Für Gott und die Welt

Wenn Johann Wolfgang von Goethe unmittelbar vor seinem Tod, sozusagen in einem letzten Aufschrei, verzweifelt die Worte „mehr Licht!“ in die Welt hinausrief, so wird dies wohl nicht zu Unrecht als Ausdruck schmerzlichster und tiefster Sehnsucht des Sterbenden nach dem Transzendenten bewertet. Bis zum letzten Augenblick seines Lebens hat J.W. von Goethe mit und um Gott gerungen. Am Ende dann der Ruf nach dem Licht, das alle Dunkelheit erhellt, das Hoffnung aufstrahlen läßt und den menschlichen Geist erleuchtet und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.
Von jeher ist das Licht als Chiffre für Gott, als Bild dafür gebraucht worden, das unsagbare Geheimnis sagbar zu machen und die Frage nach dem Grund und Ziel allen Lebens zu beantworten. „Gott ist Licht“, sagt der Evangelist Johannes, und überall da, wo Gott sich in die Geschichte hinein offenbarte, erschien ein überhelles Licht. Licht aber erhellt nicht nur die Finsternis und ermöglicht das wahre Sehen, es spendet und erhält auch Leben, es schenkt Wärme und Heimat und wird damit zum Symbol der Gotteserkenntnis, des Lebens und der Liebe schlechthin.

Begegnung mit dem Licht
Auch das Leben Hildegards von Bingen (1098 – 1179) war bis zu ihrem Tod, bei dem der Legende nach ein strahlendes Licht am Himmel erschienen sein soll, gekennzeichnet vom Licht in all seinen Farben und Schattierungen.

Ja mehr noch: das Licht wurde zum Ausgangspunkt, zum zündenden Funken, zum lebensspendenden Feuer für ihr gesamtes Werk. Die Begegnung mit dem Licht traf wie ein Blitz in ihr bis dahin ganz und gar unscheinbares Leben. Sie selbst beschreibt es so: „Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte meine Brust Und plötzlich erschloß sich mir der Sinn der Schriften…“ Und sie vernahm den Auftrag:“ Schreibe, was du siehst und hörst!“

Der Einbruch des Lichtes und die damit verbundene Gabe der Schau hat Hildegard von Bingen bis zum heutigen Tag den Namen einer Visionärin und Prophetin verliehen. Wer war diese Frau, die ihre Zeitgenossen gleichermaßen in ihren Bann zog wie die nach Sinn, Ganzheit und Heil suchenden Menschen unserer Tage? Lohnt es sich, ihr Leben und Werk kennenzulernen und sich darin zu vertiefen? Kann der Sprung über 900 Jahre hinweg gelingen, ohne in die Abgründe der Geschichte abzustürzen? Gibt es mehr und andere Vergleichspunkte zwischen der Jahrtausendwende damals und der heute als die allgemeine Glaubens-, Orientierungs- und Haltlosigkeit des Menschen und der steigende Autoritätsverlust der Kirche?

Zunächst: historisch Zuverlässiges wissen wir nur weniges über Hildegard von Bingen. Im Jahre 1098 geboren, entstammte sie dem Geschlecht Bermersheim, einer Familie, die zum fränkischen Hochadel gehörte. Der zeitgenössischen Vita gemäß hatte Hildegard neun Geschwister und wurde – was damals durchaus üblich war – in jugendlichem Alter der Einsiedlerin Jutta von Sponheim, die in einer Klause neben dem Mönchskloster auf dem Disibodenberg lebte, zur Erziehung und Ausbildung übergeben. Schon früh also wurde Hildegard durch den Lebensrhythmus der Benediktiner mit seinem Wechsel von Gebet und Arbeit, Studium und geistlicher Lesung, gemeinschaftlichem Leben und Einsamkeit entscheidend geprägt. Im Jahr 1136 starb Jutta und Hildegard übernahm die geistliche Leitung der kleinen Klostergemeinschaft, die sich im Laufe der Jahre aus der Klause entwickelt hatte.

Bis zu ihrem 41.Lebensjahr vollzog sich Hildegards Leben im schlichten Gleichmaß normalen klösterlichen Alltags. Gleichwohl dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß sie sich in diesen ersten Lebensjahrzehnten eine profunde Bildung und Lehrweisheit angeeignet hat. Obwohl sie sich in ihren späteren Schriften immer wieder als ungelehrte Frau bezeichnete, – eine Tatsache, die sich wohl eher auf das Fehlen einer formalen Ausbildung in den klassischen Disziplinen der Dialektik, Rhetorik und Grammatik bezog – , besaß Hildegard umfangreiche biblische, theologische und philosophische Kenntnisse. Vor allem der Reichtum der biblischen Schriften, der sich ihr vor allem durch die Liturgie erschloß, und der Benediktusregel, ebenso aber die Lektüre der Kirchen- und Mönchsväter waren für sie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und bildeten die Grundlage für ihr gesamtes Werk. Wissen und Weisheit, natürliches Erkenntnisvermögen und inspirierte Gelehrtheit schmolzen bei ihr zu einer untrennbaren Einheit zusammen.

Himmel und Erde als Spiegel der göttlichen Liebe

Hildegards Werk – und auch das entspricht ganz ihrem Selbstverständnis – trägt stark visionäre und prophetische Züge. Göttlicher Ursprung dessen, was sie im überhellen Licht geschaut und gehört hat, und Sendungsbewußtsein der Prophetin gehören für sie untrennbar zusammen. Ihr prophetischer Geist wollte die Menschen ihrer Zeit aufrütteln, sie zur Umkehr bewegen und der wachsenden Gott-Vergessenheit entgegentreten. Hildegard verstand sich als Anwalt, Sprachrohr und Werkzeug Gottes. Sie lenkte den Blick in ungeschminkter Rede immer wieder neu auf das Geheimnis des Allerhöchsten und erschloß ihren Lesern und Zuhörern die göttliche Liebe als Urgrund und Vollendung allen Seins. Dabei predigte sie keineswegs eine Seelenmystik oder weltlose Innerlichkeit. Ihr ging es um eine religiöse Deutung des gesamten Universums und um ein konsequent gelebtes christliches Leben in der Welt. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Leben in all seinen Facetten und Möglichkeiten, ist für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe und damit transparent auf den Schöpfer hin.

Drei große theologische Werke hat Hildegard von Bingen verfaßt – nicht aus Freude am Schreiben, wie sie wieder und wieder betont, sondern aus der Verpflichtung heraus, das zu verkünden, was ihr die Erkenntnis der Schau vermittelt hat. Wie groß die Mühe, die sie das Schreiben kostete, und wie stark die inneren Widerstände waren, die sie zu überwinden hatte, schildert Hildegard im Vorwort zu ihrem ersten Hauptwerk „Scivias“ (Wisse die Wege): „Erst als Gottes Geißel mich auf das Krankenlager warf, … legte ich endlich Hand ans Schreiben…“ Was dann in den nächsten Jahrzehnten in mühevoller Arbeit entstand, war eines der imponierendsten Weltpanoramen des Mittelalters – übrigens nicht selten als Vorwegnahme bzw. Grundlage von Dantes „Divina Commedia“ bezeichnet.

In ihrem ersten Werk „Scivias“ schlägt Hildegard den großen heilsgeschichtlichen Bogen von der Schöpfung der Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zur Erlösung und Vollendung am Ende der Zeiten. Die ewige Geschichte von Gott und Mensch, das Drama von Abkehr und Hinwendung des Menschen zu seinem Schöpfer, wird hier auf einzigartige Weise zur Darstellung gebracht. Dabei versucht Hildegard, das unsagbare Geheimnis Gottes in immer neuen Bildern anschaulich zu machen. Ihre Visionen, die alle in gleicher Weise komponiert sind (1: das geschaute Bild selbst; 2: die Erklärung des Bildes; 3: die theologische und spirituelle Deutung), faszinieren den Leser durch den souveränen Umgang Hildegards mit den Quellen, die sie völlig frei und schöpferisch in ihre Gesamtschau einfließen läßt. Ebenso beeindruckend aber ist die elementare Sprachgewalt der Bilder, die es allerdings dem heutigen Leser oftmals nicht leicht macht, Hildegards Gedanken und Deutungen zu verstehen. Entsprechend der inhaltlichen Fülle und Vielseitigkeit ihres Werkes verfügte Hildegard auch sprachlich über große Variationsmöglichkeiten: sie beherrschte den narrativen Stil ebenso wie den dramatischen, den wissenschaftlichen in gleicher Weise wie den lyrischen. Sie füllte alte Begriffe mit neuen Inhalten, schuf völlig neuartige Worte, komponierte Lieder und Hymnen und betätigte sich nicht zuletzt auch als Dramaturgin.

Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse

Letzteres fand seinen Niederschlag in dem von ihr komponierten und getexteten Singspiel „Ordo Virtutum“ (Spiel der Kräfte), in dem Hildegard den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der sich im Menschen wie auch in der Welt immer neu ereignet, anhand von 35 dramatischen Dialogen zwischen Tugenden und Lastern zur Darstellung bringt. 1152 erlebte das allegorische Musikdrama – das erste mit Musikbegleitung überlieferte überhaupt – seine Uraufführung im Kloster Rupertsberg, in das Hildegard 1150 zusammen mit zwanzig Nonnen nach langen und harten Auseinandersetzungen vom Disibodenberg aus übergesiedelt war. 800 Jahre später, im Jahr 1982, fand dann eine zweite Welturaufführung statt: im monumentalen romanischen Ambiente von Groß St.Martin in Köln.

Seinen theologischen Niederschlag fand das Grundthema des Ordo Virtutum in Hildegards zweitem großen Hauptwerk, dem „Liber Vitae Meritorum“ (Buch der Lebensverdienste). Auch hier geht es um die immer wieder zu treffende Entscheidung des Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Hinwendung zu und Abkehr von Gott. Tugenden und Laster begegnen einander – rhetorisch meisterhaft inszeniert – in argumentativen Streitgesprächen. Diese werden immer wieder unterbrochen durch die Worte des „vir“ (= Gott), dessen Gestalt vom Himmel bis in die Tiefen des Abgrunds hinabreicht. Der Mensch, so Hildegards Grundanliegen, ist frei geschaffen und sein Leben lang in die Entscheidung gestellt, seiner in der Schöpfung grundgelegten Gottesebenbildlichkeit zu entsprechen. „Werde, was du bist“, „Mensch, werde Mensch!“ – beide Kurzformeln könnten nahtlos dem Denken Hildegards entnommen sein.

Die Welt als Kunstwerk Gottes

In ihrem dritten Hauptwerk, dem „Liber divinorum operum“ (Welt und Mensch), das sie nach elfjähriger Arbeit 1174 abschließt, gelingt Hildegard noch einmal ein großer Entwurf. Die gewaltige Kosmosschrift läßt die Welt vor den Augen des Lesers als Kunstwerk Gottes erstrahlen. Aus der Urkraft der Liebe Gottes fließen die Schöpfung, die Inkarnation in Gestalt des Sohnes und die endgültige Erlösung des verlorenen Menschen am Ende der Zeiten in einer all-umfassenden Einheit zusammen. Der Mensch erscheint als Mikrokosmos, der in allen seinen körperlichen und geistigen Gegebenheiten die Gesetzmäßigkeiten des gesamten (Makro)-Kosmos widerspiegelt. Im Menschen hat Gott die anderen Geschöpfe gezeichnet und die Menschengestalt dem Bau des Firmaments und des Schöpfungsalls entsprechend geordnet: „So wie ein Künstler seine Formen hat, nach denen er seine Gefäße macht“, schreibt Hildegard, „so bildet Gott die Gestalt des Menschen nach dem Bauwerk des Weltgefüges, nach dem ganzen Kosmos“. Urformen des Seins sind für Hildegard dabei Kreis und Kreuz – Symbole der göttlichen Liebe, der Einheit und der Erlösung wie auch Chiffren für Zeit und Ewigkeit.

Ihren ganz besonderen Ausdruck haben die Kosmosvisionen in den farbenprächtigen Miniaturen gefunden, die die Visionen Hildegards exakt im Bild sichtbar werden lassen. Insgesamt sind 42 Miniaturen (davon 35 zum „Scivias“ und sieben zum „Liber divinorum operum“) überliefert. Sie alle sind wohl nicht mehr unter dem direkten Einfluß Hildegards, sondern erst kurz nach ihrem Tod entstanden. Unvergleichlich sind hier vor allem die Darstellungen des Menschen im Kosmosrad, der göttlichen Liebe in Gestalt einer Frau und die Darstellung der Trinitätsvision. Besonders auffallend ist die weit ausholende, der mittelalterlichen Ikonographie entnommene Farbsymbolik, deren sich Hildegard und in ihrem Gefolge die Miniaturen-Maler bedienen. Sie lenkt das Verständnis und die Interpretation immer neu auf das eine, große Grundanliegen des hildegardischen Werkes, das sie am Ende ihres dritten Hauptwerkes noch einmal zusammenfaßt: „Und wiederum sah ich das lebendige Licht und hörte ich eine Stimme vom Himmel, die mich diese Worte lehrte: Nun sei Gott Lob in Seinem Werke, dem Menschen! Um seiner Erlösung willen hat Er die gewaltigsten Kämpfe auf Erden gefochten“…

Die Einheit von Heil und Heilung

Auch die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen sah Hildegard ganz unter der Prämisse der untrennbaren Einheit von Kosmologie, Anthropologie und Theologie. Das Licht der göttlichen Gnade, so Hildegard, läßt den Menschen seine Unvollkommenheit und Heilungsbedürftigkeit erkennen. Wer sich des Anrufs verschließt und seine Freiheit im Wahn absoluter Autonomie mißbraucht, gerät in Schuld und Sünde, wird krank an Seele und Leib und bringt damit letztlich auch die Elemente des Kosmos in Aufruhr. Heil und Heilung können so allein von der Hinwendung zu Gott ausgehen, vom Glauben, der die guten Werke und eine maßvolle Lebensordnung hervorbringt und so im ganzheitlichen Sinne heil und gesund macht. Hildegards Sorge um das Heil des Menschen fand auch seinen Niederschlag in einer Vielzahl naturkundlicher und therapeutischer Äußerungen und Anregungen. Bis heute allerdings nicht geklärt ist die Frage, ob die ihr zugeschriebenen Werke „Physica“ und „Causae et Curae“, in denen es einerseits um die Beschreibung bestimmter Arznei- und Heilmittel geht, andererseits um die Behandlung von Krankheiten, wirklich in ihrer Ganzheit von Hildegard stammen. Solange die Quellen- und Überlieferungsgeschichte dieser Werke weithin im Dunkeln liegt, erscheint es deshalb angezeigt, gegenüber Stichworten wie „Hildegard-Medizin“ oder gar „Offenbarungs-Medizin“ eher vorsichtig zu sein. Hildegard ging es um eine ganzheitliche, umfassende Sicht des Menschen und der Welt als Schöpfungswerk Gottes, als „Opus Dei“, das einerseits reines Geschenk der Gnade Gottes ist, andererseits den Menschen zum Mitschöpfer macht und deshalb als einfordernder Auftrag, der sich im Alltag und in der konkreten (maßvollen) Lebensgestaltung bewähren muß, verstanden werden muß.

Die Wucht der ungeschminkten Wahrheit

Unverwechselbaren Ausdruck verlieh Hildegard ihrem prophetischen Anliegen vor allem auch in ihren Briefen. 390 Schreiben aus ihrer umfangreichen Korrespondenz sind bis heute überliefert: Zeugnisse unerschrockener Direktheit, mahnender Sorge, erfrischend-humorvoller Weitherzigkeit, persönlichen Engagements und weitreichender (kirchen)-politischer Einflußnahme. Einem verzagenden, selbstquälerischen Abt schrieb sie einmal ins Stammbuch: „Denk daran, daß du ein irdischer Mensch bist, und fürchte dich nicht so sehr, denn Gott sucht nicht immerzu Himmlisches in dir!“ Hildegard, und das kann man all ihren Briefen entnehmen, war bereits zu Lebzeiten, eine anerkannte Autorität. Ihr Rat war begehrt, auch dann, wenn er oftmals unbequem und keineswegs schmeichelhaft war. Dasselbe berichten ihre zeitgenössischen Biographen von ihren Predigten, die sie überall im Land auf Markt- und auf Domplätzen gehalten hat: in Köln, Trier, Metz, Würzburg und Bamberg, in Siegburg, Eberbach, Hirsau, Zwiefalten und Maulbronn. War das Reisen allein für eine Nonne des 12.Jahrhunderts bereits eine Ungeheuerlichkeit, so waren die Inhalte dessen, was sie ihren Zuhörern bisweilen zumutete, nicht selten ein Skandal. Und dennoch war Hildegard alles andere als eine Revolutionärin. Ihre Theologie war durchaus orthodox, ihre Schau streng ekklesiologisch orientiert und ihr Menschenbild entsprach ganz dem biblischen Fundament.

Was war es also, das die Menschen an dieser Frau so faszinierte und was den Namen Hildegard von Bingen noch heute so unverwechselbar und aktuell erscheinen läßt? War es ihre radikale Ehrlichkeit, ihr kompromißloses Eintreten für die Wahrheit, die sie im himmlischen Licht geschaut hatte und die im ausgehenden ersten Jahrtausend vermeintlich niemand mehr hören wollte? War es ihre kraftvolle und bildreiche Sprache, die es verstand, „alte“ Wahrheiten den Menschen auf ganze neue Weise nahe zu bringen? War es ihre wahrhaft kosmische Theologie, die die untrennbare Einheit und Sinnhaftigkeit allen Lebens in ganz neuem Licht erstrahlen ließ? Hildegard war und ist ein ein Mensch, der uns wachrütteln kann, ein Stachel im Fleisch von Kirche und Welt. Sie war Prophetin im wahrsten Sinne: unerschrocken, klar, sich selbst verzehrend im Feuer radikaler Nachfolge. Bis zuletzt blieb sie Vorkämpferin für einen gelebten Glauben und Anwältin der Liebe und Gerechtigkeit. Das zeigt ein noch einmal ein Ereignis kurz vor ihrem Tod: Hildegard begrub den Leichnam eines jungen Edelmannes, der zwar exkommuniziert, aber vor seinem Tod durch den Empfang der Sakramente wieder in die Kirche zurückgekehrt war, auf ihrem Klosterfriedhof. Die Prälaten des Bischofs von Mainz, die von der Umkehr des Edelmannes keine Kenntnis hatten, forderten die Exhumierung des Leichnams, da dieser nicht in „geweihter Erde“ habe beerdigt werden dürfen. Hildegard aber weigerte sich und verhinderte die gewaltsame Herausgabe, in dem sie den Friedhof umpflügen ließ und so das Grab des jungen Mannes unkenntlich machte. Die unbeugsame Haltung Hildegards wurde mit dem Interdikt bestraft. Die Klostergemeinschaft wurde ihres Herzstückes beraubt: sie durfte nicht mehr öffentlich das Gotteslob vollziehen und der Kommunionempfang wurde ihr verboten. Erst nach zwei Jahren zähen Ringens erreichte die Äbtissin vom Rupertsberg die Aufhebung des Interdikts. Der letzte Rest ihrer Lebenskraft war aufgezehrt. Hildegard starb am 17. September 1179.

Schon wenige Jahre nach ihrem Tod, 1223, wurde der Heiligsprechungsprozeß eingeleitet. Warum dieser sehr bald buchstäblich im Sande verlief, ist bis heute nicht geklärt. Zuletzt versuchten die deutschen Bischöfe im Jahr 1978, Hildegard den Titel einer Kirchenlehrerin zu verleihen. Auch diesem Versuch aber war kein Erfolg beschieden, da Hildegard – so die Nachricht aus Rom – zunächst einmal heiliggesprochen werden müsse. Doch ob mit oder ohne amtliche Bestätigung: Hildegard von Bingen ist längst eine Lehrerin der Kirche geworden. Unzählige Menschen verehren sie als Heilige und pilgern auf ihren Spuren. Hildegards Ruf in die Zeit scheint also damals so aktuell gewesen zu sein wie heute. Es ist ein Ruf, der zu einer ganz persönlichen Antwort herausfordert – vor 900 Jahren ebenso wie auch heute – ein Ruf, der ungeahnte schöpferische Kräfte freisetzen könnte.

Sr. Philippa Rath OSB