Zeitgenössische Darstellungen zum „Liber vitae meritorum“

II. Abschreiten des Weges
Haltende Kraft (Tafel 8 – 15)
Durch seine Geschöpflichkeit ist der Mensch in die Schöpfungsordnung hineingestellt und durch die Discretio soll er sich mit Vernunft und Wille in diese Ordnung einfügen. Was bei den unvernünftigen Wesen von Natur aus vorgegeben ist, braucht beim Menschen einen persönlichen Akt, um mit- und nachvollzogen zu werden. Die geschöpfliche Abhängigkeit bestimmt einerseits die Beziehung zum Schöpfer, die sich in Wort, Antwort und Verantwortung entfaltet, andererseits wirkt sie sich aus im Umgang mit den anderen Geschöpfen auf verschiedenen Seinsebenen als Urverbundenheit und Verwiesenheit. Da ist ein gegenseitiges Geben und Empfangen im Spiel, das die Discretio in Gleichgewicht und Bewegung hält.
Ohne die willentliche und vernunftbezogene Entscheidung für die unterscheidende Maßhaltung gerät der Mensch in die Maßlosigkeit, die wie ein Wolf alles an sich reißt, unfähig zur Enthaltsamkeit und zum Verzicht, zur Veränderung und zum Wandel, zur Verbindlichkeit und Beziehung – zu all dem, was das Leben fördert. Es ist zu bemerken, dass auch die Maßlosigkeit das Leben anstrebt, aber sie verkennt die schöpfungsgemäßen Gesetze des Menschseins, das nicht fertig und absolut angeboren ist, sondern des Wachsens mit allen Entwicklungen und Entsagungen und der Hilfe anderer bedarf.
Die Discretio hilft vor allem unsere Grenzen zu erkennen, die uns in unserem Geschöpfsein mitgegeben sind, und damit bewahrt sie uns vor der Überschreitung der Grenzen. Ihre positive Optik zeigt die Fähigkeiten, mit denen jeder einzelne auf ganz persönliche Art begabt ist, und lässt erkennen, wie ein jeder seine Talente für andere einsetzen kann. Wenn wir lernen, unsere Gaben nach dem richtigen Maß zu gebrauchen, eröffnen sich neue Perspektiven. Maßhaltung ist ja keine Mittelmäßigkeit und Ängstlichkeit vor Weite und Größe. Sie fordert wagende Schritte zuerst in den menschlichen Bereichen, wo dann auch geistliche Horizonte aufgehen können.

Sr. Maura Zátonyi OSB

Völlerei

Eine Gestalt sah ich, die sah aus wie eine Schlange, die sich auf ihrem Rücken in der Finsternis wälzte … Und sie sprach:

Gott hat alles geschaffen, warum sollte ich es mir an irgendetwas fehlen lassen? Wüßte Gott nicht, dass man dies alles brauchte, so hätte er es nicht gemacht. Ich wäre dumm, wenn ich in all diesen Dingen nicht meinen Willen hätte, Gott will ja, dass der Leib des Menschen keinen Mangel leidet.

 

 

 

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Bitterkeit

Die zweite Gestalt glich einem Leoparden. Und sie sprach:

Denen, die mir in der Schrift und im Glauben lästig und schädlich sind, antworte ich nichts, sondern beiße ich über sie weg.

 

 

 

 

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Gottlosigkeit

Die dritte Erscheinung sah aus wie ein Mensch … Von jeder Wange zog sich ein pechschwarzer Streifen hin zum Kinn … Und sie sprach:

Ich will nicht gehorchen: weder Gott noch irgendeinem Menschen!

 

 

 

 

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Lüge

Die vierte Gestalt war umhüllt von dichten Finsternissen, so dass man keine weiteren Einzelglieder an ihr wahrnehmen konnte. Als ein unförmiges und monströses Menschengebilde konnte man sie kaum von der Finsternis unterscheiden. Doch stand sie auf einem trockenen, verhärteten und schwarzen Schaum und stieß von Zeit zu Zeit eine feurige Lohe aus. Und sie sprach dabei:

… Daher will ich ruhig die windigen Worte, die mir zu Ehre gereichen, in meinen Mund nehmen, um das, was ich auf der einen Seite nicht finden kann, auf der anderen zu erreichen.

 

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Streitsucht

Die fünfte Erscheinung sah aus wie ein Mensch mit krausem, schwarzem Haar und feurigem Antlitz. Sie trug einen Mantel mit verschiedenen Farben, der an den Schultern durchlöchert war. Und die sprach:

Solange ich noch atme und solange ich lebe, werde ich nicht dulden, dass einer mich mit der Torheit seines Willens belästigt.

 

 

 

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Schwermut

Die sechste Gestalt glich einem Aussätzigen. Sie trug schwarzes Haar, hatte aber sonst keinerlei Kleid an. Dafür bedeckte sie sich mit breiten Blättern verschiedener Pflanzen und schlug sich mit ihren Händen ihre Brust. Und sie sprach:

Was ist noch mein Heil, wenn nicht die Tränen? Was für ein Leben habe ich, wenn nicht Schmerz? Und was wird meine Hilfe sein, wenn nicht der Tod? Welche Antwort wird mir werden, wenn nicht das Verderben? Etwas Besseres gibt´s nicht für mich.

 

 

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Maßlosigkeit

Diese Gestalt sah aus wie ein Wolf. Mit gekreuzten Beinen hockte sie auf ihren Füßen und lauerte überall umher, um alles, was sie nur an sich raffen könnte, zu verschlingen. Und sie sprach:
Was mir an Spiel und Lust entgegenkommt, das will ich auch packen. Wenn mein Herz vor Freude springt, soll ich es festbinden? … Und wenn mir schon das liegt, sollte ich mich zum Schweigen verurteilen? Wird mir doch jeder Reiz meines Leibes eine wahre Lust! Und wie ich geartet bin, so lebe ich mich aus.

 

 

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Unheil

Die achte Gestalt glich einem Turm, der in seiner Höhe ein Schutzdach trug, in dem drei Fenster waren. Darunter erschienen beide Arme eines Menschen, dessen Hände über das Dach ausgestreckt waren. Die Arme waren in der Finsternis wie mit Ärmeln eingehüllt, während die Hände nackt waren, aber feurig. Und die Gestalt sprach:

Welche Verdienste und was für einen Lohn habe ich? Feuer … Ich fliehe vor allem Lichtvollen, und lehne es ab, lichtvollen Werken zu folgen, und ich will keinen Schmuck der lichtvollen Dinge, da ich zur Plünderung der Seelen da bin. Dies ist nämlich mein Werk, denn so will es jener, von dem ich stamme. Ich bin der Fluch, den er getan hat.

 

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III. Gottes Weg und unser Weg
Die Geheimnisse des menschgewordenen Gottes und des gottförmigen Menschen (Tafel 16 – 22)
Gott nähert sich auf vielen Wegen den Menschen, die er nicht nur als Mitarbeiter, sondern als Mitliebende erschaffen hat. Um eine liebende Begegnung möglich zu machen, hat Gott die Welt geschaffen. Den unmittelbarsten Weg zu den Menschen hat er in der Menschwerdung eingeschlagen.
Der Gehorsam, der zugegen gewesen war, als Gott sein „Fiat! – Es werde!“ gesagt hat und die Schöpfung aus diesem Wort entstand, war die Haltung der Jungfrau Maria, als sie zur Menschwerdung des Gottessohnes ihr „Fiat! – Es werde!“ sagte. So ist es verständlich, dass im Leben Christi, durch den die Welt geworden ist und der Mariens Sohn ist, der Gehorsam besonders zum Tragen kommt. Weiterlesen