Benediktinische Gedanken zu Psalm 34

Die Aufforderung zum Hören ist das Signalwort der Regula Benedicti (RB). Es eröffnet und strukturiert den gesamten Regelprolog und bringt programmatisch zum Ausdruck, wie der Mönch die Heilige Schrift lesen und lernen soll: als lauschender Hörer des Wortes, der das Ohr seines Herzens neigt (obsculta et inclina aurem cordis tui, RB Prol. 1). Überblickt man die Struktur des Regelprologs, so gruppieren sich um dessen Sinnmitte zwei Psalmenerklärungen: der Weg zum Leben (Psalm 34) und der Weg zum Wohnen im Zelt (Psalm 15).

Im Prolog der Regel steht Psalm 34 an exponierter Stelle und gibt dem eigentlichen Berufungsdialog (RB Prol. 9-18), der ganz und gar vom Hören geprägt ist, allein in diesem Abschnitt wird siebenmal das Wort audire/hören genannt, seine besondere Gestalt. Der Ordensvater Benedikt will ein flüchtiges Lesen verhindern und stellt darum an den Anfang seines Psalmenkommentars ein klangmalerisches Signal. Er mahnt dazu, mit „angedonnerten Ohren“ (adtonitis auribus, RB Prol. 9) auf die laut rufende Stimme Gottes zu hören und fügt subito piano nachforschend hinzu: „Und was sagt er?“. Die Frage „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ (34, 13), wird in der Benediktusregel zu einer persönlichen Motivationsfrage, die vitale Bedürfnisse anspricht, die tieferen Beweggründe hinterfragt und herausfordernd ergänzt: „Wenn du wirkliches und ewiges Leben haben willst, dann …“ (RB Prol. 17). Der Mensch wird hier als homo viator vorgestellt, dem Psalm 34 als Kompass auf dem Lebensweg dient: „Ecce pietate sua demonstrat nobis dominus viam vitae“ (RB Prol. 20). Vor jeder menschlichen Initiative steht die Erfahrung, dass Gott es ist, der zuerst gesucht, angesprochen und herausgerufen hat. Zwischen Berufung und Zumutung liegt nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Lust und die Last der Freiheit, sich dieser unausweichlichen Grundentscheidung zu stellen, und sie persönlich zu beantworten.

Beachtenswert ist besonders der letzte Vers des Psalmenkommentars der Benediktusregel, der sinngemäß der Nukleus des Prologs ist: „Gürten wir uns [a] also mit Glauben und Treue [b] im Guten [c], und gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege [d], damit wir gewürdigt werden [c‘], ihn, der uns in sein Reich gerufen hat [b‘], zu schauen [a‘]“ (RB Prol. 21). Dieser kunstvoll gestaltete Vers, den man als kleinen Chiasmus darstellen kann, fasst Psalm 34 prägnant zusammen: Am Anfang steht der Aufbruch, das sich Gürten (34, 5). Am Ende das Ziel, das Sehen (34, 9). Der Glaube kommt aus dem Hören, dem Ruf und der Berufung (34, 3.12) und konkretisiert sich in der Übung guter Werke (34, 14f). Im Zentrum steht der homo viator, der der Führung und Schulung bedarf. Die Ausgangsfrage (34, 13) wird im Regelprolog mit dem Hinweis beantwortet, sich der Unterweisung der gesamten heiligen Schrift, die hier personifiziert wird, anzuvertrauen. Der Weg des Gehorsams, der Demut, der Gottesfurcht, des Lobpreisens, des Schweigens, des Leidens und der Liebe erweist sich als Weg konkreter Nachfolge. Im Kontext der Benediktusregel ist Christus selbst der Lehrer, der hier ruft und mahnt, und der sich unter der Chiffre des Weges an die Seite des Armen und Suchenden stellt. Vers 21 des Prologs veranschaulicht in nur einem Satz die zeitliche und existenzielle Erstreckung dieser lebenslangen Pilgerschaft: Vergangenheit: vocavit (er hat uns gerufen), Gegenwart: pergamus (lasst uns gehen), Zukunft: ut mereamur videre (damit wir gewürdigt werden, zu sehen).

Der kleine Psalmenkommentar der Benediktusregel zu Psalm 34 skizziert die Voraussetzungen, um das in Aussicht gestellte Ziel auch erreichen zu können. Er appelliert und ermutigt aber zugleich, möglichen Widerwertigkeiten zum Trotz, in dieser Schule (dominici scola servitii, RB Prol. 45) auszuharren und auf dem Weg der Gebote Gottes (viam salutis, RB Prol. 48) mutig voranzuschreiten; wissend, dass sich dadurch zwar nicht die Wegstrecke, wohl aber das Herz weitet. Die dialogische Dimension (Frage-Antwort, Anruf-Aufnahme) verdeutlicht zudem, dass ein persönliches Bekenntnis ein Ich und ein Du voraussetzt, das sich in einem Wir, in einer Gemeinschaft, erschliesst. Psalm 34 erschöpft sich nicht in Belehrungen und Entscheidungshilfen; die Weisung des Psalms ermöglicht ein Hineinleben in eine gesättigte Lebenserfahrung und Lebensform. Die persönliche Antwort vollzieht sich als ein Einstimmen, ein Aufnehmen und Aufgenommenwerden in die Entscheidung, die bereits als Gabe vorgegeben ist. In der Mitte des Psalms und im Zentrum des Regelprologs wird deutlich, dass dies ein immerwährender Lernprozess ist. Und mehr noch: Das Mitlernen und Mitfragen mit dem suchenden Menschen übersteigt jeden bloß organisatorischen Rahmen. Aus Paränese (I) und Theorie (II) will ein achtsamer, gereifter und lebendiger (Mit-)Vollzug werden.

Hüte deine Zunge!

Der Psalm dreht sich buchstäblich um den Spruch: Hüte deine Zunge! (Nezor LeSchoncha). Zum Lohn dafür verspricht David langes Leben und gute Tage. An diese erstaunliche Unverhältnismäßigkeit von Tun oder vielmehr Unterlassen und Ergehen hat einer der Tora-Riesen unserer Zeit, Rabbi Israel Meir HaKohen Kagan (1883-1933) aus Radin in Polen, mit einem umfassenden Regelwerk angeknüpft, das er nach Psalm 34, 13 unter dem Titel Sefer Chofez Chajim, Buch des Lebenbegehrenden veröffentlichte. Da Tora-Meister gewöhnlich nach ihrem Hauptwerk genannt werden, ruft man den Verfasser eines der bedeutendsten zeitgenössischen rabbinischen Kodizes (Mischna Brurah) allgemein Chofetz Chajim, Lebenbegehrender. Die Regel des heiligen Benedikt zählt 73 Kapitel, das 6. Kapitel befasst sich mit der Schweigsamkeit (De taciturnitate). Der Chofez Chajim widmet allein diesem Punkt 19 Prinzipien (Klalim) und 180 Regeln. In seinem Buch vom Zungenhüten (Sefer Schmirat HaLaschon) begründet er jene Disproportion von Imperativ und Sanktion mit drei moraltheologischen Überlegungen. Erstens ist die scheinbar lässliche Sünde der bösen Zunge (Laschon HaRa) ein folgenschwerer Anfangsfehler, der mehr als jede andere Sünde einen Rattenschwanz von weiteren Sünden nach sich zieht. Wer umgekehrt seine Zunge im Zaum hält, wird sich daran gewöhnen, nicht nur den Ruf, sondern auch das Eigentum und das Leben des Nächsten zu respektieren, so dass er sich mit der Zeit überhaupt keine Pflichtverletzungen mehr gegen ihn zuschulden kommen lassen wird (Tor der Erinnerung 1). Die Gesetze gegen üble Nachrede, Verleumdung, Beleidigung, Verhetzung, Anzeigen, Anklagen und dgl. erfüllen also auch einen wichtigen erzieherischen Zweck: sie lehren die Unantastbarkeit des Anderen. Der zweite Grund dafür, dass die Zunge das Organ der schlimmsten Sünde wie der größten Tugend sein kann, schöpft der Chofez Chajim aus der Lehre der Elemente. Betrachtet man nämlich die vier Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer), dann erkennt man sofort, wie sehr die spirituellen Elemente die materiellen überwiegen, so dass die Letzteren geradezu als quantité negligeable erscheinen. Naturgemäß überwiegen deshalb auch Gebote und Strafen, die mit Wort und Geist zu tun haben, bei weitem sämtliche Gebote und Strafen, die mit dem Körper verbunden sind (ebd.). Der dritte Grund rührt aus den schweren Folgen, die auch gerechte Urteile haben können. Um es kurz und, anders als der Chofez Chajim, ohne kabbalistische Umschweife zu sagen: Urteile vergiften auch dann, wenn sie zu Recht fallen die Atmosphäre. Sie fallen keineswegs nur auf ihre Urheber zurück, sie setzen vielmehr Strafverfolgungen in Gang, die letztendlich allen Schaden zufügen und ein Gemeinwesen zerstören können. Es ist eigenartig, diesen strengen Rabbiner dem Übersehen der Fehler und Sünden, der Versöhnung und dem Frieden das Wort reden zu hören (Tor der Erinnerung 2). Aber gerade damit wird er unserem Psalm gerecht: „Suche den Frieden und jage ihm nach!“

Martyrium

Während Psalm 34 im Officium per annum eher selten vorkommt, einzig Vers 9 als wohl ältester Kommuniongesang, wird er in der Liturgie für die Gedenktage der Märtyrer auffallend häufig vertont. Zum Introitus (Eingangsgesang) und als Graduale (Antwortgesang auf die erste Schriftlesung) deuten ausgewählte Verse und zentrale Begriffe den Zusammenhang von Bekenntnis und Verfolgung: beständiger Lobpreis (2), Gottesfurcht (10), Gottsuche (11), Errettung aus Ängsten (18), Leiden des Gerechten (20), Schutz (21).

Die Taufspiritualität der Alten Kirche greift diese Dynamik auf und deutet Psalm 34 in vielen Taufkatechesen für Taufbewerber und Neugetaufte als Lehrstück für ein entschiedenes Christsein. Die beständige Gottsuche (V. 5.11), die auch im benediktinischen Mönchtum fortwährendes Kriterium für die Echtheit einer Berufung bleibt (vgl. RB 58,7), wird Lernziel und Lerninhalt der Unterweisung. Der Aufruf zur Umkehr, zu der jeder Getaufte seiner Taufwürde entsprechend bleibend aufgefordert ist, verwirklicht sich in dem persönlichen Bekenntnis der Glaubenszusage und in der entschiedenen Passion für Gott: Leidenschaft und Leidensbereitschaft gehen Hand in Hand. Die mystagogischen Katechesen sehen daher eine Analogie zwischen Taufe, Mönchsprofess und Martyrium. Tauf- und Professriten tragen zunehmend einen personalen Sendungscharakter. So beginnt der Professdialog mit dem zentralen Vers 12 „Venite filii audite me timorem Domini docebo vos“, worauf der Profitent seine brennende Taufkerze zur Hand nimmt und mit einem Vers aus dem Buch Daniel antwortet: „Nun folge ich dir aus ganzem Herzen. Ich fürchte dich und suche dein Antlitz zu schauen. Herr, verlass mich nicht, sondern handle an mir nach deiner Güte und nach deinem großen Erbarmen“ (Dan 3,41f.). Der Wandel vom blutigen Martyrium der ersten Jahrhunderte zum sogenannten „weißen Martyrium“ des Mönchtums, führt damit zu einer neuen Lesart der Taufmotivation und auch der Psalmen. Der Lebensweg der entschlossenen Hingabe erschließt sich nun als beständige Ausrichtung des Lebens coram Deo: in lobpreisender Nachfolge und in einer konkreten Gemeinschaft (vgl. Ps 34, 1-11). So wird das Zeugnis (Griechisch: martyrion) auf Dauer gestellt, und die Gottsuche zur lebenslangen Aufgabe.

Psalm 34 prägt als Leitmotiv die Gesänge der Märtyrerfeste und verbindet Nachfolge und Hingabe des Einzelnen mit der Indienstnahme für alle. Wer ein glückliches Leben sucht (13), wird dies in der Gottesfurcht finden. Nicht fern aller Bedrängnis, sondern durch sie hindurch (20) ist die Güte des Herrn mit allen Sinnen zu erfahren (kostet, seht, 9). Die Gottesfurcht hat nichts mit krankhafter Ängstlichkeit zu tun. Sie kennzeichnet vielmehr das Leben in Gottes Gegenwart als beständige Suche und Hinwendung des Herzens. Da die Herzensbildung grundlegend für ein geistliches Leben ist, erscheint sie in der Benediktusregel als erste Stufe der zwölfstufigen Demutsleiter: „Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich, Gott je zu vergessen.“ (RB 7,10). Wer nicht schon auf der ersten Sprosse ins Straucheln geraten will, darf diese nicht voreilig und allzu zielstrebig überspringen wollen. Als indica, als Wegweiser und Zeichen, markiert die Gottesfurcht den Anfang und die Fortdauer jedweder Unterweisung, die zum Leben führt (Ps 34, 12).

Schabbat

Das Gebet des Vorbeters David in der Höhle ist zum festen Bestandteil der Gebete der Synagoge und der Kirche geworden. In der Synagoge gehört er zu den Psalmen des Morgengottesdienstes am Schabbat (Psuke DeSimra). Dort figuriert er in den meisten Gebetsordnungen an zweiter Stelle nach Psalm 19. Man kann sich fragen, was der Psalm 34 mit dem Schabbat zu tun hat. Anders als in Psalm 92 fällt das Wort Schabbat nicht und auch das Schöpfungslob des Ps 19 fehlt. Andererseits deutet vielleicht der obstinate Siebener-Rhythmus, der die drei Teile des Psalms durchzieht auf den Schabbat. Versteht man unter Schabbat nicht nur den 7. Wochentag, sondern einen Daseinszustand, eine alternative Lebensform, dann zeugt die Wahl des Psalms für die Schabbat-Liturgie von einem tieferen Verständnis. Die Veränderung (LeSchanot) des Verstandes, die die Überschrift von David berichtet, ist in einem gewissen Sinn auch am Schabbat erforderlich, eine Umstellung der profanen Denkungsart, ähnlich wie die bei frommen Juden zu beobachtenden Umschaltung der Gangart von presto auf lento, der sogennante „Schabbesgang“. Ja, das gleiche Wort, Schnui, ist ein Begriff des Schabbat-Gesetzes, der besagt, dass eine verbotene Arbeit nicht strafbar ist, wenn sie am Schabbat anders, gleichsam mit der „Rückhand“ (Kilachar Jad) ausgeführt wird. Es stimmt, der Psalm enthält keine schöpfungstheologischen Anknüpfungspunkte, wohl aber befreiungstheologische. Man darf nicht vergessen, dass der Schabbat, wenigstens nach der zweiten Version der 10 Gebote eine Fiesta de la libertad ist, die den Auszug aus dem Sklavenhaus kommemoriert und allen Hausgenossen, vom Hausherrn bis zum Vieh Frei gibt (Deut 5, 14-15). In dieser sozialrevolutionären Hinsicht entspricht das Haus der Freiheit, der Höhle Davids, sie sind Reservate des Gebets, des Lernens, der Ruhe und des Glaubens.

Lebensprogramm

In den Apophtegmata Patrum, den Vätersprüchen des frühen Wüstenmönchtums, findet sich folgende Erzählung: „Die Brüder bringen zu Abbas Abraham Pergament und bitten ihn, einen langen Text zu schreiben. Aber er schreibt nur den Vers Psalm 34, 15: ,Meide das Böse, und tu das Gute, suche den Frieden, und jage ihm nach.‘ Die Brüder sagen ihm: ,Schreibe uns doch den vollen Psalm.‘ Doch er antwortet: ,Wenn ihr euer ganzes Leben dem Programm dieses einen Verses angepasst habt, dann werde ich euch einen anderen Text schreiben“ (Coll. Arm. X, 67).
Programmatische und pointierte Worte: Wer wissen will, wie gläubiges Leben gelingen kann, der benötigt, so legt es Abbas Abraham nahe, nicht umfassende Information, sondern ein „Lehrstück“, das sich durch den Vollzug erklärt und das die Reifung des Erfahrenden ermöglicht. Teilgabe an einer lebendigen Tradition will performative Lehre sein. Denn ein Lebensprogramm, das nur gedacht, aber nicht vollzogen wird, wäre nur die halbe Wahrheit und bliebe auf halber Strecke stehen. Daher gilt: meide, tue, suche, jage nach (34, 15). Ein solch zunehmend verständiges Sich-Einüben buchstabiert Psalm 34 von A bis Z durch.

Von Sr.Raphaela Brüggenthies OSB