Zeitgenössische Darstellungen zum „Liber vitae meritorum“

Gottvergessenheit

Und ich sah eine dritte Gestalt, deren Kopf aussah wie der Kopf einer Sterneidechse, während der übrige Leib dem Körper einer gewöhnlichen Eidechse glich. Vor ihr erschien eine Wolke, die schwarz, stürmisch und nebelig war, dabei untermischt von einer dichten weißen Wolke. Die Gestalt hatte ihre vorderen Füße auf die oben erwähnte Wolke gelegt und sprach:

Da Gott mich nicht kennt, und da ich auch nichts von ihm weiß, warum sollte ich denn von meinem eigenen Willen lassen, wo doch Gott mich nicht will, wie auch ich von ihm nichts zu spüren bekomme? Deshalb, wo mir eine Sache nützt, und was ich selber will, darauf will ich überall achten.

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Unbeständigkeit

In den erwähnten Finsternissen sah ich nun ein Rad wie ein Rad eines großen Lastkarrens, das wie vom Wind getrieben wurde, um einen Mühlstein zu bewegen. An seinen Speichen waren vier Stöcke eingebunden und auf die Gestalt eines Menschen gerichtet … Und die Gestalt sprach:

Was ich bin, das bringe ich auch zum Ausdruck, und was ich will, das setze ich auch durch. Was ich besitze, davon lasse ich nicht ab, und was ich kann, das setze ich schon ins Werk, soweit mir das Vermögen dazu reicht; anders wäre ich ja verrückt!

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Sorge für das Irdische

Eine fünfte Gestalt sah ich, die die Form eines Menschen und bleiche Haare hatte. Sie stand nackt in der Finsterniss wie in einem Fass. Und sie sprach:

Welche Besorgnis ist besser als die Sorge um diese Welt, wo Kräuter, Obstbäume, wo Weintrauben und alles zum Leben Notwendige wachsen, durch all das die Menschen sich erquicken und ihren Unterhalt bekommen. Würde ich nämlich aus meinen Augen Tränen vergießen, oder im Seufzen meine Brust schlagen oder meine Knie beugen, so hätte ich bei all dem weder etwas zum Essen noch zum Kleiden, würde vielmehr zugrunde gehen. Und würde ich auch zum Himmel aufschreien, um mir von Sonne und Mond und den Sternen den Lebensunterhalt zu erbetteln, so würde mir dies gar nichts bringen.

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Hartnäckigkeit

Die sechste Gestalt sah aus wie ein Büffel und sprach:

Wäre die Erde von Regen und Fettigkeit immer nur aufgeweicht und hätte keine Härte, dann würde daraus kein Nutzen kommen, weil die Früchte auf diese Weise nicht reifen könnten. Und wäre sie zart, dann würden sie die Wasserfluten, die sich darüber ergießen, vollends zerstören … Warum sollte ich mir für etwas Mühe machen, das ich doch nicht zu Ende bringen kann? Wenn nämlich einer etwas sucht, was er doch nicht finden kann, so nützt ihm das gar nichts.

 

 

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Begierde

Die siebte Gestalt glich bis zu den Beinen einem Weibe, dessen Waden und Füße jedoch von der erwähnten Finsternis so bedeckt waren, dass ich diese vor der Finsternis nicht sehen konnte. Ihr Haupt hatte sie nach Frauenart verhüllt und hatte ein weißes Gewand an. Sie sprach:
Ich habe ein großes Verlangen und einen gewaltigen Trieb, jedes Ding, das reich, ehrenhaft und schön ist, an mich zu ziehen. Jedes noch so kleine Geschenk, was zu geben und zu haben ist, möchte ich entgegennehmen, weil je mehr ich habe, um so mehr vermehrt sich mein Wissen. Mit schönen Ringen, prächtigen Armbändern und Ohrgehängen und mit anderen Schätzen werde ich richtig als weise erkannt und in den feinen Ursachen unterscheide ich alles richtig.

 

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Zwietracht

Und ich sah eine Gestalt, die mit hochgereckten Füßen in der erwähnten Finsternis hing. Sie hatte ein Leopardenhaupt, während der übrige Körper einem Skorpion glich. Und sie wandte sich gegen Süden und Westen und sprach:

Den Osten verleugne ich und den Süden will ich nicht. Denn der Ost will alles haben, der Süden aber alles festhalten. Was nun werden West und Nord in Besitz halten? Das Morgenlicht, das die strahlende Sonne hält, leuchtet rötlich auf, der Westen aber trägt nur Finsternis. Und kann der Norden etwas machen? Ja, er kann! Denn die Finsternis verdüstert die Sonne, während die Sonne nicht an die Finsternis herankommt, um sie zu verscheuchen. So behält jeder Teil für sich seine eigene Stärke. Der Norden hält fest, was in der Finsternis bewegt wird.

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V. Wo und worauf es ankommt
Entfaltung und Ziel des Weges (Tafel 31 – 35)

Die letzte Wegstrecke markieren Haltungen, die mit kleinen Varianten an vorherige Gotteskräfte mit ihren Lasterpaaren erinnern. Dadurch entwickelt sich ein spiralartiger Prozess, wo keine Leistung in dem Sinne erwartet wird, dass man immer größere und bessere Tugenden hervorbringt. Ausschlaggebend ist das Unterwegssein, das vom Ursprung und vom Ziel gehalten wird. Mit einer Zielrichtung auf dem Weg zu sein, verlangt eine Beständigkeit, die vor jeder Art von Unbeständigkeit und Umherschweifen bewahrt. Die Beständigkeit hebt den Zustand des Auf-dem-Weg-Seins nicht auf, aber gibt für dieses noch nicht vollendete irdische Dasein Heimat und Bleibe, wenn nicht anderswie, dann als Geborgenheit in der Sehnsucht nach der ewig bleibenden Stätte. Weiterlesen

Spottsucht

An der ersten Erscheinung bemerkte ich, dass sie vom Scheitel des Kopfes bis zu den Hüften die Gestalt eines jungen Mannes hatte, von den Hüften abwärts aber die Form eines Krebses, so nämlich wie ein Krebs vom Kopf abwärts gestaltet ist. Sie trug schwarzes Kopfhaar, während der übrige Körper ganz nackt war. Und sie sprach:

Netze will ich ausspannen mit meinen Worten und alles einfangen, was ich nur kann. Je mehr ich fange, um so mehr habe ich in meinem Besitz. Denn auf diese Weise vermehre ich mein Ansehen, so dass alle bei meinem Wort schon von mir erröten.

 

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Umherschweifen

Und ich sah eine weitere Gestalt … Sie hing in der geschilderten Finsternis in einem Tuche wie in einer Wiege, die vom Winde hierhin und dorthin geschaukelt wurde. Und sie sprach:

Drum bin ich nun mal so, mit all meiner Gescheitheit und Gewitztheit, bin wie dieses Gras, komme in meiner Schönheit zur Blüte und zeige mich hier wie dort und überall in voller Deutlichkeit.

 

 

 

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Magische Kunst

Die dritte Gestalt hatte den Kopf eines Wolfs und den Schweif eines Löwen, während der übrige Körper einem Hund glich … Ein außergewöhnliches Getöse der Winde brauste auf in ihren Ohren, auf das diese Gestalt eifrig hinhorchte, um herauszubekommen, was das wohl sei und woher es käme. Sie jauchzte ihm zu, als wenn dies Götter wären. Darauf hob sie ihren rechten Vorderfuß hoch und stemmte ihn gegen diesen gewaltigen Wind, der vom Norden her wehte, während sie mit dem linken Vorderfuß das Schnauben der Winde aus den Elementen an sich zog. Und sie sprach:
Von Merkur und anderen Philosophen möchte ich manches erzählen. Mit ihren Forschungen haben sie die Elemente derart unterjocht, dass sie alles, was sie nur wollten, mit Sicherheit entdeckten. Solches konnten die äußerst kühnen und besonders klugen Männer teils mit Gottes Hilfe, teils aber auch über die bösen Geister ausfindig machen. Und was har es ihnen geschadet? So gaben sie sich auch selber die Namen von Planeten, weil sie von Sonne und Mond wie auch über die Gestirne große Weisheit und zahlreiche Erfindungen erhielten. Ich aber, ich herrsche und befehle in diese Künsten soweit ich nur will. Weiterlesen