Altes und Neues aus dem Schatz der Kirche
Gastkommentar von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung „Glaube und Leben“ Überraschungen durch die Erhebung der hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin:
Die Erhebung der hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin am 7. Oktober 2012, zusammen mit dem spanischen Theologen Johannes (Juan) von Avila durch Papst Benedikt XVI. wird gerade in den nächsten Tagen hohe Wellen schlagen. Bei uns in den Bistümern, wo die hl. Hildegard lebte (Limburg, Mainz, Trier), werden die Feiern danach einen Nachhall davon bringen.
Umso wichtiger ist es, jetzt im Zusammenhang der Feier auf dem Petersplatz in Rom etwas nachdenklich zu werden über das, was hier geschieht.
Manchmal scheint die Kirche in der Flut der Zeit wie ein unbeweglicher Turm stille zu stehen. In Wirklichkeit täuscht diese oft und recht wirksam gebrauchte Metapher. Es ändert sich auch in der – wie es scheint – unbeweglichen Geschichte in der Kirche sehr viel mehr, als wir oft wahrnehmen. Über fast die ganze Zeit der Kirche gab es bis Ende des zweiten Jahrtausends 30 Kirchenlehrer aus Ost und West, aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturräumen. Sie wurden in ganz verschiedener Weise zum Kirchenlehrer ernannt oder berufen. Aber alle waren Männer, Päpste und Bischöfe, Ordensangehörige und auch ein Diakon. An Frauen dachten gewiss nur wenige. Aber es gab kaum eine Chance, dies bald verwirklicht zu sehen.
Dies ist in der Geschichte der Kirche eine wirkliche Überraschung. Und was für Frauen die seit 1970 zu Kirchenlehrerinnen ernannten sind! Die hl. Teresa von Avila und die hl. Katharina von Siena zählen in Spanien und Italien zur großen literarischen und kulturellen Geschichte ihres Landes. Sie gehören zu den Patronen ihrer Länder. Die hl. Thérèse von Lisieux ist nach unserer heutigen Erkenntnis – man hat sie früher einmal süßlich verkitscht – eine große Lehrmeisterin für ein exemplarisches Lebens aus dem Glauben, und zwar mitten in allen täglichen Anfechtungen. Hildegard von Bingen, die nun als erste aus dem mitteleuropäischen und deutschen Raum hinzukommt, gilt als eine der klügsten Frauen des Mittelalters und wird immer mehr von verschiedenen Wissenschaften in ihrer Größe erforscht und geschätzt.
Man darf sie aber nicht nur in ihrer Bedeutung für die Geschichte der christlichen Spiritualität sehen. Zum großen Teil sind es auch ausgesprochene „politische“ Figuren, wie wir heute sagen. Sie haben zu einem guten Teil den Mut, den Mächtigen ihrer Zeit gegenüberzutreten und ihnen ungeschminkt und furchtlos die Wahrheit zu sagen. Päpsten und Kaisern, Königen und Bischöfen, allen Großen in ihrer Zeit. Diese Frauen können trotz des „Freimuts“, wie die Hl. Schrift, besonders Paulus dies nennt, zugleich in einer beeindruckenden Weise bescheiden und demütig sein. Durch ihre manchmal gerade bestürzende Offenheit, die auch harte Worte nicht verschmäht, haben sie nicht selten auch ihre Ziele erreicht.
In jedem Fall zeigen diese Kirchenlehrerinnen, welche Schätze die Kirche in einer langen Geschichte verwahrt. Oft sind sie im Lauf der Zeit etwas staubig geworden. Aber plötzlich zeigt sich, dass dieser manchmal so unbeweglich erscheinende Koloss Kirche überraschend in einer Zeit lebendig erscheinen kann, da wir es nicht vermuten.
Zu diesen lebendigen Zeugen, die uns neu begegnen, gehört nun nach dem 7. Oktober eine Frau aus unserer Region. Wir können es genauer sagen und ihr auch heute auf den Spuren bleiben: In Bermersheim bei Alzey geboren, auf dem Disibodenberg gelebt und auf dem Rupertsberg gestorben. Trotz ihrer adeligen Herkunft – eine von uns. Auch das ist nicht die geringste dieser Überraschungen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz