Die mystische Dimension in der Schöpfungsspiritualität der Hildegard von Bingen
„ O Mensch, schau den Menschen an!
Der Mensch hat nämlich Himmel und Erde in sich.
Er ist eine Gestalt, und doch ist in ihm alles verborgen.“ (Causa et curae S. 6)
Die Frage nach der Schöpfung und wie der Mensch mit dieser ihm von Gott gegebenen Schöpfung umgeht, wird heute von vielen diskutiert. Hildegard von Bingen schaute als Benediktinerin, geprägt von der Meditation der Heiligen Schrift und der Regel des heiligen Benedikt, auf die Fragen und Probleme ihrer Zeit. Heute betrachtet man in einer säkularisierten Welt die Schöpfung hauptsächlich unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Im 12. Jahrhundert wird das wissenschaftliche Interesse erst langsam lebendig. Hildegard von Bingen hat Interesse an Wissenschaft und damit den Fortschritten ihres Zeitalters. Die Schöpfung jedoch ist für sie nicht vom wissenschaftlichen Aspekt her interessant, sondern als Werk Gottes. Die Schöpfung ist der erste Akt Gottes, der die Vorbereitung für den zweiten Akt ist: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes. Gott, der Mensch wurde, um den Menschen zu retten – das ist für Hildegard von Bingen das zentrale Thema in ihren Werken.
Der Hauptgedanke Gottes in der Schöpfung ist der Gedanke der Beziehung. Er erschafft die Dinge, um den Menschen das Leben zu ermöglichen; er erschafft den Menschen, um mit ihm ins „Gespräch“ zu kommen. Auch der Mensch selbst ist Beziehung – Beziehung zwischen Leib und Seele. Außerdem ist auch die Beziehung der Menschen untereinander wichtig. Der Mensch heute ist wie Adam: Er hört andere Stimmen lieber als die Stimme Gottes. So fällt er ins Nichts.
Die Schöpfung ist der Akt Gottes, in dem er zeigt, wie er zu seiner Schöpfung steht: Gott will den Menschen als „Mitsprechenden“. Der Mensch als Abbild Gottes soll nach den Gedanken Gottes leben, in Kontakt mit ihm sein. Durch die Sünde wird dieser Kontakt zwischen Gott und dem Menschen unterbrochen oder sogar abgebrochen. Alle Handlungen des Menschen haben Auswirkungen auf die Schöpfung. Die Klage der Elemente im „Liber Vite Meritorum“ (Der Mensch in der Verantwortung ) macht dies deutlich: „ Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an jenen Mann < Gott> wandten. Sie riefen: ‚Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.‘ “ ( Der Mensch in der Verantwortung, S. 133). D.h. die Antwort des Menschen auf die Kontaktnahme Gottes durch die Schöpfung ist die Übernahme der Verantwortung für diese Schöpfung.
An verschiedenen Stellen in ihren Werken beschreibt Hildegard den Fall des Luzifer, z.B. in „Causa et Curae ( Heilwissen ): „…. Luzifer sah im Norden einen leeren Raum, der noch nicht in das Schöpfungswerk einbezogen war. Dort wollte er seinen Wohnsitz aufschlagen, um da noch mehr und größere Werke als Gott zu vollbringen. Er kannte dessen Absicht nicht, noch andere Geschöpfe zu erschaffen. Denn er erschaute nicht das Antlitz des Vaters, wußte nichts von seiner Macht und lernte auch seine Güte nicht kennen, weil er sich gegen Gott aufzulehnen suchte, bevor er dies erfahren konnte. Gott hatte nämlich dies noch nicht offenbart, sondern verborgen gehalten, wie es ein mächtiger, starker Mann tut, der seine Stärke manchmal vor den anderen Menschen verbirgt, so daß sie diese nicht kennen, bis er sehen kann, was sie über ihn denken und was sie beginnen und tun möchten. Als Luzifer sich in seinem verkehrten Willen zum Nichts – da es ein Nichts war, was er tun wollte – erheben wollte, stürzte er in das Nichts und konnte keinen Halt finden, weil er keinen Grund unter sich hatte. Denn er hatte keine Höhe über sich und keine Tiefe unter sich, die ihn vor einem Sturz hätte bewahren können. Als er sich aus dem Nichts ausstreckte, brachte das Beginnen dieses Strebens das Böse hervor, und alsbald entbrannte infolge der Eifersucht auf Gott das Böse, welches das helle Licht nicht kennt, in sich selbst – wie ein Rad, das sich dreht und in seinem Inneren eine glühende Finsternis sehen läßt.“ (Causa et curae S. 5,6). Gott ist der Schöpfer der Welt – er ist das „helle, strahlende Licht“, das Leben. Aus seinem Willen geht die Materie hervor. Das Licht und die Engel gehen aus der Schöpfung hervor. Die Engel sind Licht, sind Klarheit. Luzifer erbebt sich in seinem Stolz, möchte größer sein als Gott. Er sieht einen leeren Raum, den er für sich haben möchte. Und damit stürzt er ins Nichts. Der Mensch hat eine Höhe über seinem Kopf und einen Boden, einen Grund unter seinen Füßen – das ist Gott bzw. die Beziehung des Menschen zu Gott. Luzifer nicht; er steht nicht in dieser Beziehung und tut etwas, was Gott nicht von ihm gewollt hat. Der leere Raum – das Nichts, in das er fällt – steht für das Böse, das Laster, die Erhebung im Stolz. Er wird zum Bösen, wenn wir diesen Raum ohne Beziehung zu Gott nutzen. In dieser Versuchung, die uns gegebene freie Entscheidung in falscher Richtung zu nutzen, stehen wir Menschen immer wieder, und besonders auch in der heutigen säkularisierten Gesellschaft.
Im 1. Teil der 2. Vision des „Liber Sci Vias“ (Wisse die Wege) wird beschrieben, wie das Böse vom Teufel weitergegeben wird. An der Beziehung zwischen Eva und Adam wird deutlich, dass der Mensch durch Leidenschaften gekennzeichnet und damit angreifbar und besiegbar ist, wenn in unserem Herzen kein Kontakt zu Gott ist, wir mehr sein wollen, als wir sind : „Als der Teufel den Menschen im Paradies erblickte, rief er bestürzt: „Wer rührt da an die Wohnung meines wahren Glücks?“ Er war sich nämlich bewußt, daß er die Bosheit, die er in sich trug, noch in keinem anderen Geschöpf zur Vollendung gebracht hatte; doch als er Adam und Eva in kindlicher Unschuld im Paradiesgarten lustwandeln sah, war er sehr betroffen und machte sich auf, sie durch die Schlange zu verführen. … Weshalb? Weil er wußte, daß die Empfänglichkeit der Frau leichter zu besiegen ist als die männliche Stärke. Er sah auch, daß Adam Eva so leidenschaftlich liebte, daß nach einem Sieg über Eva Adam alles tun würde, was sie ihm sagte.“ ( Liber Sci Vias, S. 20/21 ).
In ihrem 3. Buch „Liber divinorum operum“ ( Das Buch der göttlichen Werke ), schreibt Hildegard, dass wir Menschen durch die Schöpfung lernen sollen, dass der Mensch der Gipfel der Schöpfung ist: Er allein kann sein Schicksal selbst bestimmen. Alles, was erschaffen ist, ist zum Dienst des Menschen da. Der Mensch ist zwar der Gipfel der Schöpfung, doch Christus ist der 7. Tag, die Vollendung. Sie schreibt: „…: Ich habe in meinem Sohn am siebten Tag, das ist in der Fülle des ganzen Guten, all mein Wirken folgendermassen begrenzt, damit das ganze kirchliche Volk, indem es schaut, hört und durch die Lehre erforscht, gut erkenne, was es in meinen Geboten zu tun habe. … Und ich habe aufgehört auf solche Weise in der Kirche zu wirken, da sie ja bereits im heiligen Werk, wie sie jetzt leuchtet, in einer vollständigen Grundlegung vollendet ist. Denn mein Sohn, der mein siebtes Werk ist, vollbrachte dies alles mit mir im Heiligen Geist, indem er aus dem Schoss der Jungfrau durch seine Menschheit hervorging, gemäß dem, was er im Evangelium sagt: „Alle Gewalt ist mir gegeben im Himmel und auf Erden“ Mt 28.,18 .“ (Liber Divinorum Operum S. 372/373). In der Menschwerdung des Sohnes stellt Gott den Kontakt zum Menschen, der durch Luzifer sowie Adam und Eva unterbrochen war, wieder her. Maria, die neue Eva, ist aus ihrer Beziehung zu Gott nicht herausgefallen. Darüber staunt Hildegard: Gott, der in seiner Güte immer wieder den Kontakt sucht und nicht ablässt – ER sucht den Kontakt durch einen Menschen, seinen Sohn. Hildegard gebraucht in diesem Zusammenhang das schöne und selten verwendete Bild vom Rad: „Aber Gott, der Vater, in seiner Güte blieb vollkommen wie ein Rad, weil seine Vaterschaft voller Güte ist; und so ist diese Vaterschaft sehr gerecht, gütig, fest, stark und, so besehen, mit einem Rad vergleichbar. … So ist die Vaterschaft wie der Umfang eines Rades, die Vaterschaft ist das vollständige Rad. Die Göttlichkeit ist in ihr, alles stammt von ihr, und ohne sie gibt es keinen Schöpfer. Luzifer aber ist nicht etwas Vollkommenes, Ganzes, sondern etwas Gespaltenes, Geteiltes, da er etwas sein wollte, was er nicht sein sollte. Als Gott die Welt erschuf, plante er seit jeher die Menschwerdung.“ (Causa et curae S. 6).
In diesem Sinne sollten wir auch wieder lernen mit der Schöpfung umzugehen: Sie ist uns von Gott gegeben, nicht um unser Maß zu überschreiten, sondern um unser Leben als mystisches Leben in Beziehung mit Gott zu leben, der uns erschaffen hat, wie Hildegard von Bingen sagt:
„Wer Gott in gläubiger Hingabe dient und ihn brennend liebt, wie es seiner würdig ist, wird durch keinen Ansturm der Ungerechtigkeit erschreckt und der himmlischen Seligkeit entrissen.“ ( Liber Sci Vias, S. 16 ).
Literatur:
Hildegard von Bingen, Liber Sci Vias ( Wisse die Wege ),übers. und hrsg. von Walburga Storch OSB, Verlag Herder Freiburg, Basel, Wien 1992
Ders., Liber Vite Meritorum ( Der Mensch in der Verantwortung ), übers. v. Heinrich Schipperges, Otto Müller Verlag Salzburg 1972
Ders., Liber Divinorum Operum ( Das Buch der göttlichen Werke ), übers. Von P. Paul Suso Holdener CSSR, Hovine – Verlag Ponchin ( F ), Marquain ( B ) 1989
Ders., Causae et Curae (Heilwissen ), übers. und hrsg. von Manfred Pawlik, Pattloch Verlag Augsburg 1989
Sr. Lydia Stritzl OSB