Predigt beim Auferstehungsgottesdienst
am 9. Juli 2016
Sehen, um zu gehen – Gehen, um zu sehen
Wir haben zwei bekannte, fast möchte ich sagen: berühmte Perikopen gehört – die Berufungsvision des Propheten Jesaja (6,1-8) und die Begegnung des Auferstandenen mit Maria von Magdala (Joh 20,11-18). Der alttestamentliche Text ist für den heutigen Samstag in der Leseordnung vorgesehen. Auf den Abschnitt aus dem Johannesevangelium fiel die Wahl, weil Mutter Clementia sich einen österlichen Totengottesdienst gewünscht hat. Diese beiden Lesungen sind somit ungeplant und scheinbar zufällig zusammengetroffen. Doch beim näheren Hinhören wird deutlich, wie sehr sie einander entsprechen und einander ergänzen. Zwei gemeinsame Leitworte verbinden beide Texte: sehen und gehen.
Jesaja sieht den Herrn. Es ist ein im wahrsten Sinn des Wortes majestätischer Anblick: Thron und Tempel, die geflügelten Serafim über dem Herrn und ihr dreifacher Huldigungsruf, der die Herrlichkeit Gottes besingt, das Beben der Türschwellen und der Rauch im Tempel.
Jesaja ist erschüttert bis ins Mark: Weh mir, ich bin verloren! Er erschrickt nicht nur über den Anblick, sondern vor allem über sich selbst. Zu groß ist der Abstand zwischen dem, den er sieht, und dem, der er ist: Ich bin ein Mann mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den Herrn gesehen. Er fühlt sich nicht überfordert, sondern sozusagen über-beschenkt. Sein Zögern im Blick auf die eigene Person wird nicht verharmlost, sondern ernstgenommen. Im Bild der glühenden Kohle, die seine Lippen berührt, erfährt er Reinigung und Vergebung.
Mit geläutertem Herzen hört er die Frage Gottes: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Er wagt zu antworten: Hier bin ich, sende mich! Jesaja hat etwas von der Herrlichkeit und von der Gnade Gottes gesehen. Darum will er jetzt für diesen Gott gehen und sich von ihm in Dienst nehmen lassen: Sehen und gehen.
Was Jesaja sehen durfte, war für zu viel für ihn. Maria von Magdala sieht zu wenig – weinend steht sie am leeren Grab, und die beiden Engel, die sie sieht, können ihr nicht über ihren Kummer hinweghelfen: Man hat meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat. Als sie sich umdreht, sieht sie Jesus. Doch sie erkennt ihn nicht, denn was sie sieht, ist so unscheinbar, dass sie die Gestalt, die vor ihr steht, für den Gärtner hält. Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. Erst als Jesus sie mit Namen anspricht, weiß sie, wen sie da sieht. Wie bei Jesaja wird die Begegnung zur Berufung und Sendung: Geh zu meinen Brüdern! Und als erste verkündet sie die Osterbotschaft: Ich habe den Herrn gesehen.
Sehen und gehen: In dieser Spannung steht auch unser Leben und unser Glaube. Wir sind Augen-Menschen, darauf angewiesen, dass wir etwas sehen. Manchmal ist zu groß, was wir zu sehen bekommen, und wir erschrecken darüber, weil wir uns dann so klein vorkommen. Manchmal sehen wir zu wenig oder gar nichts und verlieren den Sinn und den Mut. Doch auch uns fragt Gott: Wen soll ich senden? Auch uns ruft er beim Namen, und wir können antworten mit unserem Leben, dürfen ihn entdecken und bezeugen.
Mutter Clementia hat etwas geahnt vom herrlichen Geheimnis Gottes. Ein Zugang war für sie von Anfang an die Musik. Als ihr bei den Jugendwochen in Maria Laach etwas aufging von der Schönheit des benediktinischen Lebens, ist sie nach Eibingen gegangen. Schon früher hatte sie sich in Dienst nehmen lassen, als ihr nach dem frühen Tod der Mutter die Sorge für die jüngeren Geschwister zufiel. In Eibingen diente sie als Infirmarin ihren Mitschwestern und damit dem Herrn, der sich gerade in den Kranken und Hilfsbedürftigen verbirgt und zeigt.
Als sie in einer schwierigen Landschaft im Jahr 2000 zur Äbtissin gewählt wurde, hat sie noch einmal gesagt: Hier bin ich, sende mich! Wie Maria von Magdala hat sie Gott gesucht und gefunden in den oft unscheinbaren und manchmal auch aufreibenden Aufgaben und Begegnungen, die ihr Dienst mit sich brachte. Sie hat dabei die Spannung ausgehalten und auch erlitten, die schon ihr Name ausdrückt; denn in der Milde – lateinisch clementia – liegen ja eine Güte, die nicht schwach, und zugleich eine Kraft, die nicht hart ist.
In ihrer schweren Erkrankung hat Mutter Clementia ganz neu Ausschau gehalten nach dem Herrn. Sie hat gelernt, ihren Tod österlich zu buchstabieren. Sehen und gehen: Wir hoffen mit ihr und für uns, dass am Ende des Wegs die Reihenfolge sich umkehrt und der letzte Schritt vom Glauben hinüberführt zum Schauen: Gehen, um zu sehen.
Abtpräses Dr. Albert Schmidt OSB, Beuron
am 9. Juli 2016