Zeitgenössische Darstellungen zum „Liber vitae meritorum“

Hochmut

Die erste Gestalt hatte das Gesicht einer Frau, deren Augen im Feuer brannten, während die Nase vor Dreck strotzte und der Mund geschlossen war. Arme aber und Hände hatte sie nicht, vielmehr ragte an jeder Schulter der Flügel einer Fledermaus heraus, und zwar so, dass der rechte Flügel gegen Osten, der linke aber nach Westen zeigte … Und die Gestalt sprach:

Über den Bergen schreie ich. Wer ist´s, der mir gleichen könnte? Ich breite meinen Mantel über die Hügel und Felder und will nicht, dass auch nur eine mir Widerstand leiste. Ich weiß, dass keiner mir ähnlich ist.

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Neid

Ich sah eine zweite Gestalt, ganz scheußlich im Aussehen. Kopf und Schultergürtel samt den Armen glichen einem Menschen; anstatt der Hände aber trug sie die Klauen eines Bären … Ihr Kopf war feurig, und sie stieß Flammenlohen aus ihrem Mund. Andere Kleider trug sie nicht; sie hüllte sich vielmehr ganz in die erwähnte Finsternis … Und die Gestalt sprach:

Meine Redensarten entsende ich wie Pfeile im Dunkeln, und alle, die sich gerecht im Herzen nennen, verletze ich. Meine Kräfte sind wie der Nordwind. Alles, was ich besitze, werde ich dem Haß überliefern; denn dieser stammt von mir ab, und er ist geringer als ich.

 

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Eitle Ruhmsucht

Die dritte Erscheinung hatte die Gestalt eines Menschen, nur dass ihre Hände stark behaart waren und Füße und Beine den Beinen und Füßen eines Kranichs glichen. Auf dem Kopf trug sie eine Mütze, die aus Grashalmen geflochten war, und war schwarz gekleidet … Und sie sprach:

Alle Gründe untersuche ich auf das genaueste, und ich bin mein eigener Zeuge dafür, dass ich sie in meiner Rechtschaffenheit aufs beste begreife. Wie würde es deswegen in Ordnung sein, wenn ich die Ehre in dem brach liegen lassen würde, was ich sehe und was ich erkenne? Ich vertraue sogar darauf, dass ich in meiner Fähigkeit durch die Dörfer und Straßen fliegen kann, wie die Vögel, die in den Wäldern wohnen und singen, was sie nur wollen.

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Ungehorsam

Die Gestalt bewegte sich Hals über Kopf hierin und dorthin, als würde sie von einem Sturmwind geschaukelt und geschüttelt, wobei sie die erwähnten Finsternisse in Unruhe versetzte. So wandte sie sich dem Norden zu und stieß eine starke Feuerlohe aus ihrem Munde. Und sie sprach:

Warum huldigen wir den Befehlen anderer? Wenn wir so handeln, dann sehen wir nicht und noch erkennen, was wir sind. Wir treten als die rechtmäßigen Philosophen auf, und wir sind weiser als alle anderen. Sollten wir also nicht tun, was wir kennen? Um so mehr sollen wir es tun!

 

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Unglaube

Die fünfte Gestalt hatte wie die Form eines Menschen, mit der Ausnahme des Kopfes, und von den Knien bis zur Fußsohle steckte sie in der erwähnten Finsternis. In ihrem Kopf erschien keinerlei Form, außer dass diese Region überall mit schwärzlichen Augen voll war … Und sie sprach:

Ein anderes Leben kenne ich nicht als dieses hier, das ich sehe und fühle und das ich fassen kann. Welchen Lohn wird mir ein ungewisses Leben geben? Von diesem aber kann ich sagen: Das ist da, oder es ist nicht da. Und wenn ich sonst suche und forsche, sehe, höre und erkenne, finde ich das Nichts.

 

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Verzweiflung

Vor dem Angesicht dieser Gestalt erschien wie ein brennender Schwefelberg, ähnlich auch an ihrer rechten und linken Seite stand wie ein gleicher Schwefelberg, der in die erwähnte Finsternis abstürzte, was ein großes Getöse verursachte … Und indem die Gestalt vollends in die Düsternisse untertauchte, rief sie aus:
Ich bin furchtbar erschrocken! Wer könnte mich trösten? Wer könnte mir beistehen, um dieser Katastrophe, die mich zermalmt, zu entreißen? Das Höllenfeuer ist aufgeloht rings um mich her, und Gottes Strafeifer warf mich weg in den Höllenschlund. Was bleibt übrig für mich, wenn nicht der Tod? Keine Freude im Guten habe ich und auch keinen Trost mehr in der Sünde. In der ganzen Schöpfung gibt es nichts Gutes mehr.

 

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Wollust

Die siebente Gestalt hatte wie die Form einer Frau, die auf ihrer rechten Seite lag. Die Beine hatte sie gekrümmt und hochgezogen, so wie ein Mensch dies tut, der es sich auf seinem Lager bequem macht. Ihre Haare waren wie Feuerflammen und ihre Augen weiß wie Kreide … Und sie sprach:
Die Gestalt des Ebenbildes Gottes ziehe ich in den Schmutz, was Gott sehr lästig ist. Und auf diese Weise werde ich alles verderben. Ich bin nämlich ruhmreich und hoch und ziehe alles an mich, was mir erlaubt ist durch die eingegebene Natur, die mir angeboren ist. Warum sollte ich enthaltsam leben und die Gefälligkeiten eines fröhlichen Lebens und der hüpfenden Sinnlichkeit von mir abschneiden? Weiterlesen

Gerechtigkeit und Heiligkeit (Tafel 23 – 30)
Wenn es um Formung und Bildung geht, ist der einzelne Mensch gefragt. Ohne Zweifel ist er der verantwortliche und tatkräftige Verwalter der Tugenden.
Man kann nicht die ganze Welt gerecht machen, wohl aber sein eigenes Herz. Das bedeutet aber nicht, dass Tugendleben ohne Gemeinschaft gelingen kann. Der Mensch gehört in die Gemeinschaft hinein – in die Familie, das Volk, den Freundeskreis, die Klostergemeinschaft. Die Wahrhaftigkeit der Herzensbildung erweist sich in der Gemeinschaft. Weiterlesen

Ungerechtigkeit

Die erste Gestalt hatte einen Kopf wie den eines jungen Hirsches und den Schwanz wie ein Bär, während der übrige Körper einem Schwein glich. Und die Gestalt sprach:

Auf wen soll ich meine Gerechtigkeit setzen? Auf keinen! Würde ich nämlich immer nur auf dies oder jenes achten müssen, so wäre ich kein Geschöpf Gottes mehr, sondern ein Esel, der träge dahertrottet, solange ihn nicht die Peitsche treibt.

 

 

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Stumpfsinn

Die zweite Gestalt trug ein kindliches Gesicht unter weißen Haaren. Sie war mit einem ausgebleichten Hemd bekleidet … Und sie sprach:

Ich finde in der Bequemlichkeit und bei meiner Flucht vor aller Arbeit ein besseres Leben als die anderen, und ich will keine Mühe. Wenn ich aber solcher Mühsal wie auch anderen Schädlichkeiten aus dem Wege gehe, warum sollte Gott mich just deswegen verderben?

 

 

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