Tagebuch führen mit der Benediktsregel

 Ein persönlicher Weg zum Kennen- und Lebenlernen der Regula Benedicti

Im Folgenden berichte ich hier von einem persönlichen Weg berichten, der für mein geistliches Leben prägend geworden ist. Ich tue es gern, denn ich wünsche mir nichts so sehr, als dass möglichst viele Geschmack an diesem Weg finden, ihn als Möglichkeit entdecken, die Benediktsregel kennen-, lieben- und leben-zu lernen. Es ist der Weg eines Tagebuches mit der Benediktsregel. Ich gehe diesen Weg nunmehr seit fast 20 Jahren und immer noch entdecke ich Neues und Überraschendes auf diesem Weg.

Bevor ich von diesem meinem Weg erzähle und die einzelnen Schritte ganz praktisch beschreibe, komme ich nicht umhin, ein paar grundlegende Gedanken vorzutragen. Ich möchte dies in drei Schritten tun:

A: GRUNDLEGUNG

  • „Höre und erfülle“

Die Kenntnis der Benediktsregel gehört für uns, die wir in der Nachfolge des heiligen Benedikt stehen – ob als Mönche und Nonnen oder als Oblaten und Oblatinnen – , zu den unverzichtbaren Grundlagen unseres geistlichen Lebens. Benedikt selbst legt uns diese Kenntnis seiner Regel und seiner Weisung gleich an mehreren Stellen nahe.

„Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat.“ (RB, Prolog 1)

Schon im ersten Satz des Prologs lädt uns der heilige Benedikt ein, mit offenem Ohr und geneigtem Herzen auf das Wort der Hl. Schrift und auf die Stimme des göttlichen Vaters zu hören.  Gleichzeitig, sozusagen zwischen den Zeilen, lädt er uns aber auch ein, seinem Wort und der Weisung seiner Regel zu lauschen. Offenheit und Bereitschaft sind es, die uns auszeichnen sollen – ein Leben lang. Dass es nicht nur beim Hören bleibt, sondern dass das Hören ins Handeln übergehen und sich im konkreten Lebensvollzug inkarnieren muss, wird ebenfalls bereits in diesem ersten Vers deutlich. Höre und erfülle – obsculta … et efficaciter comple. Damit ist der Rahmen für die geistliche Lesung der Heiligen Schrift, aber auch für die geistliche Lesung der Regel abgesteckt.

Im 58. Kapitel über die Aufnahme der Brüder wird es dann ganz praktisch.

„Wenn er [der Novize] – (und da dürfen und sollen sich m.E. auch die Anfänger auf dem Weg zur Oblation angesprochen wissen) – verspricht, beharrlich bei seiner Beständigkeit zu bleiben, lese man ihm nach Ablauf von zwei Monaten diese Regel von Anfang bis Ende vor…(RB 58,9)

Wenn er noch bei seinem Entschluss bleibt, liest man ihm nach vier Monaten dieselbe Regel wieder vor.“ (RB 58, 13)

Nach Ablauf von sechs Monaten lese man ihm die Regel erneut vor: Er soll wissen, was der Eintritt für ihn bedeutet. (RB 58, 12)

Dreimal also – jeweils im Abstand von zwei Monaten – soll dem Novizen die ganze Regel vorgelesen werden. Das Vorlesen der Regel schließt dabei gemäß altkirchlicher und monastischer Tradition ganz selbstverständlich auch die Auslegung des Textes durch den Vorlesenden mit ein.

In RB 66,8 empfiehlt Benedikt dann allen Mönchen – nicht nur den Novizen – die regelmäßige Lektüre der Regel – mit dem Ziel, diese wirklich und wahrhaftig kennen zu lernen: „Wir wollen, dass diese Regel öfters in der Klostergemeinde vorgelesen wird, damit sich keiner mit Unkenntnis entschuldigen kann.“

Eine letzte Stelle sei in diesem Zusammenhang genannt. Im ersten Vers des letzten Kapitels 73 sagt uns Benedikt:

„Diese Regel haben wir geschrieben, damit wir durch ihre Beobachtung in unseren Klöstern eine dem Mönchtum einigermaßen entsprechende Lebensweise oder doch einen Anfang im klösterlichen Leben (initium conversationis) bekunden.“ (RB 73,1)

Die Regel ist also für Anfänger geschrieben. Und Anfänger sind und bleiben wir alle, ein Leben lang. Unser Gelübde der Conversatio morum ebenso wie unser Oblationsversprechen, nach der Weisung des Evangeliums zu leben, gewährt uns eben diesen immer neuen Anfang. Das ist tröstlich und lädt uns Tag für Tag neu zum Aufbruch ein, die Regel durch eine entsprechende Lebensweise lebendig werden zu lassen.

Schon in der Regel selbst ist also, um diese einleitenden Bemerkungen zusammenzufassen, die regelmäßige Lesung und Betrachtung des Regeltextes vorgesehen, ja ausdrücklich empfohlen. Die Regel ist nach der Heiligen Schrift das Fundament unseres Lebens. Sie gibt uns Weisung und Orientierung, sie leitet und begleitet uns durch die Fährnisse unseres Lebens und führt uns – wenn wir uns auf diesen Weg einlassen – vielleicht nicht geradewegs, so aber doch kontinuierlich bis ans Ziel, bis hin zu einem immerwährenden Leben in der Gegenwart Gottes.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort aus der Altväterliteratur anfügen. Abbas Poimen sprach: „Die Natur des Wassers ist weich, die des Steines hart – aber der Behälter, der über dem Steine hängt, lässt Tropfen für Tropfen fallen und durchlöchert den Stein. So ist auch das Wort Gottes weich, unser Herz aber hart. Wenn nun aber ein Mensch oft das Wort Gottes hört, dann öffnet sich sein Herz für die Gottesfurcht.“ (Apophtegmata Patrum – Weisung der Väter, 757)

Dasselbe gilt, davon bin ich überzeugt, auch für das Wort, das Benedikt uns in seiner Regel zugesprochen hat.

  • „Nur der Geist macht lebendig“

Eine zweite grundsätzliche Vorbemerkung: Wie wir wissen, ist die Benediktsregel ganz und gar durchtränkt und durchdrungen von biblischem Geist. Sie ist erwachsen aus einer zutiefst persönlichen, inneren und innigen Vertrautheit mit der Heiligen Schrift und will nicht mehr, aber auch nicht weniger sein als eine Inkarnation der großen Werte des Evangeliums. Insofern dürfen wir davon ausgehen, dass die Lesung und Betrachtung der Benediktusregel sowohl inhaltlich als auch methodisch eng verwandt ist mit der Lectio divina, der Geistlichen Schriftlesung.

Die Lectio divina möchte uns immer mehr im Geist Jesu Christi formen und prägen. Ebenso möchte uns auch die tägliche Lesung der Benediktusregel immer tiefer hineinziehen in den Geist unseres Ordensvaters Benedikt. Sein Wort und sein Beispiel wollen unser Leben gestalten, sie wollen uns nach und nach verwandeln und so ganz konkret in unserem Leben wirksam werden.

Je tiefer wir dabei – wie bei der Lesung der Heiligen Schrift – in die Geheimnisse Gottes und dessen, den er sich zum Werkzeug ernannt hat, eindringen, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Mehr in uns. Wir möchten mehr und mehr erkennen, immer tiefer verstehen und  immer hingebungsvoller lieben. Der hl. Benedikt sagt es uns selbst: magis ac magis in Deum proficere – mehr und mehr in Gott hinein schreiten –  IHM näherkommen, uns IHM angleichen (RB 62, 4). Das ist das Geheimnis unseres Lebens – als Mönche und Nonnen und als Oblaten und Oblatinnen

Um diesem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen, müssen wir lernen, hinter dem  Buchstaben  den Geist zu entdecken – jenen Geist, der uns bewegt und der die Worte zu Worten des Lebens, zu Worten meines ganz persönlichen Lebens macht. Lesen und Leben gehören hier also untrennbar zusammen. Die Regel will vom Lese-Buch zum Lebens-Buch werden. Wenn wir uns auf diesen – zugegebener weise auch oft  mühsamen – Weg einlassen, dann werden wir erfahren, dass Gott selbst durch den hl. Benedikt zu uns spricht und dass wir aufgerufen sind, IHM mit unserem Leben zu antworten. Gott öffnet uns gleichsam sein Herz und lädt uns ein, in sein Herz hineinzuwachsen. So kann die Lesung der Regel am Ende zum Gebet werden, zu einer innersten Begegnung zwischen uns, die wir Gott suchen und Gott, der uns immer schon entgegenkommt. Es entsteht dann eine Art Trialog: zwischen Gott und dem heiligen Benedikt, zwischen mir und dem Benedikt und letztlich eben auch zwischen mir und Gott. Begegnung geschieht da, lebendiger Austausch, Communio.

Freilich nur dann, wenn die Lesung ganz und gar zweckfrei und absichtslos geschieht und allein darin besteht, die Botschaft zu hören und zu schmecken. Der heilige Bernhard von Clairvaux hat in seinem Kommentar zum Hohenlied über die Liebe gesagt: „Die Liebe sucht ihre Berechtigung nicht außerhalb ihrer selbst… Die Liebe ist ihr eigener Verdienst und ihr eigener Lohn; sie sucht keine Ursache außerhalb ihrer selbst und kein anderes Ziel als die Liebe selbst. Die Frucht der Liebe ist die Liebe.“ (Sup Cant. 83,4)

Genau so könnten wir es von der geistlichen Lesung sagen. Bei ihr geht es immer mehr um ein Verkosten als um Studieren, mehr um Staunen als um Erörtern, mehr um Weisheit als um Wissen. Man sieht nur mit dem Herzen gut – sagte einst Antoine de Saint-Exupéry. Man darf dieses Wort wohl auch abwandeln: man liest nur mit dem Herzen gut. Denn es geht darum, den verborgenen Geist zu schmecken, der den Buchstaben beseelt und der allein lebendig macht. Nur wenn uns das gelingt, finden wir zum Einklang mit dem Gelesenen und mit uns selbst und können Antwort geben auf das Wort – und zwar mit unserem ganzen Leben.

  • „Verstehst du auch, was du da liest“

Eine dritte Vorbemerkung möchte ich mit der Frage des Apostels Philippus an den äthiopischen Kämmerer überschreiben. „Verstehst du auch, was du da liest“, das ist die ‚Gretchenfrage‘ schlechthin – zumal für uns heute, da die Benediktsregel inzwischen nahezu 1500 Jahre alt ist und bisweilen meilenweit entfernt zu sein scheint von dem, was unser Leben heute ausmacht und trägt.

Der Dialog der Liebe, den wir in der Regellesung pflegen möchten, gerät für uns also immer wieder auch auf den Prüfstein, vor allem dann, wenn wir eben nicht oder nicht sofort verstehen, was wir da lesen. Unterscheiden wir hier zunächst zwischen dem äußerem und dem inwendigen Verstehen. Das äußere Verstehen, d.h. philologische Fragen, die Quellen, Hintergründe, Zusammenhänge und Zeitbedingtheiten der Texte können uns durch gute Regelkommentare (vor allem auch durch den Quellenband zur Regel) verdeutlicht werden. Es gibt inzwischen viele gute Kommentare, wie wir alle wissen – ich brauche sie hier nicht im einzelnen zu benennen. Sie alle können uns helfen, das Äußere zu verstehen, zu  deuten und richtig einzuordnen. Deshalb sind sie wichtig und notwendig und wir alle sollten sie ganz bewusst und regelmäßig zur Hand nehmen.

Doch ein noch so guter Kommentar kann, wie ich meine, das Eigentliche, das Wesentliche nicht ersetzen. Der Kern des Ganzen spielt sich wie oben bereits gesagt auf einer anderen Ebene ab, auf der, die uns existenziell und in unserer ganzen Person erfassen möchte.

Einen wichtigen Schritt näher kommen wir diesem Kern, wenn wir das Glück haben, erfahrenen Meistern des geistlichen Lebens zu begegnen, die uns die Regel vorleben und uns auch ihr eigenes inneres Ringen mit dem Text und seinem Anspruch nicht vorenthalten. Solche geistlichen Mütter und Väter gab es zu allen Zeiten und gibt es Gott sei dank auch heute. Doch sie erwachsen nicht von selbst. Um es mit einem Wort von Heinz Schürmann zu sagen: „Gott lässt begnadete Seelenführer in dem Maße erstehen, wie sie gesucht und gebraucht werden.“ Schon die Altväter der Wüste haben sich nicht selbst zum Lehrer ernannt, sondern wurden gesucht und gezielt um Weisung gebeten. Haben wir also ruhig den Mut, aktiv auf die Suche zu gehen nach einem Menschen, der die Regel zu leben versucht und darin bereits eine gewisse Erfahrung hat. Und haben wir umgekehrt auch den Mut, Zeugnis zu geben von unserem persönlichen geistlichen Weg, wenn andere uns darum bitten. Wir können einander zum Vorbild werden und uns den Weg weisen. Vom Abt sagt Benedikt: „Er zeige mehr durch sein Beispiel als durch Worte, was gut und heilig ist“ (RB 2, 12). Das gute Beispiel wiegt mehr als tausend Worte. Das wissen wir alle. Und gerade im geistlichen Leben erscheint es mir lebensnotwendig zu sein.

Schließlich und keineswegs zuletzt sei auf eine, wenn nicht die untrügliche Hilfe zum Verstehen der Heiligen Schrift wie auch der Benediktsregel hingewiesen: das Gebet. Schon der große Origines schrieb einst in seinem Brief an Gregor Taumaturgus, 4: „Wer nicht findet, was er sucht, wer den gelesenen Text nicht versteht, muss Gott anrufen und ihn bitten, ihn erkennen zu lassen; so wird die Lesung zum Gebet, denn es ist absolut notwendig zu beten, um die göttlichen Dinge zu verstehen.“ Im Prolog der Regel schreibt uns Benedikt Ähnliches ins Stammbuch: „Sooft du etwas Gutes zu tun beginnst, bitte zuerst inständig darum, dass er es vollende.“ (RB Prolog 4) Dies gilt sicher für alles, was wir tun, zuerst und vor allem aber für die geistliche Lesung. Nur der Herr selbst kann unsere tauben Ohren öffnen und unsere verhärteten Herzen geschmeidig machen. Nur er selbst kann uns auch im Tiefsten den Sinn und die Bedeutung eines Textes für unser persönliches Leben eröffnen.  „Effata“ – öffne dich. Das ist der Ruf, dem wir uns Tag für Tag anschließen sollten, wenn wir mit der Lesung beginnen

  1. Mein Weg mit dem persönlichen Regel-Tagebuch
  • Zur Genese

Wie so oft im Leben entstand die Idee, ein Regel-Tagebuch zu führen, aus einer äußeren „Notsituation“ heraus. Noch während des Noviziates ergab sich für mich die Notwendigkeit, ein halbes Jahr als Assistentin unserer Hildegard-Forscherin Sr. Angela übersiedeln zu müssen in die Abtei Maria Laach. Dort, sozusagen auf einsamem Außenposten, weit weg vom Noviziatsbetrieb und den Regelkonferenzen unserer Schwester Magistra, begab ich mich auf die Suche nach einem Geländer, das mir im „Exil“ Halt und Orientierung geben konnte. Schon bald kam ich auf die Idee, zusätzlich zur normalen Lectio Divina am morgen eine abendliche feste Zeit der Lectio Regulae zu etablieren. Angeregt durch den Regelkommentar von Abt Denis Huerre, der zu jeder Tageslesung aus der Regel jeweils kurze, prägnante und zum Teil sehr persönliche Texte enthält, begann ich am 2. Mai 1992 mit meinem Regel-Tagebuch. Traditionsgemäß beginnt am 2. Mai jeden Jahres in unseren Klöstern der zweite Jahreszyklus der Regellesung, so dass ich mit Vers 1 des Prologs beginnen konnte.

Schon nach einigen Wochen bildeten sich ein fester Ablauf und klare methodische Schritte heraus, die ich bis heute weitgehend beibehalten habe. Zunächst suchte ich mir einen Ort, konkret einen Tisch, der nicht mein Schreibtisch war, an dem ich ansonsten zu arbeiten pflegte. Ich erbat mir eine schöne Tagebuch-Kladde und eine Kerze und begann mit meiner ersten Regel-Tagebuch-Lesung.

  • Methodische Schritte

2.1.  Zu einer bestimmten immer gleichen Zeit am Tag und an einem bestimmten Ort, den ich mir einmal für immer gewählt habe, zünde ich eine Kerze an und nehme die Regel zur Hand.

2.2.  Zuerst spreche ich ein kurzes Gebet oder auch ein Stoßgebet wie das Wort „Effata – öffne dich – Herr, öffne du selbst mein Ohr und mein Herz!“.

2.3. Danach lese ich den jeweiligen Tagesabschnitt der Regel als Ganzes langsam, Wort für Wort, halblaut vor mich hin. Ich betrachte den Text und denke zunächst darüber nach, was der Kerngedanke des heiligen Benedikt und die Grundaussage dieses Abschnitts sein könnte.

2.4. Dann lese ich den Text ein zweites Mal – diesmal leise. Ich verkoste den Text in aller Ruhe, betrachte  ihn mit weit geöffneten Herzen. Ich stoße meist schon hier auf eine Sequenz, auf ein Wort oder auf einen Gedanken, der mich persönlich in besonderer Weise anspricht oder herausfordert. Dort verweile ich. Dann schreibe ich den entsprechenden Satz, Teilsatz oder auch nur ein einziges Wort des Regeltextes in mein Tagebuch. Hinzu füge ich das Datum des jeweiligen Tages.

2.5. Nun lasse ich mich von diesem ausgewählten Text tief in meinem Inneren ansprechen. Was bedeutet dieses Wort hier und heute für mein ganz persönliches Leben? Kann ich es einlösen oder steht es in Spannung zu mir? Fühle ich mich bestätigt oder herausgefordert? Was kann und sollte sich ändern in meinem Lebensvollzug, wenn ich dieses Wort ernst nehme?

2.6. Dann schreibe ich auf, was in mir gewachsen oder auch nur hochgekommen ist. Dabei gibt es keine Tabus – ich möchte radikal ehrlich sein vor Gott und vor mir selbst. Manchmal ist es ein Ringen und ein Kämpfen, manchmal eine Ermutigung und ein Trost, manchmal eine Entdeckung oder auch eine ganz neue Erfahrung mit mir selbst.

2.7. Zumeist mündet mein Tagebuch-Eintrag ein in ein Gebet: in Lob oder Dank, Klage, Schrei oder Fürbitte. Auch hier gilt: alles darf sein, alles darf zum Gebet werden. Mit diesem selbst formulierten Gebet oder auch mit einem abschließenden ‚Ehre sei dem Vater‘ endet meine Regel-Lesung. Ich bleibe noch einen Moment in der Stille und wende mich dann nach ca. 30 Minuten ruhig und konzentriert meinem Alltag zu.

Soweit der Ablauf meiner Lectio Regulae in sieben Schritten.

  • Erfahrungen und Früchte

Wenn ich nun ein wenig von meinen Erfahrungen mit dem Regel-Tagebuch berichte, so könnte ich sie in einem Wort zusammenfassen: das Regel-Tagebuch ist für mich zum Lebensatem geworden. Es hilft mir zu leben, ja ist inzwischen untrennbar mit meinem Leben verwoben. Es schenkt mir den Sauerstoff, den ich brauche, um mein geistliches Leben der Christusnachfolge im Geist des hl. Benedikt zu leben. Es gibt meinem Tag Struktur und  Halt. Es verleiht mir Kraft, Ausdauer und Ruhe. Es befruchtet mein Herz und meinen Geist und gibt mir immer neue Nahrung für den Alltag. Es hat mir geholfen, dem hl. Benedikt und seinem monastischen Lebens-Entwurf ganz persönlich nahe zu kommen, ihn tiefer zu verstehen und dieses unser benediktinisches Leben zutiefst lieben zu lernen.

Vor allem aber hat mich das Regel-Tagebuch – darauf möchte ich vertrauen – Gott ein Stück näher gebracht. Es hilft mir, täglich neu zu versuchen, in Seiner Gegenwart zu leben, alles aus Seiner Hand entgegen zu nehmen. Vielleicht, so hoffe ich, hat es mich auch ein kleines Stück wahrhaftiger werden lassen und mir Schritt für Schritt ein Gespür dafür vermittelt, wer ich bin vor Gott und andererseits, wer Gott ist für mich.

Das Regel-Tagebuch hat mich auch mir selbst ein Stück nähergebracht. Es hat eigene, längst vergessene Lebenserfahrungen, manchmal auch Lebenswunden, ans Licht gebracht und sie einem langsamen Prozess der Heilung unterzogen. So hat das Regel-Tagebuch mein Leben verändert. Es hat sicher auch mein Verhältnis zu den anderen, zu meinen Mitschwestern, zu meiner Gemeinschaft, zu meinen Freunden und den mir anvertrauten Menschen geprägt.

Dies alles will nicht heißen, dass der Weg nicht oft auch steinig und mühsam war. Aller Anfang ist und war auch bei mir schwer. Nicht selten überkommt einen das Gefühl des Längst-Bekannten, der Langeweile, des Überdrusses – wir alle kennen das berühmt-berüchtigte Laster der Acedia. Dann gab es auch dunkle und schwere Zeiten, Zeiten der Überforderung – Tage und Wochen  – da kaum ein Eintrag in mein Tagebuch möglich schien. Auch das darf sein, denke ich. Manch leere Seite oder leere Daten zeugen heute noch davon. In solchen Zeiten war und ist es für mich wichtig, trotz aller inneren Widerstände dennoch irgendwie dabei zu bleiben – die Regellesung nicht aufzugeben, auch wenn das Niederschreiben vielleicht schwer fällt. „Die Treue ist der Preis dafür, dass man zum Wesentlichen durchstößt“, hat Ruth Pfau, die bekannte Ordensfrau und Lepraärztin mir einmal gesagt. Das gilt für das geistliche Leben insgesamt, im Besonderen aber, wie ich meine, für die Lectio divina und die Lectio regulae.

Wenn ich heute mein Bücherregal anschaue, dann finde ich darin viele vollgeschriebene Kladden, hinter denen sich mein geistlicher Lebensweg verbirgt – mit all seinen Kreuzungen, mit seinen Umwegen, mit seinen Stolpersteinen, mit seinen Wüsten und manchmal schier unüberwindlich scheinenden Gebirgen, aber auch mit all seinen Oasen und Höhenerfahrungen, mit Freudenzeiten und unverdienten Glücksmomenten. Den meisten Raum, das sollten wir ganz nüchtern sehen, nimmt das Alltägliche ein. Das hat nichts mit Mittelmäßigkeit zu tun, wohl aber vielleicht mit Mitte und Maß. Auch solche „Discretio“ will immer neu errungen werden, gerade in unserer Zeit, die zum Extremen und zum Ultimativen neigt. Bodenhaftung ist unter Umständen schwerer zu gewinnen als Exstase. Der schmalste Grat ist immer der mittlere Weg, der des Alltags. Aber hat nicht der Herr selbst seinen Jüngern verheißen: „Geht voraus nach Galiläa, dort werdet ihr mich sehen“

Eine weitere Erfahrung mit dem Regel-Tagebuch: Manchmal blättere ich auch zurück, nehme eine alte Kladde zur Hand, um zu schauen, was ich mir zu einer Regelstelle vor zwei Jahren, vor fünf Jahren oder gar vor zehn Jahren notiert habe. Eine lineare Entwicklung findet sich da nicht, wohl aber viele verschiedene Aspekte und Sichtweisen – auch manches Zeitbedingte natürlich. Wichtig aber ist mir, dass auch Regelstellen oder – kapitel, die auf den ersten Blick vielleicht eher marginal zu sein scheinen, mit der Zeit an Leuchtkraft gewinnen. Manche Muscheln öffnen sich eben erst mit der Zeit und lassen ihre Perlen nur langsam sichtbar werden. Wichtig sind auch hier Geduld und Treue und die Offenheit, sich immer wieder neu überraschen zu lassen von diesem Regeltext. „Die Geduld“, so hat Gabriel Marcel einmal gesagt, „ist der Sieg über die Zeit und lässt uns schon hier einen Hauch von Ewigkeit erfahren“. Wenn eine solche Erfahrung die Frucht langen Regel-Tagebuch-Schreibens ist, dann hat es sich meines Erachtens gelohnt.

Eine letzte Erfahrung möchte ich nicht vorenthalten. Ich hatte das unverdiente Glück, dass mich über viele Jahre lang mit einer meiner Mitschwestern eine geistliche Freundschaft verband. Diese Freundschaft hat mich vieles gelehrt. Wir haben seinerzeit unabhängig voneinander, also parallel mit unserem Regel-Tagebuch begonnen. Eines Tages dann haben wir angefangen, im Abstand von drei Monaten (jeweils nach Ende eines Lesezyklus‘) unsere Tagebücher zu tauschen und in dem jeweils anderen mit den Aufzeichnungen fortzufahren. So hat sich für uns eine weitere Ebene der Begegnung über den oben schon beschriebenen Trialog zwischen Gott, dem hleiligen Benedikt und mir selbst hinaus ergeben. Hierdurch kamen noch einmal ganz neue Sichtweisen und Erfahrungen ins Spiel. Diese sind für mich eine große Bereicherung. Ein solches „Verfahren“ setzt natürlich Vertrauen voraus. Solche geistliche Freundschaft kann man nicht machen, sie ist Geschenk. Aber ich möchte jede und jeden ermutigen, nach solchen möglichen Freundschaften Ausschau zu halten und vielleicht einen solchen Schritt zu wagen. Am Anfang allerdings sollte der je persönliche Weg mit dem Regel-Tagebuch stehen. Der Weg mit einem anderen gemeinsam kann dann langsam wachsen, wenn Gott es will.

Sr. Philippa Rath OSB