Vision und Kontemplation
Hildegard beginnt ihre großen Visionswerke mit den Worten „Vidi et audivi“. Sie reiht sich damit in die Tradition der altestamentlichen Propheten und vor allem der apokalyptischen Schau des Sehers Johannes ein. Was aber ist eine Vision? Ein „himmlischen Fernsehapparat“, mit Hilfe dessen Gott der Seherin ihre Werke in die Feder diktierte? Oder gar eine Lichterscheinung infolge eines Migräneanfalls, wie andere behaupten? Die Wahrheit ist, wie so oft, viel einfacher und elementarer.
Werfen wir einen Blick in die Heilige Schrift – das Sehen kommt dort häufig vor, denken Sie nur an die Blindenheilungen, an Zachäus, an die Berufung des Nathanael, an die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das Wort „Vision“ kommt vom lateinischen Wort „videre“ – sehen. Sehen in biblischer Sicht bedeutet nicht zuerst äußeres Sehen und äußeres Wahrnehmen von Wirklichkeit. Sehen in biblischer Sicht bedeutet immer „liebendes Erkennen“, Einsicht in die Wesenheit der Dinge, die Gesamtschau der Zusammenhänge, ja letztlich die Erfahrung des unsagbaren Geheimnisses Gottes in Jesus Christus selbst. In diesem Sinne ist das Sehen eine Art Vorform des jenseitigen Schauens, die beginnhafte Vorausgestalt dessen, was wir gemeinhin als himmlische Glückseligkeit und als endgültige Anschauung Gottes bezeichnen. Gott, der Sehende schlechthin, gibt uns, seinen Geschöpfen, Anteil an seiner Sicht der Dinge und der Welt – und zwar immer dann, wenn wir uns liebend IHM zuwenden, wenn wir SEIN WORT hören und es gläubig annehmen. Sehen und Hören gehören also zusammen: Vidi et audivi – nicht nur bei Hildegard. Im Buch Deuteronomium heißt es: „Das Volk sah das Wort“, und bei Jesaja: „Das Wort, das Jesaja in einer Vision vernommen hat“ (2,1).
Die alten Mönchsväter nannten solche Art des Sehens und Hörens Kontemplation. Wichtig ist dabei zunächst, daß wir es nicht „machen“ können, so wie wir auch die Liebe nicht machen, sondern nur als Geschenk empfangen können. Es gibt keine „Technik“, deren korrekte Anwendung uns bereits den gewünschten Erfolg der Kontemplation beschert. Wir können uns nur bereiten, können offen sein für das Geschenk der Gnade – und dies überall und in jedem Augenblick unseres Lebens. Und, was ebenso wichtig ist, wir können uns ein-üben, Gottes Wort zu hören und alles mit seinen Augen zu sehen. Nichts anderes wollen Exerzitien sein – eine Einübung ins rechte Sehen und Hören.
Die Praxis der frühen Kirche, vor allem die Mönchstradition, lehrt uns den Dreischritt „Lectio – Meditatio – Oratio“ als Weg der Kontemplation. Hildegard hat diesen Weg von früher Jugend an eingeübt und hat so das Sehen gelernt. Anderthalb Jahrtausende lang fanden Menschen in diesem Dreischritt die Quellen ihres Christseins, beruhte auf ihm auch alle theologische Erkenntnis. Hildegard war wohl die letzte Vertreterin dieser sogenannten Monastischen Theologie. Vielleicht kann sie uns gerade deshalb heute wieder helfen, zu den Ursprüngen unseres christlichen Glaubenslebens und damit auch zur unmittelbaren Begegnung mit Gott zurückzufinden.
Betrachten wir also den erwähnten Dreischritt ein wenig näher. In der „Lectio“ wird der Text der Hl. Schrift aufmerksam und ehrfürchtig immer wieder gelesen und „zerkaut“ (ruminatio). In der „Meditatio“ vertieft der Leser den Text und sucht nach seiner inneren Wahrheit. Im Hören auf Gottes Wort dringt er zugleich auch in sich selber ein, und in dem er tiefer in sich selbst eindringt, erschließt sich ihm wiederum der Text. Ein solches Lesen bedeutet ein Neu-Lesen – nicht die Wiederholung eines toten Buchstabens – und ein Neu-Schaffen, denn der Leser war vor der Lektüre noch nicht das, wozu er im Lesen geworden ist. Die Lesung und Verinnerlichung in der Meditation führen ihn dann schließlich in die „Oratio“, in das Gespräch mit Gott. Der Leser erbittet, daß Gott selber ihm den Text erschließt und die wahre Erkenntnis des Wortes schenkt. Nun wird der Leser mit dem Gelesenen innerlich eins. Er ist hineingenommen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott und sieht von daher die Welt, ihr Wesen, ihre Zusammenhänge und sich selbst auf neue Weise. Es geschieht das, was wir Erkenntnis nennen, eine Vertrautheit mit dem Ganzen des Lebens und mit dem Absoluten. Es ist eine von der Liebe umfaßte und in ihr gründende Erkenntnis, die Gott in allen Dingen sieht und alle endliche Wirklichkeit auf die Gegenwart des Unendlichen hin durchsichtig werden läßt. Hier scheint dann etwas auf von der „alle Erkenntnis übersteigenden Erkenntnis“, von der die Heilige Schrift spricht. Erst eine solche Erkenntnis macht den Menschen, macht uns, dann auch zu wirklichen Zeugen, in deren Nähe Gott für andere spürbar wird.
Hildegard war so ein Mensch. In der Kontemplation erschloß sich ihr – wie sie im Vorwort zu ihrem Hauptwerk SCIVIAS schreibt – „der Sinn der Schriften“ und all dessen, was sie gelernt und im Leben erfahren hat. Kontemplation, und das möchte ich hier ganz besonders betonen, ist keineswegs an die Voraussetzung von Klosterzelle und Kreuzgang gebunden. Sie ist ein Weg und ein Geschenk, das Gott für jeden bereit hält. Vielleicht ist es gerade für uns heute besonders wichtig, zu den Quellen des Wortes zurückzukehren, anstatt mehr oder weniger aus Konserven pastoralliturgischer Hilfen zu leben. Lesung, Meditation und Gebet sind unverzichtbare Voraussetzungen gerade für die Verkündigung – sonst wird es dieser bald an Überzeugungskraft fehlen. Nur wenn das Wort erlauscht, aufgenommen, bewahrt und meditiert wird, kann es Propheten erwecken, die Befreier und Wegweiser sind.
SCIVIAS – Wisse die Wege oder Wegweisung – heißt das Hauptwerk Hildegards, das den Menschen ihrer Zeit und auch uns Wege zum Glauben an den dreifaltigen, an den liebenden und barmherzigen Gott eröffnete. Gott, Welt und Mensch – vereint in der Gesamtschau und in der Zeugenschaft des leidenschaftlich liebenden Herzens. Ob wir zu Ähnlichem heute die Kraft und den Mut haben?
Ich möchte Ihnen für eine Zeit der stillen Betrachtung die zweite Miniatur aus dem Buch SCIVIAS empfehlen (dazu Jes Sir 1,9 ff.). Sie trägt den Titel „Der Leuchtende“. Nähehin geht es mir hier um die Tugend der Gottesfurcht, die Hildegard als Gestalt, die über und über mit Augen bedeckt ist, darstellt. Die Gottesfurcht hat nichts mit Angst zu tun, sondern vielmehr mit Ehrfurcht. Sie ist ganz Auge und Ohr für Gott. Gott läßt sich durch die Gottesfurcht erkennen und wird durch sie geschaut. Deshalb ist sie der Anfang der Weisheit, wie es im Buch Jesus Sirach (1,14) heißt. Wer betet, der schaut auf Gott, und Gott schaut auf ihn.
Bitten wir am Schluß Gott: Du hast in der heiligen Hildegard das Verlangen geweckt, deine Größe allezeit liebend zu betrachten und zu preisen. Schenke uns auf ihre Fürsprache Wachstum in der geistlichen Erkenntnis, damit wir im Dunkel das Licht deiner Klarheit erkennen und wach sind für den Augenblick, wo du uns begegnen willst. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.
Von Sr. Philippa Rath OSB