“Scivias”-Kodex: Tafel 30: Der Turm der Kirche
Ein Turm aus überhellem Glanz jenseits der „Säule der Menschheit des Erlösers“ auf der südlichen steinernen Mauer des Heilsbauwerkes bezeichnet die Kirche. Dieser Turm, der innerhalb und außerhalb des Gebäudes zu sehen ist, ist noch nicht vollendet, zahlreiche Werkleute bauen unermüdlich daran. An seiner Spitze sind sieben starke Schutzwehren errichtet, die für die sieben Gaben des Heiligen Geistes stehen – kein Feind kann sie zerstören. Im Innern des Turmes befindet sich bis an die Spitze so etwas wie eine Leiter. Auf den Sprossen stehen Menschen mit feurigem Antlitz, weißem Gewand (in der Miniatur rot) und schwarzen Schuhen. Durch die Glut des Heiligen Geistes wird der Glaube sichtbar im Gewand der guten Werke. Noch sind die Gläubigen auf dem Weg der Anfechtung und Beschmutzung, deshalb in schwarzen Schuhen. Einige von ihnen haben zwar das gleiche Aussehen, sind aber größer und strahlender. Die Gründer der Kirche haben gleich nach dem Tod des Gottessohnes durch ihre Predigt diese auferbaut. Denn Gott erbaut die Kirche und festigt sie. Aus dem Mund des Sohnes Gottes hörten sie das Wort des Lebens. Sie blicken sehr aufmerksam im Turm. Es sind wohl die Apostel, die unten, hinter der ersten Sprosse der Leiter, mit leuchtenden Gesichtern und grünen Gewändern stehen. Die Kraft Christi Jesu, des Gottessohnes, ist ein äußerst starker Turm, in dem sich die Gläubigen in unbesiegbarer Bewährung üben. Sie haben Christus, den wahren Gott und Menschen, in ihrer Mitte. Als Braut des Sohnes Gottes empfängt die Kirche ihre Kraft für den Kampf gegen den Teufel aus der Inkarnation des Sohnes Gottes.
An der Nordseite des Gebäudes sieht Hildegard die Welt und die Menschen – rechts des Turmes – hin und herlaufen. Viele nähern sich, vom Alten oder Neuen Bund ermahnt, dem göttlichen Bauwerk, betreten es und verlassen es wieder. Die das Gebäude betreten, werden mit einem blendendweißen Gewand bekleidet, mit dem Gewand des wahren Glaubens. Die einen frohlocken in großer Freude, sie erfüllen und bewahren ganz hingegeben alles, was ihnen der Heilige Geist eingibt. Andere wollen das Gewand ausziehen. Die starke Kraft der „Erkenntnis Gottes“ beschwichtigt sie gütig. Manche, von der Eingebung des Heiligen Geistes ermuntert, reißen den für das Herz schwierigen Weg an sich. Einige spotten, ziehen das Gewand, das sie in der Wiedergeburt aus Geist und Wasser empfangen haben, wütend aus und kehren in die Welt zurück. „Sie erforschen viele Dinge und lernen viele unnütze weltliche Eitelkeiten.“ Manche fallen rasend über den Turm der Kirche her.
Gott rüstet die Kirche mit seinen himmlischen Wirkkräften aus und steht so den Gläubigen im Kampf gegen den Teufel bei. Dies zeigen die weiteren Bildelemente der Miniatur. Neben dem Turm der Kirche in der Bildmitte steht ein Tempel mit sieben Marmorsäulen und einer schönen Gestalt in einem goldfarbenen Gewand. Sie blickt auf die Menschen in der Welt, sie leitet und bewacht sie „O, ihr Trägen, warum kommt ihr nicht? Wird euch nicht Hilfe zuteil, wenn ihr kommen wollt? Ihr müsst laufen und Gott wird euch auch helfen.“
Es ist die Weisheit Gottes, die die Hände ehrerbietig über der Brust hält und auf dem Haupt einen kronenförmigen, von hellem Schein strahlenden Reif trägt. Die Gottheit strahlt von solcher Würde und Schönheit. Von der Brust her bis zu den Füßen läuft ein Streifen mit kostbaren Edelsteinen. Vom Beginn der Welt erstreckt sie sich, ein mit Geboten geschmückter Weg bis zum Ende der Zeiten, im grünenden Spross der Patriarchen und Propheten, die die Menschwerdung des Sohnes Gottes erflehten, geschmückt mit der Jungfräulichkeit in der Jungfrau Maria, danach mit dem festen rosafarbenen Glauben der Märtyrer und mit der Liebe der Beschaulichkeit. So schreitet sie bis zum Ende der Welt voran. Ihre Ermahnung ergießt sich solange die Welt dauert.
Neben der Weisheit stehen drei weitere Gestalten. Sie wenden sich der Säule der Menschheit des Erlösers und dem Turm der Kirche zu.
Die Gerechtigkeit bringt nach der Weisheit durch den Heiligen Geist in den Menschen alles ins rechte Lot. Sie ist so riesengroß, dass sie über das ganze Gebäude hinweg schaut. In ihrer Erhabenheit übertrifft sie die menschliche Einsicht und strebt nach oben zum Himmlischen. Sie erscheint so umfangreich, dass fünf Menschen zusammen ihre Breite ergeben könnten, das bedeutet die Spanne der fünf Sinne in der menschlichen Fassungskraft, mit denen sie sich in der Weite des göttlichen Gesetzes bewegt. (in der Miniatur nicht dargestellt ) Sie hat einen großen Kopf und helle Augen und blickt scharf zum Himmel empor. Sie bleibt himmlisch und nicht irdisch. Das große weiße Spruchband, das die Gerechtigkeit in der Hand hält, wird im Text Hildegards nicht erwähnt. Sie ist ganz strahlend weiß und durchsichtig wie eine heitere Wolke. Sie wohnt im Glanz und in der Reinheit der gerechten Menschenherzen, die der Gerechtigkeit Gottes ergeben sind. Sie ahmt auch die Wolken nach, weil sie sich in den Herzen der Gerechten eine angenehme Wohnstatt bereitet. Sie ruft durch das ganze Gebäude allen übrigen Tugenden zu: „Wir wollen uns tatkräftig erheben, denn Luzifer ergießt seine Finsternis über die ganze Welt. Wir Himmelskämpfer sind dazu bestellt, ihn in seiner Schlechtigkeit und Bosheit zu überwinden, damit die Menschen auf der Welt von seiner Feindschaft gerettet werden können.“
Eine Gestalt, die Stärke, trägt einen Helm (die himmlische Lebenskraft zum Heil der Gläubigen), einen Schild (das christliche Gesetz), Beinschienen (die rechten Wege unter der Lehre der Meister) und Eisenhandschuhe (die starken wirksamen Werke, welche die Gläubigen in Christus vollbringen). In der Rechten hält sie ein entblößtes Schwert, in der Linken eine Lanze. Unter den Füßen zertritt sie einen schrecklichen Drachen und durchbohrt seinen Rachen der so schmutzigen und teuflischen Begierde. Sie schwingt das Schwert und sagt: „Allmächtiger Gott, wer kann dir widerstehen und dich bekämpfen? Das vermag die alte Schlange nicht. Im allmächtigen Gott kann mich niemand brechen. Für die gebrechlichen Menschen werde ich eine sichere Zuflucht sein. O milder und gütiger Gott, hilf den Zertretenen!“
Neben der Stärke steht eine Gestalt mit drei Köpfen, die Heiligkeit. Sie hat drei Häupter, eine dreifache Würde, ein Kopf am gewöhnlichen Ort und auf jeder Schulter einen mit den verschiedenen Bezeichnungen: „Heiligkeit, Wurzel des Guten, ohne sich zu schonen“.
Diese Gestalt ist mit einer Tunika aus weißer Seide angetan und mit schneeweißen Schuhen ausgerüstet. Durch den Tod Christi erstrahlt sie im Schimmer der Wiedergeburt aus Geist und Wasser in den Herzen der Menschen, damit auch sie seinen Tod nachahmen. Auf ihrer Brust trägt sie das Zeichen des Kreuzes. Sie ruft nämlich immer wieder in den aufmerksamen Herzen der Gläubigen die Erinnerung an das Leiden Christi wach. In der Rechten hält sie ein entblößtes Schwert, das sie andächtig an ihre Brust und das Kreuz drückt. Das bedeutet, mit dieser Geste erinnert sie an die Heilige Schrift, mit der die Erwählten liebevoll des Leidens ihres Erlösers gedenken. Die mittlere, die auf ihrer Stirn „Heiligkeit“ geschrieben hat, spricht: „Ich stamme von der hl. Demut. Meine Mutter, die Demut, übersteht und überwindet alles Widerwärtige.“ Das Haupt zur Rechten mit der Aufschrift „Wurzel des Guten“ spricht: Auf den höchsten Berggipfel, der Gott ist, schlage ich gleich bei der Geburt Wurzel. Ich muss mich mit deinem Herzen verbinden, damit du bestehen kannst. Das Haupt zur Linken mit der Stirnbezeichnung „Ohne sich zu schonen“ spricht: „Ach, wie bin ich doch so hart und unbeugsam, dass ich mich kaum überwinden kann, dir, o Heiligkeit, zu Hilfe zu eilen, da du doch ohne mich nicht bestehen kannst. Weh, dem, der das Gute vernachlässigt! O Heiligkeit, damit du frei aus dir bestehen kannst, will ich die räuberische Schlinge des Teufels meiden und sie im wahren Gott zerreißen.“ Die Häupter bleiben gemeinsam stark in der Eintracht des inneren Schauens und der Liebe. Ihre Ermahnungen zielen auf den Fortschritt der Menschen.
So richtet Gott die Kirche mit den himmlischen Wirkkräften aus, die auseinander hervorgehen.
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB