Bildmeditation
„Der Kosmosmensch“

Gott, der Vater und Schöpfer aller Dinge, mit bärtigem Antlitz, überragt die ganze Welt. Er sprengt den Rahmen des Bildes, denn er ist der Herr über alles, was ist. An seiner Brust trägt er das gewaltige Schöpfungsrad, das von der Kraft der Liebe, einer feurigen Christus-Gestalt gehalten und gleichsam umarmt wird. Die gestaltgewordene Liebe sagt von sich: „Ich habe jeden Lebensfunken entzündet. Mit Weisheit habe ich das All geordnet. ich bin das heile Leben. Alles hat seine Wurzel in mir.“
In der Mitte des Kosmosrades steht der Mensch. Der Blick des Betrachters bleibt zunächst wie gebannt auf diese androgyne Gestalt gerichtet, die den Menschen schlechthin symbolisiert. DerMensch steht aufrecht, ganz aufgerichtet, mit ausgebreiteten Armen, mitten im Fadenkreuz des Kosmos. Durch seinen Leib ist er eingeästet in die gesamte Schöpfung wie die Zweige in einen Baum. Seine Fingerspitzen berühren einen der Kreise, die sich um ihn herum befindet.
Nur langsam nimmt man auch die anderen Dinge wahr. Blaue und weiße Kreise sind da zu sehen, Schichten, die von außen nach innen den Äther, das Wasser, die Luft mit Wolken und Regen symbolisieren. Nach mittelalterlicher Vorstellung waren dies die Urelemente der Schöpfung. Genau in der Mitte des Bildes sehen wir eine braune Kugel. Sie steht für die Erde, auf der alles Leben sich ereignet.
Dann sind da, feine, goldene Linien, die die Kreise und auch den Menschen durchziehen und die unterschiedlichen Bereiche und Teile des Bildes mitenander verbinden. Ein geheimes Netzwerk entsteht, das Himmel und Erde, Mensch und Natur – ja alles Leben miteinander in Beziehung setzt. Jedes Geschöpf, so sagt Hildegard, ist von einem anderen abhängig, alles ist miteinander verbunden und aufeinander angewiesen, alles antwortet einander und hält einander in Spannung. Das Geheimnis des göttlichen Schöpfungsplanes, nach dem jeder Mensch in einem dreifachen Beziehungsgeflecht steht: nach oben zu Gott, nach rechts und links zu den Mitmenschen und nach unten zur Tier- und Sachwelt.
Im Übergang von den blauen zu den beiden roten Kreisen ist symbolisch das Windsystem dargestellt. Aus allen vier Himmelsrichtungen entsteigen Tierköpfe: Leopard, Wolf, Löwe und Bär. Von den Sternen rundum gehen Strahlungen aus, die wiederum alle Elemente des Kosmos erfassen. Ein Lichtnetz durchdringt so die ganze Schöpfung. Der Mensch aber hält das Weltennetz in seinen Händen. Er ist Geschöpf, aber auch Mitschöpfer Gottes.
„O Mensch“, sagt Hildegard, „du bist mir verantwortlich“. Jeder einzelne ist also existentiell in diese Verantwortung gerufen. Durch sein unterscheidendes Wissen um Gut und Böse kann er die Welt gestalten und aufbauen – sie aber auch ins Chaos stürzen. Die Entscheidung liegt bei ihm. Die Kraft zum rechten Tun aber muß er sich von Gott erbitten.
Hören wir zum Schluß einen Auszug aus dem Originaltext Hildegards zum Bild des Kosmosmenschen:

„Mitten im Weltenbau steht der Mensch. denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach oben gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er alles in Bewegung zu setzen. Was er mit seinem Werk bewirkt, das durchdringt das All. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis erstrecken. So hat der gläubige Mensch sein Dasein im Wissen aus Gott und strebt in seinen geistlichen wie weltlichen Bedürfnissen zu Gott. Immer richtet sich sein Trachten auf Gott, dem er in Ehrfurcht entgegentritt. Denn wie der Mensch mit den leiblichen Augen allenthalben die Geschöpfe sieht, so schaut er im Glauben überall den Herrn. Gott ist es, den der Mensch in jedem Geschöpf erkennt. Weiß er doch, daß Er der Schöpfer aller Welt ist.“

Sr. Philippa Rath OSB