wird das Weltall beschrieben, das im Laufe der Vision von der göttlichen Stimme in symbolischem Sinn ausgelegt wird. So lernen wir , das Weltall auf die Glaubensinhalte hin zu buchstabieren.
Das ganze Universum weist auf den allmächtigen und unfassbaren Gotthin. Die äußerste Feuerschicht bedeutet Gottes zweifaches Wirken: feurige Rache den Ungläubigen gegenüber, Tröstung den Gläubigen gegenüber. Der große Feuerball dieser Schicht ist die Sonne, die denEingeborenen Sohn Gottes, die Sonne der Gerechtigkeit, bedeutet. Drei Leuchten, drei Planeten, stehen über dieser Sonne, im Geheimnis derDreieinigkeit. Die Winde in dieser Schicht deuten auf die wahreVerkündigung hin. In diesem Sinn geht es mit der Deutung weiter in der nächsten Schicht voll von finsterem Feuer. Sie ist die Sphäre derTeufelsraserei. Ihre Winde sind die boshaften Reden des Teufels, ihr Feuer ist Menschenmord. Der reinste Äther, der der finsteren Hautschicht folgt, versinnbildlicht den Glauben. Die Lichtkugel, die diese Sphäre beleuchtet, ist der Mond und zugleich das Symbol der unbesiegbaren Kirche. Zwei Leuchten, d. h. das Alte und das Neue Testament, geben der Kirche Halt. Eine Menge kleinerer Lichtkugeln durch den Äther verstreut sind die glänzenden Werke der Hingabe in der Reinheit des Glaubens. Die feuchte Luft unterhalb des Äthers versorgt das ganze Weltall mit Wasser: darin erkennen wir die Wirkung der Taufe. Die inmitten dieser Elemente schwebende Sandkugel, die Erde, weist auf den Menschen hin, der „mitten in der Kraft der vernunftlosen Geschöpfe als das einzige Wesen besinnlicher Tiefe steht.“ (Scivias I.3.16.)
Die ganze Schöpfung steht dem Menschen zu Dienste. Aber durch den Sündenfall hat der Mensch das richtige Verhältnis zur Schöpfung verloren. Er betrachtet sie nun nicht mehr in ihrem zeichenhaften Charakter, sondern setzt sie absolut. Dadurch nimmt die Schöpfung in der Anschauung des Menschen den Platz des Schöpfers selbst ein. Solchen Missbrauch der Schöpfung durch den Menschen z.B. in der Wahrsagerei, in der Astrologie und in der Magie klagt Gott an: „Diese Menschen versuchen mich durch ihre gottlose Kunst. Können sie etwa durch ihre Untersuchungen die Lebenszeit, die ihnen von ihrem Schöpfer zugeteilt ist, verlängern oder verkürzen?“ (Scivias I.3.20.) Dennoch hat nicht die Klage das letzte Wort, sondern das erlösende Erbarmen Gottes: „Die Sterne und die anderen Geschöpfe erforsche nicht über dein Schicksal. Denn wenn du mehr wissen willst, als du sollst, wirst du von dem alten Verführer betrogen. […] Doch eines wusste der Teufel nicht: dass der Mensch erlöst werden würde durch den Sohn Gottes.“ (Scivias I.3.30.) Dem erlösten Menschen beginnt die Schöpfung wieder von einem inneren Lichte her zu leuchten und die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf zu offenbaren.
Sr. Maura Zátonyi OSB