Wenn Johann Wolfgang von Goethe unmittelbar vor seinem Tod, sozusagen in einem letzten Aufschrei, verzweifelt die Worte „mehr Licht!“ in die Welt hinausrief, so wird dies wohl nicht zu Unrecht als Ausdruck schmerzlichster und tiefster Sehnsucht des Sterbenden nach dem Transzendenten bewertet. Bis zum letzten Augenblick seines Lebens hat J.W. von Goethe mit und um Gott gerungen. Am Ende dann der Ruf nach dem Licht, das alle Dunkelheit erhellt, das Hoffnung aufstrahlen läßt und den menschlichen Geist erleuchtet und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.
Von jeher ist das Licht als Chiffre für Gott, als Bild dafür gebraucht worden, das unsagbare Geheimnis sagbar zu machen und die Frage nach dem Grund und Ziel allen Lebens zu beantworten. „Gott ist Licht“, sagt der Evangelist Johannes, und überall da, wo Gott sich in die Geschichte hinein offenbarte, erschien ein überhelles Licht. Licht aber erhellt nicht nur die Finsternis und ermöglicht das wahre Sehen, es spendet und erhält auch Leben, es schenkt Wärme und Heimat und wird damit zum Symbol der Gotteserkenntnis, des Lebens und der Liebe schlechthin.

Begegnung mit dem Licht
Auch das Leben Hildegards von Bingen (1098 – 1179) war bis zu ihrem Tod, bei dem der Legende nach ein strahlendes Licht am Himmel erschienen sein soll, gekennzeichnet vom Licht in all seinen Farben und Schattierungen. Weiterlesen

Hildegard beginnt ihre großen Visionswerke mit den Worten „Vidi et audivi“. Sie reiht sich damit in die Tradition der altestamentlichen Propheten und vor allem der apokalyptischen Schau des Sehers Johannes ein. Was aber ist eine Vision? Ein „himmlischen Fernsehapparat“, mit Hilfe dessen Gott der Seherin ihre Werke in die Feder diktierte? Oder gar eine Lichterscheinung infolge eines Migräneanfalls, wie andere behaupten? Die Wahrheit ist, wie so oft, viel einfacher und elementarer.

Werfen wir einen Blick in die Heilige Schrift – das Sehen kommt dort häufig vor, denken Sie nur an die Blindenheilungen, an Zachäus, an die Berufung des Nathanael, an die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das Wort „Vision“ kommt vom lateinischen Wort „videre“ – sehen. Sehen in biblischer Sicht bedeutet nicht zuerst äußeres Sehen und äußeres Wahrnehmen von Wirklichkeit. Sehen in biblischer Sicht bedeutet immer „liebendes Erkennen“, Einsicht in die Wesenheit der Dinge, die Gesamtschau der Zusammenhänge, ja letztlich die Erfahrung des unsagbaren Geheimnisses Gottes in Jesus Christus selbst. In diesem Sinne ist das Sehen eine Art Vorform des jenseitigen Schauens, die beginnhafte Vorausgestalt dessen, was wir gemeinhin als himmlische Glückseligkeit und als endgültige Anschauung Gottes bezeichnen. Gott, der Sehende schlechthin, gibt uns, seinen Geschöpfen, Anteil an seiner Sicht der Dinge und der Welt – und zwar immer dann, wenn wir uns liebend IHM zuwenden, wenn wir SEIN WORT hören und es gläubig annehmen. Sehen und Hören gehören also zusammen: Vidi et audivi – nicht nur bei Hildegard. Im Buch Deuteronomium heißt es: „Das Volk sah das Wort“, und bei Jesaja: „Das Wort, das Jesaja in einer Vision vernommen hat“ (2,1).

Die alten Mönchsväter nannten solche Art des Sehens und Hörens Kontemplation. Wichtig ist dabei zunächst, daß wir es nicht „machen“ können, so wie wir auch die Liebe nicht machen, sondern nur als Geschenk empfangen können. Es gibt keine „Technik“, deren korrekte Anwendung uns bereits den gewünschten Erfolg der Kontemplation beschert. Wir können uns nur bereiten, können offen sein für das Geschenk der Gnade – und dies überall und in jedem Augenblick unseres Lebens. Und, was ebenso wichtig ist, wir können uns ein-üben, Gottes Wort zu hören und alles mit seinen Augen zu sehen. Nichts anderes wollen Exerzitien sein – eine Einübung ins rechte Sehen und Hören.

Die Praxis der frühen Kirche, vor allem die Mönchstradition, lehrt uns den Dreischritt „Lectio – Meditatio – Oratio“ als Weg der Kontemplation. Hildegard hat diesen Weg von früher Jugend an eingeübt und hat so das Sehen gelernt. Anderthalb Jahrtausende lang fanden Menschen in diesem Dreischritt die Quellen ihres Christseins, beruhte auf ihm auch alle theologische Erkenntnis. Hildegard war wohl die letzte Vertreterin dieser sogenannten Monastischen Theologie. Vielleicht kann sie uns gerade deshalb heute wieder helfen, zu den Ursprüngen unseres christlichen Glaubenslebens und damit auch zur unmittelbaren Begegnung mit Gott zurückzufinden.

Betrachten wir also den erwähnten Dreischritt ein wenig näher. In der „Lectio“ wird der Text der Hl. Schrift aufmerksam und ehrfürchtig immer wieder gelesen und „zerkaut“ (ruminatio). In der „Meditatio“ vertieft der Leser den Text und sucht nach seiner inneren Wahrheit. Im Hören auf Gottes Wort dringt er zugleich auch in sich selber ein, und in dem er tiefer in sich selbst eindringt, erschließt sich ihm wiederum der Text. Ein solches Lesen bedeutet ein Neu-Lesen – nicht die Wiederholung eines toten Buchstabens – und ein Neu-Schaffen, denn der Leser war vor der Lektüre noch nicht das, wozu er im Lesen geworden ist. Die Lesung und Verinnerlichung in der Meditation führen ihn dann schließlich in die „Oratio“, in das Gespräch mit Gott. Der Leser erbittet, daß Gott selber ihm den Text erschließt und die wahre Erkenntnis des Wortes schenkt. Nun wird der Leser mit dem Gelesenen innerlich eins. Er ist hineingenommen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott und sieht von daher die Welt, ihr Wesen, ihre Zusammenhänge und sich selbst auf neue Weise. Es geschieht das, was wir Erkenntnis nennen, eine Vertrautheit mit dem Ganzen des Lebens und mit dem Absoluten. Es ist eine von der Liebe umfaßte und in ihr gründende Erkenntnis, die Gott in allen Dingen sieht und alle endliche Wirklichkeit auf die Gegenwart des Unendlichen hin durchsichtig werden läßt. Hier scheint dann etwas auf von der „alle Erkenntnis übersteigenden Erkenntnis“, von der die Heilige Schrift spricht. Erst eine solche Erkenntnis macht den Menschen, macht uns, dann auch zu wirklichen Zeugen, in deren Nähe Gott für andere spürbar wird.

Hildegard war so ein Mensch. In der Kontemplation erschloß sich ihr – wie sie im Vorwort zu ihrem Hauptwerk SCIVIAS schreibt – „der Sinn der Schriften“ und all dessen, was sie gelernt und im Leben erfahren hat. Kontemplation, und das möchte ich hier ganz besonders betonen, ist keineswegs an die Voraussetzung von Klosterzelle und Kreuzgang gebunden. Sie ist ein Weg und ein Geschenk, das Gott für jeden bereit hält. Vielleicht ist es gerade für uns heute besonders wichtig, zu den Quellen des Wortes zurückzukehren, anstatt mehr oder weniger aus Konserven pastoralliturgischer Hilfen zu leben. Lesung, Meditation und Gebet sind unverzichtbare Voraussetzungen gerade für die Verkündigung – sonst wird es dieser bald an Überzeugungskraft fehlen. Nur wenn das Wort erlauscht, aufgenommen, bewahrt und meditiert wird, kann es Propheten erwecken, die Befreier und Wegweiser sind.

SCIVIAS – Wisse die Wege oder Wegweisung – heißt das Hauptwerk Hildegards, das den Menschen ihrer Zeit und auch uns Wege zum Glauben an den dreifaltigen, an den liebenden und barmherzigen Gott eröffnete. Gott, Welt und Mensch – vereint in der Gesamtschau und in der Zeugenschaft des leidenschaftlich liebenden Herzens. Ob wir zu Ähnlichem heute die Kraft und den Mut haben?

Ich möchte Ihnen für eine Zeit der stillen Betrachtung die zweite Miniatur aus dem Buch SCIVIAS empfehlen (dazu Jes Sir 1,9 ff.). Sie trägt den Titel „Der Leuchtende“. Nähehin geht es mir hier um die Tugend der Gottesfurcht, die Hildegard als Gestalt, die über und über mit Augen bedeckt ist, darstellt. Die Gottesfurcht hat nichts mit Angst zu tun, sondern vielmehr mit Ehrfurcht. Sie ist ganz Auge und Ohr für Gott. Gott läßt sich durch die Gottesfurcht erkennen und wird durch sie geschaut. Deshalb ist sie der Anfang der Weisheit, wie es im Buch Jesus Sirach (1,14) heißt. Wer betet, der schaut auf Gott, und Gott schaut auf ihn.

Bitten wir am Schluß Gott: Du hast in der heiligen Hildegard das Verlangen geweckt, deine Größe allezeit liebend zu betrachten und zu preisen. Schenke uns auf ihre Fürsprache Wachstum in der geistlichen Erkenntnis, damit wir im Dunkel das Licht deiner Klarheit erkennen und wach sind für den Augenblick, wo du uns begegnen willst. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Von Sr. Philippa Rath OSB

Hildegard von Bingen, die zwei von ihr gegründeten Frauenklöstern vorstand und als Prophetin ihrer Zeit galt, bezeichnete sich in ihren Werken immer wieder als „einfältige Frau“. Eine sorgfältige Lektüre ihrer Werke dagegen verrät eine hochtheologische, sogar philosophische Bildung dieser Frau, die in den großen Fragen ihrer Zeit gleichrangig neben großen Theologen und Denkern stand.
Aus diesem Grund ist die wissenschaftlich-akademische Interpretation ihres Werkes ein durchaus angemessener Weg der Annäherung. Andererseits sind ihre Aussagen immer an den Menschen gerichtet, der nach Heil verlangt und nach Gott sucht. So führt auch der Weg der meditativen, besinnlichen Lektüre ohne philologische Voraussetzungen zu einem bestimmten Verständnis Hildegards, das für das eigene Leben fruchtbar werden kann. Dazu kommt die Popularisierung der sogenannten Naturheilkunde Hildegards, die einer breiten Schicht von Menschen Zugang zu Hildegard gewährt, diesen aber gleichzeitig auch verschließen kann. Weiterlesen

Die mittelalterliche Medizin und damit auch die Natur- und Heilkunde Hildegards von Bingen war ganz wesentlich geprägt vom Geist der Heiligen Schrift und der Benediktusregel. Diese haben keinerlei Behandlungsmethoden oder Heiltechniken im modernen Sinne überliefert, wohl aber ein Bild des gesunden und des kranken Menschen, konkrete Wege zu einer gesunden Lebensordnung und Lebensführung sowie die Kunde von Heil und Heilung des Menschen.

Hildegards naturkundliche und medizinische Schriften entstanden zwischen 1150 und 1160. Sie sind Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, antiker Überlieferung und benediktinischer Tradition. Weiterlesen

„Himmlisches mit Irdischem verbinden“ – das war zu allen Zeiten die besondere Aufgabe derer, die ihr Leben nach der Weisung des heiligen Benedikt ausrichten. Benediktinerinnen und Benediktiner – als Gesegnete und als Segnende, wie es ihr Name besagt – wollen Brückenbauer sein zwischen Himmel und Erde. In dem sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen und doch zeichenhaft an die eschatologische Dimension des Lebens erinnern, wollen sie mitwirken an der Verwandlung der Welt. Hildegard von Bingen war in diesem Sinne ganz eine Tochter des heiligen Benedikt. In ihrer Person verbanden sich scheinbar unvereinbare Gegensätze zu einer Spannungseinheit, die ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten freisetzte – vor 900 Jahren und auch heute. Weiterlesen

Die Hildegard-Ikonographie im Laufe der Jahrhunderte, mag es sich um Skulptur, Malerei oder Miniatur handeln, weist nur sehr selten Darstellungen auf, die die Meisterin von Rupertsberg und Eibingen in Beziehung zum Wein bringen oder ihr einen Rebstock als Attribut beigeben. Der Bildstock in der Kiedricher Weinbergslage „Heiligenstock“ zeigt somit ein seltenes Motiv, und das mit gutem Grund.

Aus der Tatsache, dass Hildegard die Wirkkraft des Weins zu therapeutischen Zwecken einbezieht, wie ihre heilkundlichen Schriften bezeugen, lässt sich folgern, wie sehr ihr diese geheimnisvolle Pflanzung vertraut gewesen sein muss. Offenbar von Kindheit an, denn ihrer Herkunft nach stammt sie aus dem Geschlecht derer zu Bermersheim, deren Stammsitz nahe bei Alzey lag, – „in einem weiten, von Reben und Korn umgebenen Tal“, wie eine romantische Landschaftsbeschreibung vermerkt. Da sich die besondere Begabung und Begnadung des Kindes Hildegard schon früh zeigte, vertrauten die Eltern, der Edelfreie Hildebert von Bermersheim und seine Frau Mechtild, ihr zehntes Kind der Klausnerin Jutta von Sponheim zur Erziehung an. Weiterlesen