„Dies ist der Tag, den Gott gemacht hat. Darüber wollen wir uns freuen und jubeln!“ Dieses Wort aus Psalm 118 singen wir hier in der Abtei St. Hildegard in Rüdesheim/Eibingen jeden Sonntag in der Frühe. Sie alle sind täglich in dieses Gotteslob eingeschlossen, denn das, so glauben wir, ist unsere Aufgabe: stellvertretend für die ganze Welt vor Gott zu stehen, ihn zu loben, ihm zu danken und für alle Menschen Gottes Segen und Heil zu erbitten.

Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt: Was suchen eigentlich Menschen in einem Kloster? Warum gehen auch heute noch junge Menschen ins Kloster? Was bewegt sie, wie vor ungefähr 1400 Jahren Benedikt von Nursia, ein so ganz anderes Leben zu wählen? Aber was ist da anders? Denn auch Klosterleute sind doch nur Menschen. Bei uns zum Beispiel leben ganz normale, alltägliche Menschen miteinander.
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Ort des Lebens – Ort des Segens 

10 Gebote der Gelassenheit – Werkzeuge der geistlichen Kunst
ein Weg durch unseren Alltag
eine Einladung zum Verweilen im Eilen

„Nimm dir nicht zu viel vor. Es genügt die friedliche, ruhige Suche nach dem Guten: an jedem Tag, zu jeder Stunde, ohne Übertreibung, mit Geduld.“ ( hl. Papst Johannes XXIII.)


Leben

„Nur für heute werde ich mich bemühen, einfach den Tag zu erleben, ohne alle Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

02

Herr,
schenke mir Augen, die weiter sehen
schenke mir Ohren, die tiefer lauschen
schenke mir Gedanken, die unaufhörlich nach dir fragen
schenke mir Menschen, die dich mit mir suchen
und wenn wir dich gefunden haben,
dann blüht unser Mauerwerk auf
im Atemwind deines Geistes
wachsen Trost und Segen,
weil du überall auf uns schaust

 

Werkzeug
Fest überzeugt sein, dass Gott überall auf uns schaut. RB 4,49

apertis oculis nostris

ad deificum lumen
adtonitis auribus audiamus
divina cottidie clamans
HODIE

 

Sorgfalt 

„Nur für heute werde ich mit größter Sorgfalt auf mein Auftreten achten. Ich werde niemanden kritisieren, ja ich werde nicht danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern. Nur mich selbst“

03

sed magis benedicere 

Herr Keuner ging in ein Lebensmittelgeschäft, das sich gleich um die Ecke seines Hauses befand. „Gott zum Gruße“, sagte er beim Eintritt, doch man schenkte ihm nur ein müdes Lächeln. Er habe die Perle im Acker gefunden und wolle ein kleines Fest geben, ob die Herrschaften nicht kommen wollen, fragte er, jeder sei willkommen. Doch man

runzelte nur die Stirn und tat zugleich so, als habe man seine Worte nicht gehört. Mönch zu werden, ja, darüber habe er schon häufiger nachgedacht, mehr theoretisch als praktisch, aber plötzlich habe es ihn dann ergriffen und es lasse ihn nicht mehr los; nein, besser: ER lasse ihn nicht mehr los. Ob jemand der Anwesenden auch so eine beglückende Erfahrung gemacht habe, wollte er wissen, doch man schrie ihn an, er möge endlich still sein. Totenstille trat ein – und Herr Keuner trat aus, um schließlich woanders schweigend einzutreten. Die Perle aber, die ließ er im Acker.

Werkzeug
Von der Liebe nicht lassen. Die uns verfluchen, nicht auch verfluchen, sondern – mehr noch – sie segnen. RB 4,26.32

einmalig
unersetzbar
ähnlich und doch verschieden
zum Verbinden und Ergänzen geschaffen
Geduld ist gefragt und Ausdauer
Sorgfalt
mit dir und mit mir
Puzzleteile im Acker unseres Lebens


 Glück 

„Nur für heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich geschaffen bin, glücklich zu sein, nicht nur für die andere, sondern auch schon für diese Welt.“

04

jubelnde Seele
streck deine Hände aus
grab nach der Quelle
hier ist der Garten
Ölberg und Eden
auch deines Lebens Rosen
wollen hier blühen
Dornwald und Wüste
Manna und Tränen
der Mächtige tut Grosses an uns
heute
hier
auch jetzt
und in der Stunde unseres Todes
stell dich in den Segen
lobpreise den Herrn

Werkzeug
Das ewige Leben mit allem geistlichen Verlangen ersehnen.
Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben. RB 4,46f.

Realismus 

„Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass sich die Umstände an meine Wünsche anpassen.“

05

UM-WÖRTER 

In unserem Alltag benutzen wir viele
Wörter, die mit „um“ beginnen.
Manche dieser „Um-Wörter“ wollen eine
Veränderungen andeuten: Um-zug, Um-schwung, Um-wandlung.

Andere „Um-wörter“ verweisen auf
neue Wegstrecken (Um-wege) und längere Prozesse, die mitunter schmerzhaft verlaufen können: um-gehen, um-biegen, um-erziehen, um-pflanzen, um-leiten.

Aber es gibt auch „Um-wörter“, die selbst in scheinbar un-um-stößlichen Situationen neue Perspektiven eröffnen: Um-verteilung, Um-widmung.

Um-orientierung gelingt freilich nur, wenn aus der neuen Um-schreibung nicht sofort wieder ein neuer Um-stand wird, den man lieber gleich um-schiffen würde.

Ist in unserem Leben denn wirklich alles so vergebens und um-sonst?

Nein!

UM-KEHR – conversatio – ist nicht umsonst, aber dafür „gratis“ – eben voll der Gnade.

Jeden Tag neu!

Werkzeug
Nicht murren. RB 4,39

 Lesen 

„Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen. Wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.“

06

 

Wie treffend, dass es von diesem „Gebot“ gleich zwei Varianten gibt: Lesen und Stille.

Beides liegt auch in unserem Kloster nah beieinander: Bibliothek und Oratorium.

Lectio und Oratio.

In das kleine Heftchen dürfen Empfehlungen geschrieben werden: Leseempfehlungen für das Leben der Seele.

Manchmal liest sie sich spannender als das Buch, das man sich gerade ausleihen möchte: die Leihkarte mit den Namen derer, die schon vor einem dieses Buch gelesen haben.

Leseempfehlungen der stillen Art.

Welcher Reichtum liegt hier verborgen.

Werkzeug
Heilige Lesungen gern hören. RB 4,55

Stille 

„Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit der Stille widmen und Gott zuhören. Wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, so ist das Horchen auf Gott in der Stille notwendig für das Leben der Seele.“

07

Werkzeug
Sich oft zum Beten niederwerfen. RB 4,56

Vorübergang des Herrn
tritt einfach ein
bete
und lass die Welt
vorübergehen

simpliciter intret et oret 


Handeln

„Nur für heute werde ich eine gute Tat vollbringen – und ich werde es niemandem erzählen.“

08

keine Schatten
sondern Licht wirfst du in unser Leben
malst bunte Farbe auf grauen Stein
verwandelst finstere Ecken
in helles Leuchten
zart
verspielt
für Achtsame
nur einen Augenblick
wie leises Säuseln
o Schöpfer der Welt
wie staunenswert
ist dein Blick
für uns
ist dein Atem
in uns
ist dein Antlitz
unter uns
Licht ist gesät
schon keimt es
seht ihr es nicht?
nur einen Augenblick
und das Angesicht der Erde
wird neu

Werkzeug
Arme bewirten.
Nackte bekleiden.
Kranke besuchen.
Tote begraben
Bedrängten zu Hilfe kommen.
Trauernde trösten. RB 4,14-19

Überwinden

„Nur für heute werde ich etwas tun, wozu ich keine Lust habe. Sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür sorgen, dass niemand es merkt.“

09

Mittagshore 

erhitzte Gemüter
neigen das Haupt

die Stirn trägt Wunden
dein Wort lässt heilen
was Worte verletzten

zur Ruhe kommen
die Stille finden

Mitten am Tag
notwendig
Not wendend
heilend

die Stille gefunden
zur Ruhe gekommen

vergebende Worte
dein Wort, das vergibt
alle Schuld dieser Welt

als du dein Haupt neigtest
über erhitzte Gemüter

zur Mittagszeit

Werkzeug
Nicht stolz sein,
nicht trunksüchtig,
nicht gefräßig,
nicht schlafsüchtig,
nicht faul sein. RB 4,34-38

contentus sit monachus


Planen

„Nur für heute werde ich mir ein genaues Programm vornehmen. Auch wenn ich mich nicht genau daran halten werde – ich werde den Tag planen. Ich werde mich besonders vor zwei Übeln hüten: vor der Hetze und vor der Unentschlossenheit.“

10

Danke,

Herr, dass du unser Wollen in ein anderes Licht stellst
und voller Sanftmut
einen zarten Strich
durch unsre Pläne machst.

11

 

 

in aller Gelassenheit und im Gehorsam

cum omni mansuetudine et oboedientia

 

 

Werkzeug
Gottes Weisungen täglich durch die Tat erfüllen. RB 4,63

 


Mut

„Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, und mich an allem freuen, was schön ist. Und ich werde an die Güte glauben.“

12

Werkzeug
Vor allem: Gott den Herrn, lieben
mit ganzem Herzen,
mit ganzer Seele
und mit ganzer Kraft.
Ebenso: Den Nächsten lieben wie sich selbst. RB 4,1f.

wie klopfte mir damals das Herz
bei den ersten Schritten
Einsamkeit und Gemeinschaft

„lass dich nicht sofort von Angst verwirren
fliehe nicht vom Weg des Heils
er kann am Anfang nicht anders sein als eng
folge mir nach“

Heimsuchung Gottes
Zeitenwende in seinem Zelt
Hände in Hände gelegt

welch unsagbares Glück:
hier brennt der Dornbusch

und das Herz schlägt mir noch heute


Vertrauen

„Nur für heute werde ich fest daran glauben – selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten – , dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.“

13

 

GEMEINSCHAFT ausbuchstabiert (mit RB 72) 

G ott fürchten

e inander selbstlos

m it glühender Liebe

E igenwillen aufgeben

i m gegenseitigen Gehorsam

n ichts vorziehen

s o gibt es den guten Eifer

c harakterliche Schwächen mit unerschöpflicher Geduld ertragen

H ilfe des Herrn erbitten

a uf die Weisung des Meisters hören

F ührung des Evangeliums

t äglich durch die Tat erfüllen

ecce quam bonum
Wurzel und Stamm
Grundstock für Generationen
im Vertrauen auf Gott
wachsen neue Triebe
getragen und gestützt
habitare in unum

Werkzeug
Seine Hoffnung Gott anvertrauen. RB 4,41

 

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB

 

Der große Bogen des Anfang(en)s in der Heiligen Schrift und in der Benediktsregel

Im ersten Kapitel des ersten Buches der Heiligen Schrift und im letzten Kapitel des letzten Buches der Heiligen Schrift ist vom „Anfang“ die Rede: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so sagt uns das Buch Genesis (Gen 1,1). Und am Schluss, in der Offenbarung des Johannes, spricht Gott selbst direkt zu uns: „Siehe, ich komme bald. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Apk 22, 13). In einem großen, geradezu kosmischen Bogen ist hier die ganze Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Vollendung in diesem einen Wort vom „Anfang“ zusammengefasst – ein grandioses Szenarium eröffnet sich uns da, und unserer bescheidener Anfang miteinander hier und heute wird auf einmal unendlich groß, ist eingebettet in Gottes Ewigkeit.

Unseren Anfang setzen wir uns nicht selbst – wir wurden angefangen sozusagen, hineingeboren in eine Welt, die schon war. Gott selbst hat uns ins Dasein gerufen, hat uns unseren Anfang geschenkt – aus reiner Gnade und aus reiner Liebe. Und dieser Anfang ist kein einmaliges Geschehen – das ist das Großartige an ihm. Es ist ein Prozess, ein ewiges und immer neues Wachsen und Reifen von Anfang zu Anfang.

Der jüdische Schriftsteller Felix Braun hat dies in einem wunderbaren Gedicht mit dem Titel „Ewigkeit“ einst so beschrieben:

„Uralt bin ich – vom Anfang komm ich her –
Nun müd von tausendfältiger Gestalt.
Mein Los ist: jedes Blatt zu sein im Wald.
Mein Los ist: jede Welle sein im Meer.

Ich leb von von Anfang zu Anfang,
von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Nehm stets in anderm Atem Aufenthalt.
So leb ich schwebend: weder hier noch dort.

Und schaudre, dass ich mich so oft verlor
Und immer wieder fand: in diesem Wort.
Von Anfang zu Anfang bis in Ewigkeit.“

Hören Sie die Anklänge an die Doxologie heraus, die wir und die ganze Kirche seit ihren Anfängen Tag für Tag so oft und immer wieder beten: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist – wie es war im Anfang so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.“ Kein geringerer als der dreifaltige Gott selbst ist unser Anfang und unser Ziel, unsere Sehnsucht und unsere Erfüllung, unsere Zeit und unsere Ewigkeit. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, im Anfang auch, so heißt es im Prolog zum Johannesevangelium „Im Anfang war das Wort“, das Leben spendende Wort, das menschgewordene Wort Jesus Christus. Und auch der Heilige Geist, so berichtet uns die Apostelgeschichte im Kap. 11,15 „kam von Anfang an auf uns herab“, so wie einst im Anfang Gottes Geist über den Wassern schwebte (Gen 1,2).

Schauen wir auf den lateinischen Bibeltext, so fällt auf, dass es zwei Begriffe für „Anfang“ gibt: „initium“ und „principium“. Initium ist dabei immer der einmalig gesetzte Anfang – principium aber der Anfang, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Schöpfungs- und Erlösungsgeschichte hindurchzieht, der immer wieder neu zum Aufbruch einlädt, der Gottes Anfang sozusagen zum Seinsprinzip werden lässt: „sicut erat in principio et nunc et semper, et in saecula saeculorum“.

Ebenso wie die Heiligen Schrift so ist auch die Regel des hl. Benedikt vom „Anfangen“ gleichsam umfangen. Im ersten und im letzten Kapitel der Regel ist vom Anfang die Rede. Im Prolog, Vers 4 heißt es: „Sooft du etwas Gutes zu tun beginnst [d.h. anfängst], bitte zuerst inständig darum, dass er [Gott] es vollende“. Hier ist er wieder, der Gedanke, dass wir es aus eigener Kraft eben nicht vermögen, dass allein die Gnade Gottes uns zum Anfangen bewegt und dass nur Er allein es ist, der unser Tun vollenden kann. Wir sind und bleiben auf Gottes vorausgehende Liebe und auf seine Hilfe angewiesen. Die Spannung zwischen der Freiheit des Menschen und seinem Angewiesensein auf die Barmherzigkeit Gottes bleibt immer bestehen.

Ihren ganz und gar authentischen Ausdruck findet diese Spannung in dem Ruf: „O Gott, komm mir zu Hilfe – Herr, eile mir zu helfen. Deus, in adiutorium meum intende; Domine, ad adiuvandum me festina“. Siebenmal am Tag beten wir diesen Flehruf am Anfang jeder Hore. Sie prägt sozusagen den Anfang unseres Betens. Nicht umsonst haben die Mönchs- und Wüstenväter ihren Schülern und damit auch uns diesen Ruf als immerwährendes Gebet empfohlen. Es ist ein Gebetsruf voller Kraft und voller Weisheit, ein Ausdruck wahrer Demut vor der Größe Gottes, ein Wissen um die eigene Begrenztheit, ein vertrauensvolles Sich-Hineinbegeben in die Hände Gottes.

Im letzten, dem 73. Kapitel der Regel sagt der hl. Benedikt: „Diese bescheidene Regel haben wir für Anfänger geschrieben“ (RB 73,8), damit wir durch ihre Beobachtung „einen Anfang im klösterlichen Leben bekunden“ (RB 73,1). Zweimal ist hier am Schluss noch einmal vom Anfangen die Rede, fast so, als solle sich ein geheimnisvoller Kreislauf vollenden. Diesen geheimnisvollen Kreislauf hat Silja Walter einmal in einem kurzen Gedicht ganz wunderbar beschrieben:

ANFANG

Habe ich also die Regel
bis ans Ende gelebt,
dann bin ich ein vollendeter
Anfänger oder endlich ein
Anfänger geworden, endlich
nichts als ein aus dem
Anfang lebender Mensch.“

Im Regelkommentar der Salzburger Äbtekonferenz heißt es zu der eben genannten Stelle aus dem 73. Kapitel der Benediktsregel:

„Mit der Wendung vom Anfang im klösterlichen Leben schwächt der hl. Benedikt seine Regel nicht ab und meint nicht den Anfänger im klösterlichen Leben, sondern den Mönch, der angesichts der Weisung Christi zu Gerechtigkeit und Vollkommenheit immer und ein Leben lang einen Anfang machen muss … Benedikt steht mit dieser Formulierung vor allem in der Tradition der Wüstenväter, wo das Bewusstsein vom Anfangen zu immer neu vollzogener Umkehr führt.“ In diesem Sinne gehört das Immer-neu-anfangen in der Tat ganz eng und unmittelbar zu unserer Berufung. Es ist der Kerngedanke unseres Gelübdes der „Conversatio morum“ – des klösterlichen Lebenswandels, das uns auffordert, jeden tag neu zu beginnen.

Wir sehen also, dass der Gedanke des Anfangs und des Anfangens die ganze Heilige Schrift und auch die ganze Benediktsregel durchzieht. Anfangen wird so zum Leitfaden für ein christliches und auch für ein benediktinisches Leben. Christliches und auch benediktinisches Leben aber ist ganz und gar österliches Leben. Ohne Ostern, ohne den Glauben an die Auferstehung, wäre unser Leben sinnlos. Nur, wenn wir österliche Menschen werden, so werden wir auch wirklich Menschen des Anfangs. Denn Ostern, so sagt Karl Rahner, „Ostern ist der Anfang der Vollendung. Ostern proklamiert einen Anfang, der schon über die fernste Zukunft entschieden hat. Auferstehung sagt: der Anfang der Herrlichkeit hat schon begonnen. Und was so begonnen hat, das ist daran, sich zu vollenden …“

Sie waren auch nur Anfänger: Menschen der Bibel als Leitbilder des Anfangs

Betrachten wir nun in einem zweiten Schritt sieben biblische Gestalten des Anfangs. In den Menschen, die im Alten Testament Jahwe und im Neuen Testament Jesus begegnen, bricht etwas auf. Die Begegnung mit dem lebendigen Gott fordert sie heraus, öffnet sie für ein neues Leben, ja macht sie zu neuen Menschen. Der Anfang, den die Begegnung mit Gott und mit Jesus Christus, seinem Sohn, in Menschen bewirkt, ist immer zugleich Scheidung und Entscheidung. Eine ganze Spannweite von Reaktionen – von der Hingabe und Nachfolge bis zum Zweifel und zur völligen Ablehnung – findet sich in der Heiligen Schrift. Es gibt viele Möglichkeiten anzufangen – oder auch, den Anfang zu verpassen. In der ein oder anderen Gestalt des Anfängers können wir uns selbst, unsere Eigenart und Eigen-heiten vielleicht wiederfinden. Vielleicht können wir von diesen Menschen, die vor uns anfingen, auch lernen, können uns Mut zusprechen lassen, den Aufbruch immer neu zu wagen.

Abraham – „Sein Glaube wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet“ (Röm 4,9)

Zu den ganz großen Gestalten des Anfangs gehört Abraham. „Zieh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen. Du sollst ein Segen sein… Da zog Abraham fort, wie ihm Jahwe befohlen hatte. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Haran wegzog. Abraham nahm seine Frau Sarai, seinen Neffen Lot und all ihre Habe, die sie besaßen. Dann brachen sie auf, um in das Land Kanaan zu ziehen (Gen 12,1-4).

Ein eindeutiger und unkomplizierter Anfang: dem Ruf Gottes folgt die Tat, ohne Zögern und Zaudern. Solches Hören und Gehorchen hatte der hl. Benedikt wohl vor Augen, als er sein Kapitel über den Gehorsam niederschrieb: „Die höchste Stufe der Demut ist der Gehorsam ohne Zögern … Wie in einem einzigen Augenblick folgt in der Schnelligkeit der Gottesfurcht beides sofort aufeinander: der ergangene Befehl des Meisters und die ausgeführte Tat des Jüngers.“ (RB 5,1 und 9).

Abraham glaubte dem Anruf Gottes und glaubte der Verheißung, die an ihn erging. Und er machte sich auf den Weg – obwohl er bereits 75 Jahre alt war. Wer weiß: vielleicht hat er wie später nach ihm der greise Simeon oder die alte Witwe Hanna sein Leben lang auf diesen Anruf gewartet. Und heute und jetzt ist er bereit, sich auf den Weg zu machen und alle Sicherungen des Lebens hinter sich zu lassen. Zum Anfangen gehört das Loslassen, das Hinter-sich-lassen. Wer einmal die Hand an den Pflug gelegt hat, soll nicht zurückschauen – oder wie es beim hl. Benedikt in Kap. 58,24 heißt: „Der Novize soll nichts für sich zurückbehalten – nihil sibi reservans ex omnibus“.

Jeremia – „Ach Herr, ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“ (Jer 1,6)

Der Anfang des Propheten Jeremia könnte fast eine Art Gegenbild zu dem des Abraham sein. Jahwes Wort und Ruf erging an Jeremia – und dieser hat Angst: „Ach, Herr, ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“. Er traut es sich nicht zu, er zögert und er verhandelt mit Jahwe, seinem Gott. Zweimal muss Jahwe ihm sagen: „Hab keine Angst, fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir.“ (Jer 1,8; 1,17). Erst danach begreift Jeremia, was an ihm geschehen ist und lässt sich in Dienst nehmen. Ein Prophet wider willen, könnte man sagen – ein Anfänger, dem zuerst einmal das Wörtchen „Aber“ über die Lippen kommt, weil er ob seines jugendlichen Alters unsicher, vielleicht auch schüchtern ist und wenig Selbstbewusstsein hat. Vielen von uns mag Jeremia mit seinen Zweifeln zunächst näher liegen als Abraham, der so unzweideutig und souverän den neuen Anfang gewagt hat.

Für den hl. Benedikt spielte das Alter für die Berufung zum Neuanfang – wie wir wissen – ebenso wenig eine Rolle wie einst für Jahwe. „Nirgendwo im Kloster darf das natürliche Alter die Rangordnung bestimmen oder beeinflussen. Haben doch Samuel und Daniel, obgleich sie noch jung waren, über Alte Gericht gehalten.“ (RB 63,5.6) Und im Abtskapitel 64,2 heißt es: “Man soll aber den wählen und einsetzen, der verdienstvolles Leben und Lehrweisheit verbindet, wenn er auch in der Rangordnung der Klostergemeinde der Letzte wäre.“ Nicht das Alter ist entscheidend, sondern der Ruf des Herrn, der jedem Anfang vorausgeht. Wen Gott ruft, dem gibt er auch die Kraft zum Anfangen – gegen alle Angst und gegen alle inneren Widerstände.

Der reiche Jüngling – „Und er ging traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen“ (Mk 10,22)

Gott gibt die Kraft zum Anfangen, aber er übt keinen Zwang aus. Unsere menschliche Freiheit reicht so weit, dass wir auch Nein sagen und den Anfang verweigern können. Dafür ist der reiche Jüngling ein sprechendes Beispiel. Was Jesus vom reichen Jüngling erwartet, ist nicht nur viel, sondern alles: “Geh, verkaufe alles, was du hast … dann komm und folge mir nach“. „Er hatte ein großes Vermögen“, heißt es dann. Und dieses Vermögen war sicher nicht nur Geld. Besitzen können wir ja unendlich vieles: Einfluss, Ansehen, Macht, bestimmte Fähigkeiten, Beziehungen, eine soziale Stellung. Dies alles aufzugeben und neu anzufangen ist unendlich schwer. Auch dann, wenn wir wirklich auf der Suche sind. Der reiche Jüngling war ein Suchender, der im Grunde genommen kurz vor dem Durchbruch stand. Das hat Jesus ganz sicher gewusst. Denn nicht umsonst heißt es ja: „Da sah Jesus ihn an, und weil er ihn liebte, sagte er: eines fehlt dir noch…“ Echte Liebe fordert Ganzhingabe. Sie kann sich nicht mit Halbheiten zufrieden geben. Der reiche Jüngling geht traurig weg. Er will neu werden, kann aber vom Alten nicht lassen. So verpasst er den Kairos, den Anfang eines neuen Lebens. Fragen wir uns einmal, was wohl das eine ist, das uns noch fehlt. Wenn wir wirklich anfangen wollen, dann müssen wir dieses Eine heraus-finden und uns Stück für Stück von ihm zu lösen versuchen.

Im 33. Kapitel der Benediktusregel ist ebenfalls vom Loslassen von Eigentum die Rede – und auch hier ist keineswegs nur der materielle Besitz gemeint. Hier in diesem Kapitel wird der hl. Benedikt im wahrsten Sinne des Wortes radikal: „hoc vitium radicitus amputandum est“. Er nennt den Eigenbesitz ein Laster, das radikal, d.h. mit der Wurzel ausgerissen werden muss. Erst dann werden wir frei – frei für Gott und frei für die Gemeinschaft: „Alles sei allen gemeinsam, so dass niemand etwas sein Eigentum nennt oder es als solches beansprucht“. (RB 33,6). Und vom Novizen wird vor der Profess verlangt:“ Wenn er Vermögen hat, soll er es vorher an die Armen verteilen oder es in einer feierlichen Schenkung dem Kloster vermachen.“(RB 58,24)

Petrus – „Er bekam Angst und begann unterzugehen“ (Mt 14,30)

Petrus ist in vieler Hinsicht eine typische Anfangs-Gestalt. Schon bei seiner Berufung am See von Galiläa hat er gezeigt, dass er ein Mann der schnellen Entschlüsse war. Jesus ruft sie, und Petrus und sein Bruder Andreas lassen buchstäblich alles stehen und liegen und folgen dem Herrn. Menschen, die spontan Ja sagen und sich bereitwillig engagieren, sind herzerfrischend. Manche mögen sich fragen: ist solch ein Anfang überhaupt verantwortbar? Doch täuschen wir uns nicht: nicht jeder schnelle Entschluss und spontane Anfang wird später bereut – dafür gibt es in unserer Gemeinschaft durchaus eindrucksvolle Beispiele.

Auch Petrus hat seinen Anfang in Galiläa nie bereut. Aber er hat im Laufe seines Weges der Nachfolge den ein oder anderen „Dämpfer“ erhalten. So bei seinem nächtlichen Gang über den See. Voller Begeisterung stieg er da aus dem Boot und wollte seinem Herrn und Meister auf dem Wasser entgegengehen. „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen“. Übermut und Leichtsinn hatten ihn gepackt, er hatte sich zuviel zugetraut. Dem Sturm, womöglich dem Gegenwind, war er nicht mehr gewachsen. Und dann kam die Angst, und die Hochgemutheit des Anfangs war wie weggeblasen. Warum habe ich das alles nur angefangen, mag er sich gefragt haben. Wer einen Anfang macht, muss auch den Mut haben, Schluss zu machen, wenn er erkennt, dass er sich geirrt oder verrannt hat. Petrus hatte diesen Mut und war auch nicht zu stolz, seinen Herrn um Hilfe anzuflehen. „Jesus streckte sofort die Hand aus und ergriff ihn“ – ist das nicht ein wunderbar tröstlicher Gedanke? Gott rettet uns, wenn wir uns verrannt haben – wir müssen ihn nur darum bitten.

In der Vita des hl. Benedikt (Kap. 7) gibt es die bekannte Geschichte von Maurus, der auf Geheiß seines Meisters Benedikt über das Wasser geht und den kleinen Placidus vor dem Ertrinken rettet. Diese Geschichte ist der Matthäus-Perikope vom Gang des Petrus über den See nachempfunden. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie entdecken, dass es zwischen beiden Erzählungen einen kleinen, aber sehr bedeutsamen Unterschied gibt. Während Petrus vom Herrn selbst gerettet wird, schickt der hl. Benedikt seinen Schüler Maurus. Dieser, so heißt es „erbat und empfing den Segen und lief auf Befehl seines Abtes“, um den kleinen Placidus zu retten. Hier kommt – wie wir sehen – der Gedanke der Stellvertretung in den Blick. Der Segen des Abtes Benedikt bewirkt das Wunder – nicht das eigene Vermögen des Maurus. Wir können also auch einander wunderbare Start-Helfer sein und zum Retter werden, wenn der Anfang auch einmal misslingt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir an die Vollmacht Gottes glauben und uns von ihm wie ein Werkzeug in Dienst nehmen lassen.

Der jüngere Sohn des barmherzigen Vaters – „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen“ (Lk 15,18)

Ein unübertrefflicher Neuanfang ist in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn bzw. vom barmherzigen Vater beschrieben. Aus jugendlichem Freiheitsdrang heraus hat der Sohn die als zu eng empfundene Heimat verlassen. Er ist ausgebrochen aus alten Konventionen und und scheinbar fesselnden Bindungen. In der Fremde will er ganz von vorne anfangen. Doch er kann keine neuen Wurzeln schlagen, sondern bleibt ein Fremder in einem fernen Land. „Es ging ihm sehr schlecht“, schreibt der Evangelist nüchtern und schonungslos. Diese neue und unerwartete Erfahrung bringt ihn dazu, sich zu erinnern und an das zu denken, was er leichtfertig verlassen hat. Aus dem wehmütigen Blick zurück entstehen in einem zweiten Schritt Einsicht und Reue. Da ging er in sich, wörtlich: da kehrte er zu sich selbst zurück. Dann die Entscheidung: “Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen“. Der Aufbruch des Sohnes ist Rückkehr und Heimkehr. Zu einem echten Neuanfang aber kommt es erst durch die Aufnahme und Annahme des Vaters:“ Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20). Einen wirklich neuen Anfang, der neues Leben verheißt und Vergebung können wir uns nicht selbst geben. Der Mensch kann umkehren, er kann aufbrechen und neu anfangen. Ob er aber ankommt und angenommen wird, das steht nicht in seiner Macht. Ein solcher Anfang kann ihm nur vom liebenden und barmherzigen Vater geschenkt werden.

Die Benediktusregel sieht im Abt u.a. auch ein Abbild dieses barmherzigen Vaters. Im 27. Kapitel (für mich eines der schönsten der ganzen Regel) ist beschrieben, wie der Abt mit einem sich verfehlenden Bruder umgehen soll. „Er hatte solches Mitleid mit dessen Schwäche, dass er ihn huldvoll auf seine heiligen Schultern nahm und so zur Herde zurücktrug“ (RB 27,9) Der barmherzige Vater, der zugleich der gute Hirte ist, gewährt dem Sünder immer wieder die Möglichkeit zur Umkehr und zum Neuanfang. Einsicht und Reue werden dabei als selbstverständlich vorausgesetzt. Denn nur so können auch Buße und Strafe als heilsam verstanden werden. Denn letztlich geht es immer um das Heil des Menschen. Deshalb lauten auch die letzten Worte der sogenannten Strafkapitel 23-30: „Ut sanentur – damit sie geheilt werden“.

Maria – „Mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38)

Als letzte möchte ich Ihnen die Gottesmutter Maria als Leitgestalt des Anfangs vor Augen stellen. In dem Wort „Mir geschehe“ sind Marias Anfang und ihr weiterer Lebensweg als Erfüllung dieses Anfangs eingeschlossen. Gott ist es, der den Anfang macht, der Maria erwählt und für würdig erfunden hat, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Maria wird von Gott direkt angesprochen und ganz – mit Leib und Seele – eingefordert. Die Verheißung des Engels aber bedarf des „Fiat“, der Zustimmung, des Vertrauens und der Annahme dieses neuen Anfangs. Maria hat die Größe und die Demut zugleich, sich dem Unglaublichen zu öffnen und ihre menschliche Freiheit in den Dienst des göttlichen Heilsplanes zu stellen. So wird Gott in ihr Mensch – und sie selbst wird damit die neue Eva, der erste neue Mensch. Darin liegt ihre einzigartige Würde. Darin liegt aber auch die Zusage, dass jedes von einem Menschen, d.h. auch von uns, gesprochene „Fiat“ einen neuen und ewigen Anfang eröffnet, der uns die Erfüllung all unserer Sehnsucht verheißt.

Die Gottesmutter kann uns ein wirkliches Vorbild sein. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, den neuen Anfang immer dann zu entdecken, wenn es uns gelingt, die eigene Lebensplanung los zu lassen und einzuwilligen in den Lebensplan Gottes mit uns. Dies ist eine lebenslange Aufgabe. Es ist der immer neue Anfang, den es immer wieder neu gilt, in die kleine Münze des Alltags umzusetzen.

Haben Sie sich wiedererkannt in einem dieser Anfänger, vielleicht sogar in mehreren? Die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen der Bibel und uns heutigen Menschen sind manchmal frappierend. Wahrscheinlich war das zu allen Zeiten so, denn die Bibel will ja im jeweiligen Heute gelesen und verstanden werden. Sie hält uns den Spiegel Gottes vor, der uns weiter kommen lässt auf unserem Weg der Menschwerdung.

3) Das Bleiben als Brücke zwischen Anfang und Ziel

Kehren wir nun noch einmal zu unseren grundsätzlichen Überlegungen am Anfang. zurück. „Ostern“, so hörten wir aus dem Mund Karl Rahners, „Ostern ist der Anfang der Vollendung“. Ein guter Anfang ist wichtig. Aber es gilt eben auch: Kein Anfang ohne Ende, kein Aufbruch ohne Vollendung. Seinen Sinn erhält der Anfang durch das Ziel, der Heimkehr zu Gott. Unser ganzes Leben und Streben, so sagt uns der hl. Benedikt, ist dieser Weg der Heimkehr zum Vater.

Der hl. Benedikt weist auch auf die Grundhaltungen hin, die notwendig sind, um vom guten Anfang zum Ziel zu gelangen. Allen voran nennt er das Bleiben, die Treue, das Standhalten, die Beständigkeit. Der Weg, so sagt er ganz nüchtern, „kann am Anfang nicht anders als eng sein“ (Prolog 48). Beliebiges Aufhören, immer wieder nach Neuem Ausschau-Halten verhindert den Durchbruch zum Ziel. So ist für Benedikt das Bleiben der Garant des Anfangens. Urbild des Bleibens ist dabei die Treue Gottes zu seiner Schöpfung, zu seinem auserwählten Volk: “Jahwe, dein Gott, ist der Gott; er ist der treue Gott; noch nach tausend Generationen achtet er auf den Bund und erweist denen seine Huld, die ihn lieben und auf seine Gebote achten (Dtn 7,8-9). Und Paulus bekräftigt im zweiten Timotheusbrief: “Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2 Tim 2,13).

Die Heilige Schrift ist voll von Geschichten über Menschen, die treu geblieben sind und ausgeharrt haben. An ihnen wird deutlich, was das Bleiben als Brücke zwischen dem Anfangen und dem Ziel bedeutet. Im Alten Testament etwa die Gestalt der Rut, die ihrer Schwiegermutter zusagt: „Wohin du gehst, dahin gehe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ (Rut 1,16). Im Neuen Testament dann der große Bleibende, der hl. Joseph, der treu blieb, auch als er nicht verstand. Dann natürlich Maria, die geblieben ist und zusammen mit den anderen Frauen ihrem Sohn folgte bis unter das Kreuz. Sie alle können uns Vorbild und Ansporn sein auf dem Weg vom Anfang zum Ziel. Dem Bleibenden gilt am Ende Jesu Verheißung: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Joh 15,4-9).

Es gibt einen schönen Text von Dom Helder Camâra, der das Beginnen und das Bleiben wunderbar zusammenfasst:

„Es ist eine göttliche Gnade,
gut zu beginnen.
Es ist eine größere Gnade
auf dem Weg zu bleiben
und den Rhythmus nicht zu verlieren.
Aber die Gnade aller Gnaden ist es
sich nicht zu beugen und,
ob zerbrochen und erschöpft,
vorwärts zu gehen bis zum Ziel.“

Anfang und Ende stehen nicht in unserer Macht, sie sind Gnadengeschenk dessen, der allein Anfang und Ende, Alpha und Omega ist und der in uns vollendet, was er selbst begonnen hat. In diesem Sinne wollen wir uns gemeinsam auf den Weg machen und zu Menschen werden, die täglich neu anfangen.

Sr. Philippa Rath OSB

Die geistliche Schriftlesung (Lectio divina) gehört für Benediktinerinnen und Benediktiner zum täglichen geistlichen Brot – sie kann aber auch für jeden Christen zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens werden. deshalb möchten wir Ihnen zum Jahr der Bibel die Grundzüge und Grundvollzüge der Lectio divina nahe bringen.

Denke ich an die Regel des hl.Benedikt, so zeigt sich in der Fülle der darin zitierten Schriftworte, wie sich der Umgang mit der Hl. Schrift im Alltag des Lebens des hl.Benedikt konkretisierte. Welch hohen Stellenwert die Lectio für Benedikt hatte, können wir uns schon durch die Wortkonkordanz verdeutlichen: Lectio (39x); legere (26x) lector (2x) / meditatio (nur 1x) meditari (nur 2x) / oratio (21x) / orare (10x) / oratorium (23 x).

Auch bezeugen uns die Regeltexte selbst schon, wie sehr Benedikt die Lesung schätzte. Seine Belesenheit in der Väterliteratur ist erstaunlich. Würde man sich nur auf die Zitate der Benediktsregel beschränken, käme schon eine ganze Väterbibliothek zustande: Cyprian, Hilarius, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Leo d. Gr. Palladius, Kassian, Cassiodor, Sulplicius Severus, Vitae Patrum, und selbstverständlich alle im Abendland damals bekannten Mönchsregeln: 1. Und 2. Regula Patrum, Regel des Pachomius, des Basilius, des Caesarius, die Magisterregel, sodann Martyrerakten und Konzilsakten. Klassisch Gebildete behaupten zudem, daß z. B. auch Anklänge an Vergil hörbar sind. Man darf wohl davon ausgehen, daß Benedikt die angeführten Quellen auch per ordinem ex integro gelesen hat. Lectio divina – heilige, göttliche Lesung gehört für ihn zum christlichen, monastischen Leben im Sinn des hl. Hieronymus, der einst schrieb: „Qui nescit scripturas, nescit Dei virtutem eiusque sapientiam; ignorantio scripturarum ignorantio Christi est.“ – Wer die Schrift nicht kennt, kennt nicht die Tugend und Weisheit Gottes; Unkenntnis der Schriften ist Unkenntnis Christi.“

Seit einigen Jahren mehrt sich aber auch bei vielen Menschen unserer Zeit wieder neu das Interesse an der Hl. Schrift, um die „Tugend und Weisheit Gottes“ neu zu erfahren. Immer wird berichtet von Vorträgen, Arbeitsgruppen und Seminaren innerhalb von Pfarrgemeinden über verschiedene Themen der Hl. Schrift. Nicht umsonst ermahnte unser Limburger Bischof Kamphaus 1999 in seinem Fastenhirtenbrief alle mit folgenden Worten:

„In meiner münsterländischen Heimat trinken die meisten Menschen Bier. Deswegen sind mir die ersten Weinproben im Rheingau in besonderer Erinnerung geblieben. Ich mußte lernen, daß man Wein nicht wie Bier trinkt. Man schluckt ihn nicht schnell herunter, sondern läßt ihn langsam über die Zunge laufen. Kenner (und Könner) schlürfen den Wein und durchmengen ihn dabei mit Luft. Aufmerksam registrieren sie seine Geschmacksentfaltung beim Schlucken. Wein braucht Zeit, um sein ganzes Aroma zu entfalten. Der Blick aufs Etikett löscht nicht den Durst. Ähnlich ist es mit der Bibel. Ein junger Mann sucht zum ersten Mal einen Rabbi auf. Der fragt ihn, was er denn bisher getan habe. Seine Antwort: „Ich bin dreimal durch den ganzen Talmud gegangen.“ „Gut“, sagt der Rabbi. „Aber wieviel vom Talmud ist durch dich gegangen?“ Das ist die Frage. Wer die Bibel nur liest wie ein Buch oder ein Etikett, der erhält einige Informationen, aber er verfehlt den unmittelbaren Kontakt. Ihre Wahrheit kann sich nur im eigenen Leben entfalten, in Verbindung zur eigenen Existenz. „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von Innen her.“ (Ignatius von Loyola) Es braucht Zeit, es braucht Übung und eine erfahrene Anleitung, um die Bibel als Buch des Lebens zu erleben.“ (Bischof Franz Kamphaus, Limburger Sonntag Nr. 12, 21. März 1999)

Wenn wir uns im begonnenen Kirchenjahr nochmals intensiver mit der Lectio, im Spezifischen der Lectio divina befassen, dann gehen wir von der Voraussetzung aus, dass das Buch, das Lesen uns neu zum eigenen Denken, zum eigenen Urteilen, d. h. zur Freiheit und Verantwortung helfen kann. Ein Buch – und ganz sicher das geschriebene Wort Gottes – kann uns neu auf diesen Weg führen, will uns Orientierung geben, kann uns zum „Lehrer des Lebens“ (Bischof Lettmann) werden. Nicht die vielen Worte belehren uns. Nur in einziges Wort kann zum Wort des Lebens werden, wenn es uns in die Dimension des Glaubens hineinführt, wenn Gott durch es spricht, wenn es uns Heil und Heilung vermittelt.

Bevor wir in diese Dimensionen tiefer einsteigen, sollten wir uns noch mal neu vergegenwärtigen, was eigentlich geschieht, wenn wir lesen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Lesen sei doch eine Selbstverständlichkeit. Zu Beginn möchte ich aber darauf aufmerksam gemacht, dass es grundsätzlich mehrere Leseformen gibt. Ein fachwissenschaftliches Buch lesen wir anders als einen Roman, eine Zeitung, einen Brief oder den Beipackzettel eines Medikaments. Was alle diese verschiedenen Leseformen gemein haben: Lesen hat werkzeugartigen Charakter. Zunächst erkennen wir Schriftzeichen, die wir in einem bestimmten Zusammenhang aufnehmen. Allein daran erkennt man schon, wie vielschichtig der Lesevorgang ist, denn es ist wohl nicht einfach selbstverständlich, dass wir das Gelesene im gleichen Kontext aufnehmen. Das lesende Subjekt ist am Inhalt nicht unbeteiligt. Gleichzeitig begegnet das lesende Subjekt im Text einem schreibenden Subjekt. Beide: Autor und Leser stehen jeweils in einem seelischen, sozialen oder eben auch religiösen Umfeld. Lesen ist eine Form der Kommunikation, der Begegnung. Diese Begegnung zwischen Schreiber und Leser steht zudem noch in einem speziellen Umfeld, nämlich im unmittelbaren Umfeld des Lesens. Daraus entsteht noch weiterer Kontakt, Beziehung, eine Komplexität von Querverbindungen. Wichtig ist , sich immer bewusst zumachen, dass an jedem Lesevorgang immer drei Dimensionen beteiligt sind: Autor, Text und Leser.

Befassen wir uns also jetzt mit Lectio divina, so müssen wir uns als ersten Schritt vergegenwärtigen, dass auch daran mehrere Dimensionen beteiligt sind: der Autor, bzw. die Autoren im Kontext ihrer Zeit, der überlieferte Text und wir als Menschen des begonnenen 2. Jahrtausends. Ich möchte Sie jetzt noch an einen Weg eines Mönches aus dem ersten christlichen Jahrhundert erinnern, wie er uns vom Karthäuser Guigo II. (+ ca. 1188) in der „Scala claustralium“ systematisiert überliefert wurde.
Die Mönche aller Zeiten kannten die Methode der Lectio divina, der geistlichen / göttlichen Lesung, die in unseren Tagen wieder neu auch außerhalb des Mönchtums entdeckt wird. (vgl. Enzo Bianchi, Dich finden in deinem Wort). Sie ist ein probates Mittel, sich dem Kern des Wortes Gottes zu nähern. Ich meine, dass das auch ein Weg sein kann, sich die Psalmen und andere Texte des Stundengebetes neu zu erobern. Dieser Weg kann uns für das Offizium, die Lectio und Oratio (Gebet) wieder neue Türen öffnen, wenn wir alles im Sinn der Lectio divina lesen und ins Herz aufnehmen. Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, wie gut es mir gelegentlich tut, das Stundengebet, z.B. auf Reisen, allein zu beten. Beide Formen: der gemeinsame und der einsame Vollzug hat seine Licht- und seine Schattenseiten. In vier Schritten vollzieht sich ein solcher Prozess, vier Stufen, die uns hinführen sollen zu Gott, zur Gotteserfahrung, letztlich zur Anschauung Gottes:

1. Lectio

In der Antike und um Mittelalter wurde noch eine Lesetechnik praktiziert, die ganz im Kontrast zu unserer heutigen steht: Man las in der Stille der Klosterzelle in einem ganz anderen praktischen Kontext, nicht wie heute hauptsächlich mit den Augen, sondern mit den Lippen, in dem man das, was man sah, vor sich hinsagte, halblaut sprach, und mit den Ohren dem gesprochenen Wort zuhörte. Man pflegte also das akustische Lesen. ‚legere‘, lesen, bedeutete gleichzeitig ‚audire‘, hören. Da fallen dann Formulierungen wie: „in lectione audio“. Durch die akustische Lektüre werden im Menschen alle Sinne geweckt. Augen, Mund und Gehör werden in Aktion gesetzt. Lesen wird dann wie z.B. auch das Singen eine Aktion des ganzen Leibes, der den Geist ergreift und in Anspruch nimmt. Diese Technik entspricht dem Ursprung und dem Wesen des Wortes: Es wird von einer Person entsendet, an eine andere gerichtet und von ihr im Hören aufgenommen. Durch das akustische Lesen wird das geschriebene Wort lebendig und wieder neu zu einer Art dialogischen Geschehens. Hören ist ja in sich ein dialogisches Geschehen. Das gesprochene oder geschriebene Wort wird entsendet, entbindet dann unser Hören, macht uns zu Hörern des Wortes. Im Wort der Hl. Schrift spricht Gott selbst zu uns und macht uns dadurch zu Gott- zu – Gehörigen. Gott sandte sein Wort und sendet es heute noch jeweils in eine ganz konkrete geschichtliche Situation. Die Hl. Schrift ist der bevorzugte Ort der Begegnung mit Gott. Dem liegt eine tiefe Glaubensüberzeugung zugrunde, auf die hin auch wir uns prüfen müssten.

Die Entbindung durch das Wort setzt aber nicht voraus, dass wir als Hörende das Wort automatisch verstehen. Der Hörende muss Ohr und Herz für das Wort öffnen. Deshalb ist die Lesung mit einem eifrigen Studium verbunden, erfordert von uns gespannte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Seele. Wir müssen langsam und genau lesen. Wir dürfen uns nicht von Neugier treiben lassen und die Worte oberflächlich überfliegen. Sondern wir müssen mit Sorgfalt den Buchstaben beachten, den Text, wie er in seiner sprachlichen Gestalt vorliegt, von der Grammatik und vom Textsinn her zu erfassen suchen. Das feste Geländer des Textes bewahrt uns vor Träumereien und Schwärmereien, vor leerem Sentimentalismus, der keine Grundlage in der biblischen Botschaft hat. Wir lassen uns nicht leiten von eigenen Gedanken und eigener Phantasie, sondern von der objektiven Offenbarung, die in Schrift und Tradition festgelegt ist.

2. Meditatio

Der Lectio folgt als zweite Stufe die Meditatio. (Beatus vir, qui in lege eius meditatur die ac nocte „Ps 1, 2). Meditatio ist die innere Fortsetzung der Lectio. Was heißt „meditari“ ? Im Wörterbuch kann man sehr hilfreich nachlesen: „für etwas sorgen, eifriges, sorgfältiges Betreiben einer Sache, die durch Übung einer Sache herbeigeführte Gewöhnung an etwas.“ Konkretisierend heißt das: Meditation vertieft und verarbeitet den Text. ‚Meditari‘ heißt, einen Text lesen und lernen, mit Leib, Verstand und Seele erfassen, ihn im Gedächtnis behalten und mit ganzem Willen in die Tat umsetzen. In der Meditatio kommt also auch die Tätigkeit des eigenen Willens und des Intellekts in Gang. In der Literatur kommen Worte wie considerare (erinnern), cogitare (erkennen), inquirere (suchen) und meditari (meditieren) im Zusammenklang vor. Das Wort der Schrift muss reflektierend durchdrungen werden. Was dann entdeckt werden kann, ist zunächst die natürliche Gotteserkenntnis. Die innere Erfahrung des persönlichen Gottes selbst ist ein Geschenk von oben, für das wir uns nur bereiten können. Eine Art der Übung ist in diesem Zusammenhang noch ganz wichtig: die ‚ruminatio‘ – das ständige, halblaute Vor-Sich-Hersagen, das Murmeln von Versen und Texten der Hl. Schrift. ‚Ruminatio‘ heißt: das Wiederkäuen. Das Wort Gottes ist die tägliche Nahrung, die immer wieder ‚durchgekaut‘ werden musste, um Geschmack daran zu finden. Auch schwer verdauliche Kost kann auf diese Weise stärkende Nahrung werden, die den Hunger nach Gott zu stillen vermag. Dies, so meine ich, ist besonders für uns alle auch eine wichtige Realität unseres täglich gesungenen Stundengebetes. Sinn und Zweck dieser Übung ist, auf diesem Weg diese Texte auswendig zu lernen und sich einzuprägen. Hier ist entscheidend das Gedächtnis gefordert. In der frühen Kirche wusste man noch um die Notwendigkeit und den Nutzwert des Auswendiglernens. Das war nicht bloß eine Sache der Kostenersparnis – ein Buch kostete in damaliger Zeit oft mehreren tausend Schafen das Leben. Vielmesste man: was man auswendig kennt, kennt man auch inwendig. Die englische und französische Sprache hat das bis heute bewahrt – learning by heart – par coeur. Das äußere Sich-erobern bewirkt, dass irgendwann das Herz mitschwingt. Das können wir sicher von uns allen nach langen Jahren gelebten Stundengebetes auch aus Erfahrung sagen… Im Tun, im täglichen Sich-üben, wird das Herz näher zum Herrn geführt. Dann werden immer mehr Psalmen persönliche Worte des Glaubens, eigene Worte der Liebe, der Hinwendung zu Christus und zum Vater – in allen Nöten und Wechselfällen des Lebens, in Höhen und Tiefen, in Licht und Schatten. Wenn man sich ein Text so tief eingeprägt hat, entwickelt sich daraus das ganz wichtige Phänomen der Wiedererinnerung. Die Ruminatio bewirkt, dass wir uns spontan und ohne jede Anstrengung an Zitate und Anspielungen erinnern, einzig durch die Ähnlichkeit der Worte. Jedes Wort ist gleichsam ein Haken für eine Fülle von Textverknüpfungen. Ein Text führt uns in ein ganzes Gewebe von Texten und Assoziationen unter der Führung des gelesenen Textes. D.h.: sich erinnern, inne werden. Solches Meditieren setzt selbstverständlich eine theologische Grundhaltung der Kirchenväter und monastischen Tradition voraus: die Einheit der ganzen Schrift. AT und NT bilden eine Einheit, deren Mitte Christus ist. Man versuchte, die Schrift durch die Schrift selbst zu interpretieren. Jedes Wort der Schrift lässt sich nur im Licht der ganzen Schrift erkennen. Deswegen lohnt es sich auch immer wieder, im Stundengebet die Überschrift jedes einzelnen Psalms – ein Zitat des NT und eine Interpretation eines Kirchenvaters mit ins Herz zu nehmen.
Noch ein letzter, nicht unwesentlicher Aspekt des ‚meditari‘ las ich einmal in einem sehr interessanten Buch von Peter Müller, Verstehst du auch, was du liest? Meditari meint ganz wesentlich: sich einüben, trainieren wie im Sport. Z.B. taucht es im Sprachschatz des antiken Militärs auf: die Einübung der Rekruten im Umgang mit den Waffen, ferner in der Rhetorik, in der Musik und in der Poesie. Hier meint ‚meditari‘ das Einstudieren einer Rede, eines Musikstückes oder eines Gedichtes. Die Meditation fordert von uns demnach Mühe, Einsatz der Willenskraft und Ausdauer. Erst dieser Prozess weckt in uns die Sehnsucht nach Gott, das Verlangen, ihn tiefer zu erkennen und zu erfahren. Je mehr die Meditation geübt wird, um so mehr wächst die Sehnsucht, um so stärker dürsten wir nach Gott. Die Sehnsucht wird auf dieser Stufe des Aufstiegs zu Gott aber noch nicht gestillt, sie weist über sich hinaus zur ‚Oratio‘, zum eigentlichen Gebet.

3. Oratio

Oratio ist nun der Augenblick, wo wir unser Verlangen nach spürbarer und erfahrbarer Begegnung mit Gott vor Gott aus dem Herzen heraus ins Wort bringt. Es geht von daher um eine bestimmte Weise des Bittgebetes. ‚Oratio‘ steht im Zusammenhang mit ‚postulatio‘. Inhalt der Bitte ist die Sehnsucht nach Gott, das ‚desiderium‘ . Jede von uns, die betet, die auf der Stufe der Oratio angelangt ist, ist als ganze Person von der Sehnsucht nach Gott ergriffen. Gebet ist dann nicht mehr Tätigsein, sondern ganz Verlangen-Sein, erfüllt sein von Sehnsucht. Wir möchten das Gelesene und Erkannte selbst erfahren und bitten Gott darum. Erst an diesem Punkt wächst die Lesung langsam zu einer persönlichen Begegnung mit Gott hin. Die ‚Schau Gottes‘ – danach richten wir uns aus. Wir können sie aber nicht selbst ins Werk setzen. Sie kann nur von Gott geschenkt werden. Allerdings wird die Begegnung mit Gott auch nicht an der Freiheit jedes Menschen vorbeigehen. Gott und Mensch wirken zusammen. Wir zeigen Offenheit und Bereitschaft, die Gnade zu empfangen, wenn wir Gott im Bittgebet anrufen. Ja, eigentlich ist die Oratio Antwort auf die Anrede Gottes. In der Tradition der Väter und des Mönchtums wird diese Antwort mit Worten Gottes gegeben. All dieses Tun zielt hin auf den letzten Schritt: contemplatio.

4. Contemplatio

Wir erfahren nun, dass der Herr unser Bittgebet erhört und uns entgegeneilt. Gott gewährt uns als freies Geschenk, dass seine Nähe spürbar, erlebbar wird. Im Gebet können wir uns nur auf den Empfang dieser Gnade vorbereiten. Unser Einsatz und unsere Anstrengung sind gefragt. Wir müssen tun, was in unseren Kräften steht. Aber das Ergriffenwerden vom ‚effectus contemplationis‘, einer starken Gemütsbewegung, ist nicht machbar. Es ‚überfällt‘ uns. Urplötzlich wissen wir uns von der Gegenwart des Herrn ergriffen und in uns wird ein tiefes Verlangen nach der Anschauung Gottes geweckt. All das entzieht sich einer rationalen Darlegung. Über Kontemplation kann der Mensch nur in Bildern und Vergleichen sprechen (z.B. dulcedo, Süßigkeit – als Ausdruck der Liebe Gottes, seiner Güte, Milde und Freundlichkeit „Kostet und seht, wie gut der Herr ist. (Ps 33, 9); oder: sobria ebrietas – nüchterne Trunkenheit; oder: biblische Bilder – Braut und Bräutigam, Contemplatio als Taborerlebnis; oder: Jakobskampf) Contemplatio ist letztlich ein Vorgeschmack des Himmels, steht also in einem eschatologischen Kontext. Der volle Genuss steht immer noch aus. In diesem Leben ist nur das kurze Verweilen auf der Stufe der contemplatio gegeben

Zusammenfassend sei gesagt: Gehen wir in der Lectio divina täglich neu auf den Herrn zu, so werden wir erfahren: Jedes Wort ist uns „ein Anruf Gottes um unseres Heiles willen“ (J.Leclercq, Wissenschaft und Gottverlangen), führt uns näher zur Mitte des Glaubens hin, zu Christus, dann sind wir ganz persönlich angesprochen und gefordert, mit Leib und Seele, mit Gedächtnis, Verstand und Willen.

Praktische Schritte zur Lectio divina:

1. Lesen wir den Text laut und langsam.
2. Schreiben wir den Text einmal ab, vielleicht auch mit einer graphischen Gestaltung.
3. Wiederholen wir den Text mehrmals im Sinn der „Ruminatio“, leise in sich hinein „murmelnd“.
4. Hören wir uns selbst beim Sprechen zu.
5. Folgen wir genau dem Wortlaut des Textes.
6. Achten wir auf Wortwiederholungen, inhaltliche Wiederholungen und auf „Brüche“ im Text.
7. Versuchen wir den Text in seiner Struktur zu verstehen.
8. Wie können wir den Textsinn zusammenfassen?
9. Assoziieren wir den Wortlaut mit anderen biblischen oder auch außerbiblischen Texten.
10. Verbinden wir den Text mit Zeitereignissen und eigenen Erfahrungen im Rahmen Ihrer Möglichkeiten.
11. Gibt es Fragen, die uns der Text stellt?
12. Bringen wir unsere Gedanken, unsere Fragen, unsere Bitten vor Gott!
13. Versuchen wir, Gott Antwort zu geben.
14. Vergessen wir nicht, Gott für sein Wort zu danken.

 

Das 53. Kapitel der Regel des hl. Benedikt ist ganz der Aufnahme der Gäste gewidmet. Die Gastfreundschaft wurde so von Anfang an zu den tragenden Grundpfeilern benediktinischen Lebens.

Um sich dem Thema Gastfreundschaft zu nähern, sollen zunächst die kulturellen und biblischen Grundlagen der Gastfreundschaft kurz in den Blick genommen werden. Xenos = Gast bedeutete ursprünglich im Griechischen der Fremdling, der Unbekannte, der Ausländer, der zunächst einmal Angst und Abwehr auslöste. Er war zunächst also der Feind, der in den eigenen Lebensraum eindringt und der als bedrohlich erfahren wird, weil er anders ist. Auch im Lateinischen bedeutete hostissowohl Feind als auch Fremder. Wenn wir also von Gastfreundschaft in der Antike wie auch in der Bibel sprechen, so darf dies keineswegs als etwas Naturgegebenes verstanden werden. Gastfreundschaft ist eine Kulturleistung ersten Ranges und gehört von alters her zu den prägenden Elementen der Gesellschaft. Neben den vielen Möglichkeiten der zwischen-menschlichen Beziehungen und Hilfe galt sie auch als Form religiöser und sozialer Verantwortung. Sie war keineswegs nur Zeichen liebenswürdigen oder großzügigen Umgangs miteinander, sondern war im wahrsten Sinne lebens-notwendig in einer Welt, in der die gewerbsmäßige Unterbringung von Fremden und Reisenden noch unbekannt war. Jeder, der die Grenzen seiner engeren Heimat, seines Vaterhauses oder seiner Vaterstadt verließ, musste und durfte sie in Anspruch nehmen. Sie war nicht nur gastliche Aufnahme und Bewirtung, sondern umfasste den absoluten Schutz für Leib und Leben. Insofern barg sie in sich immer schon einen existentiellen Kern. Von daher gesehen lag auch eine religiöse Deutung der Gastfreundschaft sehr nahe. Weiterlesen

Im allgemeinen wird die Vita des heiligen Benedikt von vielen immer noch eher ein wenig belächelt und als erbauliche, legendenumrangte Literatur verlegen bei Seite gelegt. Die Benediktusregel allein sei es, so hört man oft, die das benediktinische Leben begleitet, ihm Fundament und Form gibt und die dem Leser, so Gott will, irgendwann auch zum Buch seines eigenen Lebens wird. Die Lebensbeschreibung des hl. Benedikt aus der Feder Papst Gregors des Großen dagegen führt eher ein Schattendasein – und das zu Unrecht, denn sie ein Buch voller Kraft und voller Weisheit. Sie enthält ähnlich wie die Regel des hl. Benedikt, aber in literarisch ganz anderer Form, gelebte Wahrheit und schildert uns das Leben des hl. Benedikt als ein exemplarisches spirituelles Leben. Die Geschichten, die die Vita erzählt, sind wie Ikonen, die das Antlitz des Ordensvaters und im Tiefsten auch das Antlitz Christi und des Vatergottes aufstrahlen lassen. Deshalb kann die meditierende Lektüre der Vita Benedicti zu einem vertieften Verständnis des Glaubens und des benediktinischen Lebens führen. Der Anlass zur Abfassung der Dialoge

Das zweite Buch der Dialoge Gregors des Großen

Wie kaum ein anderes Werk hat das zweite Buch der Dialoge („Dialogorum Libri quattuor de miraculis Patrum Italicorum“) Papst Gregors des Großen (540 – 604), das die Lebensbeschreibung des hl. Benedikt enthält, die Spiritualität des benediktinischen Mönchtums durch die Jahrhunderte geprägt. Dieses Buch gehörte zu den weitest verbreiteten und meist übersetzten Büchern in den Klöstern unseres Ordens und darf deshalb in seiner Bedeutung für die Tradition, aber auch für uns heute, nicht unterschätzt werden. Die Vita Benedicti ist bis heute die einzige Quelle über Leben und Wirken unseres Mönchsvaters. Es gibt keine zeitgenössischen Zeugnisse über das Leben Benedikts.

Das benediktinische Mönchtum hat seine Formung vor allem durch die Benediktusregel gefunden. Die Person des hl. Benedikt trat und tritt immer hinter seinem Werk, d.h. hinter seiner Regel, zurück. Doch schon Papst Gregor wusste zu berichten: “Wer sein [Benedikts] Wesen und sein Leben genauer kennen lernen will, kann in den Weisungen seiner Regel alles finden, was er als Meister vorgelebt hat: denn der heilige Mann konnte gar nicht anders lehren, als er lebte.“ (Vita 36). In diesen letzten Worten leuchtet für mich das auf, was das eigentliche Geheimnis dieser Vita Benedicti und damit auch des hl. Benedikt selbst ausmacht: Leben und Lehre sind zu einer untrennbaren Einheit geworden. Von uns, den Nachfolgenden, wird nicht mehr und nichts anderes erwartet, als unser Vater Benedikt selbst vorgelebt hat. „Der Abt“, so heißt es im 2. Kapitel der Regula (2, 12), „zeige mehr durch sein Beispiel als durch Worte, was gut und heilig ist“. Und wer von uns wüsste nicht, dass das gelebte Beispiel weit mehr überzeugt als jedes noch so gut gemeinte Wort.

Gregor der Große verfasste die Vita Benedicti in den Jahren 593 und 594, also fast 50 Jahre nach dem Tod des hl. Benedikt (ca. 548). Äußerer Anlass war die Bitte zahlreicher Kleriker und Mönche, Beispiele heiligmäßigen Lebens in Italien niederzuschreiben, um die Menschen zu erbauen und im Glauben zu stärken. Im Vordergrund stand also zunächst ein durchaus pastorales und auch spirituelles Anliegen. Betrachtet man allerdings das Vorwort Gregors zu seinen „Vier Büchern der Dialoge“, so wird deutlich, dass auch ein sehr persönliches Interesse hinter diesem Buch stand. Gregor, ursprünglich selbst Mönch im Andreaskloster in Rom, war bereits nach wenigen Klosterjahren Abgesandter des Papstes in Konstantinopel geworden und wurde dann 590 selbst zum Papst gewählt. Die Bürde des Amtes lastete schwer auf ihm – die Verflochtenheit in weltliche Aufgaben ließ ihn in wachsendem Maße hin- und hergerissen sein zwischen den Pflichten seines Papstamtes und der Sehnsucht nach einem kontemplativen, geistlichen Leben im Kloster.

Als Heilmittel gegen seine eigene innere Unruhe setzt Gregor nun die Erinnerung an Beispiele gelungenen, integrierten, ganzen und heilen Lebens. In der Gestalt des hl. Benedikt findet er ein solches Beispiel. In der Erinnerung an ihn gelingt es ihm, die kontemplative Dimension in seinem eigenen Leben zu bewahren und einen neuen Anfang zu setzen. Insofern hat die Niederschrift der Lebensbeschreibung des hl. Benedikt für Papst Gregor neben der pastoralen auch eine „therapeutische“ Funktion. In den Lebensgeschichten der Väter erfährt er Ansporn, Trost und Stärkung und findet das, was er sich tief in seinem Herzen für sein eigenes Leben wünscht: „Viele von ihnen lebten im Verborgenen in Einklang mit dem Schöpfer“ (Prolog der Vita). Papst Gregor versteht seinen Bericht über das Leben Benedikts also nicht erstlich als Geschichtsschreibung, sondern als Schilderung eines exemplarischen spirituellen Lebens. Am Leben des hl. Benedikt will er darlegen, wie der christliche Weg der Verwandlung in das Bild Jesu Christi gelingen kann und welche Stufen auf dem Weg wachsender Gotteserfahrung zu durchschreiten sind.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Vita Benedicti nicht einen wahren und zuverlässigen historischen Kern hat. Papst Gregor lagen Erzählungen und Erzähltraditionen, wie z.B. die vom stehenden Sterben des hl. Benedikt, vor. Solche Erzählfragmente verknüpfte er dann auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Topoi (d.h. Erzähl- und Denkfiguren) aus der altkirchlichen Hagiographie. Dabei spielen die beiden großen Modellviten des alten Mönchtums – die Vita Antonii des Athanasius und die Vita Martini des Sulpicius Severus – eine ganz besondere Rolle. Auf diese Weise entstand ein Bild des Menschen Benedikt, der glaubwürdig und konsequent als Christ und als Mönch lebte. In zweiter Linie dann folgte die Intention einer Darstellung des monastischen Ideals, des Bildes eines vollkommenen Abtes und des vollkommenen Jüngers des Herrn. Wichtig ist dabei der untrennbare Zusammenhang mit der Hl. Schrift und der absolute Vorrang des Wortes Gottes. „Wenn die Mönchsregeln nichts anderes sein wollen als die Einschlagstelle der Hl. Schrift im konkreten Leben der Gemeinschaft, dann zeigen die Mönchsviten diese Einschlagstelle der Hl. Schrift im konkreten Leben eines einzelnen.“ (Einleitung zur Vita, hrsg. von der Salzburger Äbtekonferenz, S.34)

Die literarische Gestalt und Form der Vita Benedicti

Ein Blick auf die literarische Gestalt der Vita zeigt, dass das Leben des hl. Benedikt in einer Art fiktivem Wechselgespräch zwischen dem Verfasser Gregor und seinem Diakon Petrus dargestellt. Näherhin ist diese Form des Dialogs eigentlich die aus den Väterunterweisungen der Wüste bekannte Form der Fragen und Antworten. Der Diakon Petrus gibt sozusagen die Stichworte, damit die Erzählung weitergeht, oder stellt eine Frage, die es dem Erzähler ermöglicht, die Handlung fortzuschreiben oder auch einen kleinen homiletischen Exkurs über ein konkretes Thema einzuschieben (insgesamt 10 solcher Einschübe z.B. 35,5-7 gibt es)

Vir Dei Benedictus

Betrachten wir zunächst die Bezeichnung Benedikts als „Vir Dei Benedictus“. Schon diese Namensgebung weist auf die besondere Stellung des gesegneten Gottesmannes hin. Bedeutende Gestalten der Patriarchen- und Prophetenzeit führten als Ehrenbezeichnung den Titel „Mann Gottes“: Moses (Dt 33,1), Samuel (1 Sam 9,6), David (2 Chr 8,14), Elja und Elischa (1 Kön 17,18 und 3 Kön 19,16). Was zeichnet einen Vir Dei, einen Mann Gottes aus? Er ist zunächst und vor allem Zeuge für Gottes Heilshandeln in der Geschichte und an uns Menschen. Er lebt selbst ganz aus und in Gott, und versucht, allein Gottes Willen zu verwirklichen. Sodann ist er Prophet, d.h. gesandt, das Heil Gottes in eine bestimmte Situation hinein zu verkünden. Und schließlich steht der Vir Dei in der Nachfolge der Apostel, weniger um missionarisch tätig zu sein – dies kann eher eine indirekte Frucht sein – als vielmehr in dem Anspruch, die gleiche Vollkommenheit zu erreichen, wie diejenigen, die ganz in der Nähe des Herrn lebten.

Schließlich der Name „Benedictus“ in seiner doppelten Bedeutung: der von Gott Gesegnete, der selbst ein Segen für viele wird. Hier ist der Anklang an Abraham deutlich und sicher auch bewusst gewählt: „Du sollst ein Segen sein…“ . Schon für den Verfasser der Vita war der hl. Benedikt ein Gesegneter im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich denke, er ist es geblieben – durch inzwischen fast 1500 Jahre hindurch und auch für uns.

Grundthemen der Vita Benedicti

Wie oben schon gesagt, berichtet Papst Gregor im 36. Kapitel der Vita von der Niederschrift einer „Regel für Mönche“ und von dem untrennbaren Zusammenhang dieser Regel mit dem Leben des hl. Benedikt. Folgerichtig greift die Vita an vielen Stellen in der Form von Geschichten und Episoden aus dem Leben des Heiligen immer wieder die Grundthemen der Regel auf: den Vorrang des Gebetes als dem Zentrum des monastischen Lebens (Dialoge II 4,1-3 – RB 43,8-9), die Beständigkeit (Dialoge II, 25 – RB 4,78; 58,9; 61,5), der Gehorsam (Dialoge II, 7,1-3 – RB 5,1), der Eigenbesitz (Dialoge 19,2 – RB 33,1) und schließlich auch das weite Herz (Dialoge II 35,7 – RB, Prol 49).

Die Wunder

Entscheidender Bestandteil altkirchlicher Vitenliteratur sind die Wunderberichte – so auch in der Vita Benedicti. Gerade diese Wundergeschichten haben viele an der Seriösität der Vita zweifeln lassen. Doch gilt auch hier: wir müssen tiefer sehen und den Kern dieser Wunderberichte verstehen lernen. Die Wunder, so fasst Gregor selbst den Sinn dieser Berichte zusammen, sind das „bonae vitae testimonium“ (Dialoge I,12,6) das Zeugnis eines gottgefälligen Lebens. Sie stellen die Heiligen in eine Reihe mit den Aposteln und Propheten. Viele der geschilderten Wunder Benedikts sind übrigens Früchte einer Art monastischen Pädagogik und insofern Anschauungsmaterial für unser tägliches klösterliches Leben (Dialoge II, 9: Der Stein in der Mitte; Dialoge II,10: Das Scheinfeuer in der Küche). Meist ist es das Gebet des hl. Mönchsvaters, das das Wunder bewirkt – und dies kann uns helfen, an die heilende und verwandelnde Kraft des Gebetes zu glauben.

Gefährdungen und Versuchungen

Ein Grundthema der Nachfolge sind die Gefährdungen und Versuchungen, ist der Kampf mit dem alten Feind, wie es die Mönchsväter nennen. Kein Leben in der Nachfolge kann ohne Anfechtungen bleiben, das weiß jeder von uns aus eigener Erfahrung. Evagrius Pontikus und in seiner Tradition Johannes Cassian sprachen von den logismoi, den Gedanken, die vom Weg und vom Eigentlichen abbringen und die es immer neu zu bekämpfen gilt. Diese konkretisieren sich in der Vita in verschiedenen Begegnungen des hl. Benedikt mit dem alten Feind und finden ihren Höhepunkt schließlich in dem Wort: „Der Ort änderte sich, nicht aber der Feind“ (Dialoge II, 8,10). In heutige Sprache übersetzt würden wir sagen: so oft wir den Ort auch wechseln, wir nehmen uns immer mit …

Begleiter auf dem Weg

Ein wichtiges Thema der Vita Benedicti sind auch die begleitenden Gestalten auf dem Weg. Der hl. Mönchsvater war keine einsame Gestalt, sondern traf und fand von Anfang an Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiteten: den Mönch Romanus, der ihm das Gewand des klösterlichen Lebens gab und ihn in der Höhle mit Brot speiste (Dialoge II, 1,4); der Osterbote, der mit seinem Besuch in der Höhle eine Wende in das eremitische Leben Benedikts bringt und ihn auf die kirchliche und gemeindliche Dimension des mönchischen Lebens hinweist (Dialoge II, 1,7); der Mönch Theoprobus, mit dem Benedikt seine prophetische Schau der Zerstörung Montecassinos teilt und vor dem der Heilige nicht einmal seine Tränen verbirgt (Dialoge II, 17); seine Schwester Scholastica, von der uns Gregor berichtet, dass sie mehr vermochte, weil sie mehr liebte (Dialoge II, 33,5); schließlich der Diakon Servandus, mit dem Benedikt auf dem Höhepunkt seines geistlichen Lebens seine große kosmische Vision und die überwältigende Erfahrung des göttlichen Lichtes teilt (Dialoge II, 35,4). Alle diese Wegbegleiter stehen als Symbol für die Wirklichkeit brüderlich-schwesterlicher Gemeinschaft und können Mut machen, unseren je persönlichen Weg nicht alleine zu gehen, sondern im vertrauensvollen Austausch mit anderen an unserer Seite.

Geistliches Leben als Weg

Als letztes, aber keineswegs als letztrangiges Grundmotiv der Vita des hl. Benedikt ist der Weg zu nennen. Geistliches Leben, Leben überhaupt ist ein Weg, den wir gehen und den wir geführt werden. Dem Weg Benedikts geht ein Neuanfang voraus, nämlich seine Bekehrung zum Mönchtum. In diesem Sinne kann der hl. Benedikt ein guter Wegbegleiter sein, denn er war ganz ein Mann des Anfangs.

Benedikt verlässt seine Heimatstadt Rom und er verlässt seine Familie. Er verlässt sein Vaterhaus und seinen Besitz. Er verlässt die Welt und kurz darauf auch seine geliebte Amme. Er findet Aufnahme in einer Gemeinschaft von Männern, die ein asketisches Leben führen, und verlässt die Gemeinschaft von Effide schon bald, um neu zu beginnen in radikaler Einsamkeit. Seine Wüste wird nun „eine ganz enge Höhle“ (Dialoge II 1,4) und er beginnt den Weg zurück zu sich selbst – „reditus in semetipsum“, wie die Väter diesen ersten Schritt auf dem Weg der Gotteserfahrung nennen. Auch später, nach dem Scheitern in Vicovaro wird Benedikt noch einmal an „die Stätte der geliebten Einsamkeit zurück-kehren“ (Dialoge II, 3,5) um dort ganz in der Gegenwart Gottes, was Papst Gregor mit dem berühmten Wort vom „habitare secum“ (Dialoge II, 3,5) beschreibt, zu leben.

In einem weiteren Schritt verlässt Benedikt die Höhle und begibt sich „auf die Erde“ in Subiaco. Er fängt neu an, sammelt die ersten Schüler um sich und gründet 12 Klöster. Die Grundzüge zönobitischen, d.h. gemeinschaftlichen Lebens bilden sich heraus. Der Neid eines feindlichen Priesters veranlasst Benedikt schließlich noch einmal zu einem Ortswechsel und Neuanfang. Der Montecassino symbolisiert nun die letzte Station seines Lebens und wird zum Ort seiner geistlichen Vollendung. Wie sehr der Berg der eigentliche Ort der Gottesbegegnung ist, sagt uns die Hl. Schrift an vielen Stellen, angefangen vom Berg Horeb über den Berg Tabor bis hin zum Ölberg. Auf dem Montecassino wird der hl. Benedikt zum eigentlichen Vir Dei, zum guten Hirten und zum geistlichen Vater seiner Mönche. Hier beginnt er mit der Niederschrift seiner Regel und hier vollendet sich auch sein Leben.

Noch einmal führt Papst Gregor den hl. Benedikt weiter hinauf – an die höchste Stelle, auf den Turm, den nichts mehr zu überragen vermag. In einer nächtlichen Vision erfährt er nun den eigentlichen geistlichen Höhepunkt seines Lebens. Er ist zur Vollendung gelangt und darf bereits das jenseitige Licht der Transzendenz schauen. Ähnlich wie Augustinus einst mit seiner Mutter Monika kurz vor deren Tod am Fenster in Ostia stand (Confessiones IX, 23), so erlebt Benedikt hier bereits seinen Hinübergang in das ewige Licht. Es ist seine Ostererfahrung schlechthin, die ihre liturgische Parallele im Exsultet der Osternacht findet, die mit nahezu denselben Worten das Licht der Auferstehung inmitten der Nacht preist. In diesem Licht darf Benedikt wie einst Moses auf dem Berg Nebo (Deut 34,1-5) das gelobte Land in seiner Ganzheit und in seiner vollen Schönheit schauen. Benedikts Tod ist dann nur noch ein Hinübergang, ein transitus im eigentlichen Sinne. Ein letztes Mal nimmt Papst Gregor hier an dieser Stelle das Wegmotiv des geistlichen Aufstiegs in den Blick. Auf unnachahmliche Weise verwendet er eine Terminologie, die an die Himmelfahrtsperikope erinnert: „Haec est via, qua dilectus Domino caelum Benedictus ascendit“ – Dies ist der Weg, auf dem Benedikt, den der Herr liebt, zum Himmel emporstieg“ (Dialoge 37, 3).

Sr. Philippa Rath OSB

Weg nach Innen.

Ora et labora, so lautet die bekannte Kurzformel, mit der benediktinisches Ordensleben gerne zusammengefasst wird: bete und arbeite. Doch es fehlt der Losung mit ungeklärter Herkunft das dritte Standbein, die Tora. Ora et labora et lege – bete, arbeite und lies, so müsste es vollständig heißen.

In seiner Regel gliedert der Ordensvater Benedikt das Kalenderjahr in drei Zeitfenster, denen er ein unterschiedliches Maß an Arbeit, Gebet und Lesungszeit zuordnet. Zugleich reserviert er für das Studium der hl. Schrift, der sogenannten Lectio Divina (RB 48,1), einen besonderen Zeit- und Schutzraum: Die Mönche sollen zu bestimmten Stunden frei sein für die Lesung. Siebenmal gebraucht er innerhalb weniger Verse dafür das Wort vacare, um auf die Notwendigkeit der Spannungseinheit und deren qualitative Prägung hinzuweisen: frei sein (vacent lectionibus), um sich eifrig und aufmerksam der Meditation der hl. Schrift (intentus lectioni) widmen zu können. Kurz: Die Benediktusregel, komprimiert in dem Dreisatz ora et labora et lege, erweist sich als eine Bauidee mit Elastizität. Sie bietet einen hermeneutischen Rahmen und zugleich die Freiheit für Adaptionen und Reinkarnationen. Die Lectio Divina soll den, der sich in die Schrift vertieft und sie verinnerlicht, befähigen, sich auf das Wort Gottes, das buchstäblich in Anspruch nimmt, einzulassen, es existentiell zu erschließen und im Leben zu verwirklichen. Das verbindende „et“ zählt nicht ein minutiös getaktetes Nebeneinander auf. Es geht vielmehr um die innere Verbindung dreier Grundhaltungen und die Konjunktion des gesamten Lebens unter der Führung der göttlichen Weisung: „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat“ (RB Prol. 1).

Das Erkannte soll im Tun sichtbar werden.
Prolog der Benediktusregel und Proömium des Psalters stellen gleichermaßen das Porträt eines glückseligen Menschen vor, der aus dem lebendigen Kontakt mit dem Wort Gottes lebt und der seine „Freude hat an der Weisung des Herrn“ (V.2). Er hält sich nicht auf, wo er sich nicht aufhalten soll (V.1); er begibt sich nicht auf das abschüssige Gefälle vom Gehen, über das Stehen, bis hin zum sich niederlassen und festsetzen auf der „cathedra pestilentiae“ (Abstraktum der Vulgata).

Drei Verben der Bewegung führen über eine Antiklimax zum Stillstand: gehen, stehen, sitzen. Von den drei negativen Darstellungen einer sich zunehmend verengenden Sicht- und Handlungsweise (auch die Cathedra der Pestilenz folgt einer logischen Sukzession: vom weiten Rat, über den schmalen Weg bis zum kleinen Kreis), hebt sich die Freiheit des selig zu preisenden Mannes ab. Dieser verortet sich ganz in der Tora, in der Weisung des Herrn, und sinnt über sie nach bei Tag und bei Nacht (in lege Domini meditabitur die ac nocte, V.2). Er versenkt sich in das Wort – und hält im wahrsten Sinn Lectio Divina, „damit wir uns das, was wir murmelnd immerfort wiederholen, im Glauben zu eigen machen“ (Liber Horesi 51). Die monastische Tradition nennt das ruminatio – wiederkäuen, und umschreibt damit eine mystisch-aszetische Grundhaltung beständiger Meditation. Der Gerechte (Zaddik, V.5f.) schluckt nicht einfach das Gesetz, er kaut es wortwörtlich durch. Und wie sich bei der Nahrungsaufnahme Energie und Nährstoffe erst durch bedächtiges Kauen freisetzten, so verhält es sich auch hier mit der stetigen Wiederholung der Worte der Tora. Die Lust am Gesetz, das unerschöpfliche und schöpferische Nachsinnen eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Vertiefung, des Verstehens und der Identifikation: „Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt“. Wurzeln schlagen, um sich entfalten zu können: „Alles was er tut, wird im gelingen“ (V.3). Mehr noch, er ist sogar dem natürlichen Kreislauf der Vergänglichkeit enthoben. Das Laub bleibt paradiesisch immergrün, seine Blätter „welken nicht“ (V.3).

Was im 12. Jahrhundert zum klassischen Vierschritt der Lectio Divina wird (Guigo II., Scala claustralium), finden wir hier bereits in nur einem Vers vorgebildet:

1. lectio – die beständige Wässerung des Baumes (V.3a) – wachsame Lesung der hl. Schrift
2. meditatio – der langsame Reifungsprozess der Frucht (V.3b), die dann zur rechten Zeit ihren Saft und Geschmack abgibt – ständige Wiederholung und einübende Verinnerlichung des Gelesenen
3. oratio – die belebende Wiederholung und Erneuerung der Grünkraft (V.3c), damit die Erkenntnis nicht welkt – Antwort auf die Anrede Gottes
4. contemplatio – der neue Gesichtspunkt des Handelns (V.3d) – Verweilen in der Gegenwart Gottes

Gegenbild dazu ist die Unstetigkeit der Frevler, die wie der nutzlose und unfruchtbare Überrest des Getreides (Spreustaub = der letzte Dreck) vom Wind verweht werden (V.4). Ihnen fehlen Beständigkeit und Ausdauer, etwas durchzustehen. Weder im Gericht noch in der Gemeinde der Gerechten haben sie einen Standort. Mangelnde Zugehörigkeit, die in Isolation und Dissoziation führt. Dass der Wind sie zerstreut, erscheint hier jedoch nicht als Strafe. Es steht spiegelbildlich für die Gottlosigkeit, die in den Abgrund des Chaos führt. Flüchtig und ruhelos (vgl. Gen 4,12), wie Kehricht vom Wind gejagt. Doch nicht allein die Existenz der Frevler verliert sich. Das letzte Wort von Psalm 1 weist darauf hin, dass der Irrweg selbst vergehen wird. Damit ist auch eine alphabetische Klammer, ein Wegweiser vom ﬡ (Aschre, V.1) bis zum ﬨ (Tobed, V.6) gesetzt. Der Mensch muss sich je neu entscheiden, positionieren, verorten.

Die Letztbeurteilung der Wegverläufe liegt jedoch bei Gott, der allein die ganze Strecke überblickt und eigene Maßstäbe hat (vgl. Mt 7,13-14). Der Mensch auf der Wegkreuzung aber kann sich bereithalten, um aus der gelebten Gottesbeziehung heraus seine Schritte frei zu setzten: „Denn JHWH kennt den Weg der Gerechten“ (V.6). Dieses „Kennen“ (Jodea) meint eine liebende Zuwendung und spricht zugleich von einer Vertrautheit, die sich einer lebendigen Beziehung verdankt. Der Weg des Gerechten ist ein von JHWH „umsorgter“ (Romano Guardini, Deutscher Psalter). Aus dieser Verwurzelung heraus vermag der Mensch, sich zu allem, was ihm begegnet, ihm entgegentritt oder verleitet, zu verhalten. Verwurzelt zu sein an den Quellbächen der Tora, das Ohr des Herzens zu neigen, das Wort zu schmecken (vgl. Jer 15,16; Ez 3,1-3) und seinen Weg zu gehen – das sind Perspektiven, die zur Grundsituation eines freien, aber immer auch fragilen und fraglichen Lebens gehören.
Anders gewendet: Die Lectio Divina fördert geistige und seelische Beweglichkeit und Ausdauer, um bei gesellschaftlichen Überzeugungen und materiellen Gütern nicht einfach stehen oder gar kleben zu bleiben. Durch beständiges Fragen und Suchen erweist sie sich als Ort „fortschreitender“ Gottesbegegnung, denn mit Gott tritt man nicht auf der Stelle (Dietrich Bonhoeffer).

Am Ziel.

Am Aschermittwoch, dem Beginn der österlichen Bußzeit, intoniert der Gesang zur Kommunion Psalm 1,2: „Qui meditabitur in lege Domini die ac nocte, dabit fructum suum in tempore suo“. Möglich, dass damit der Umkehrweg der Fastenzeit beschrieben werden soll: was in diesen 40 Tagen an guten Vorsätzen und Bußübungen gesät wird, möge am Osterfest reiche Frucht tragen. Die Neumen der Communio legen allerdings einen Betonungsschwerpunkt und eine bewusste Verlangsamung der Melodie auf die Worte „in tempore“ – zu seiner Zeit. Nachlässigkeit im Auskosten der Lectio Divina, lässt auf die Dauer unfruchtbar werden im Guten (Cassian, Inst. 10,2,1). Wer sich die Schriftworte nicht durch beständiges Wiederkäuen einverleibt, verliert mit der Zeit Substanz. Fehlt die äußere Ruhe, geht auch die innere Dynamik verloren. Die Gangart des Schweigens will Distanz gewinnen und zugleich Bewegungsfreiheit bewahren und sich gerade nicht vereinnahmen lassen von Zwängen und Meinungen. Eine Erfahrung, die zwei Altväter pointiert ins Wort bringen: „Altvater Sisoes sagte: Schweigen heißt pilgern!“ (Vitae Patrum 7,32,4). Und Altvater Moses: „Geh, setz dich in deine Zelle, und die Zelle wird dich alles lehren“ (Vitae Patrum 5,2,9).
Die erste Prozession am Aschermittwoch war der Gang zum Empfang des Aschenkreuzes, begleitet von den Worten: „Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst. Kehr um, und glaub an das Evangelium.“ Die zweite Prozession ist der Gang zur Kommunion, begleitet durch das melodische Vor-sich-her-Summen von Psalm 1,2. Fruchtbringen zu dürfen, zu seiner Zeit, entlastet vor falscher Askese und vermeintlich guten Wegen, damit nicht die ichbezogene vana gloria im Weg steht dem „Freisein für Gott“.

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB

 Benediktinerinnen:  Benediktiner:
Europa:  9924 in 514 Gemeinschaften  5090 in 87 Gemeinschaften
Afrika:  1497 in 104 Gemeinschaften  618 in 18 Gemeinschaften
Asien:  1282 in 72 Gemeinschaften  408 in 18 Gemeinschaften
Ozeanien:  529 in 9 Gemeinschaften  42 in 2 Gemeinschaften
USA und Kanada:  4769 in 90 Gemeinschaften  2217 in 55 Gemeinschaften
 Mittel- und Südamerika:  970 in 79 Gemeinschaften  478 in 27 Gemeinschaften
 Weltweit:  18971 Benediktinerinnen in868 Gemeinschaften  8853 Benediktiner in207 Gemeinschaften
aus: Christian Schütz / Philippa Rath (Hg.), Der Benediktinerorden. Gott suchen in Gebet und Arbeit. Topos-Taschenbuch Nr. 245, 2. Auflage, Mainz 1997. Wer sich für die anderen Klöster des Benediktinerordens in Deutschland interessiert, findet unter der Adresse www.benediktiner.de interessante Hinweise.

Benediktiner- und Benediktinerinnenklöster heutzutage in Deutschland sind gut anzuschauen. Normalerweise handelt es sich bei ihnen um ein gepflegtes Ensemble von Bauten um eine Kirche, ein Zeuge vergangener Zeiten. In Gesellschaft und Kirche besteht weithin darin Übereinstimmung, dass sie zum kulturellen Erbe gehören und somit der Aufwand zur Erhaltung gerechtfertigt ist. Die Mönche und Nonnen, die dort leben, nehmen diese Wertschätzung zwar gerne an, empfinden sich aber mit dem, was ihrem Leben Gestalt gibt und den Bauten einen Sinn, nicht richtig wahrgenommen. Dann wird man fragen, wozu ein Kloster denn außerdem noch gut sei. Abgesehen von manchem anderen, könnte man drei Kennzeichen benennen.

1. Das Kloster ist ein Ort der Erinnerung an Gott

Als in der Frühzeit der Kirche einzelne Gruppen die asketische Lebensweise aus dem Judentum übernahmen, stellten sie die Verehrung Gottes in das Zentrum ihres Lebens. Wenn sie gemeinsam beteten, war Kirche für sie erfahrbar. Im Gottesdienst wurden Anbetung, Lobpreis, Dank und Fürbitte durch Worte und Riten zusammengefügt.

Als diese Bewegung später sich zu den Formen des Mönchtums entwickelte, waren die Gottesdienste, die Liturgie, so gestaltet, dass Menschen hinzukommen und je nach ihren Möglichkeiten teilnehmen konnten. Dieses Element der Einladung geht darauf zurück, dass die Mönche und Nonnen sich an Jesus von Nazareth, dem Christus, dem Messias, und seiner Botschaft, dem Evangelium, ausrichteten. So wird der Blick über die Gemeinschaft hinaus geweitet. Dass Jesus von den Toten auferstanden ist, davon wird in einem benediktinischen Kloster immer wieder gesprochen. Damit verbunden ist die Überzeugung, dass Jesus denen, die sich zu ihm bekennen, am Lebensatem Gottes Anteil gibt, was im Glaubensbekenntnis als „Heiliger Geist“ bezeichnet wird.

Wenn man die Hoffnung auf das Kommen Jesu am Ende dieser Weltzeit und die Erwartung der Vollendung der Schöpfung im Reich Gottes aufgäbe, wäre das Leben der Mönche und Nonnen sinnlos. Für Benedikt in Montecassino war Jesus Christus, den er als den Herrn bezeichnete, die zentrale Gestalt, an der sich das Miteinander in der Gemeinschaft im Alltag orientierte. Die Gemeinschaften, die seine Regel übernahmen, versuchten, die Menschen ihrer Umgebung einzuladen, diese Orientierung zu übernehmen. Christentum ist in erster Linie nicht ein System von Riten oder ein Gefüge von Wertvorstellungen, sondern die Gestaltung einer Beziehung, nämlich zum auferstandenen Jesus von Nazareth und zu Gott, den er als seinen und unseren Vater verkündet hat. In einer Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland darauf verzichtet, sich über Tod und Unsterblichkeit Gedanken zu machen, gewinnt das Erinnern eines Klosters an Wert.

2. Das Kloster ist ein Ort des Segens

Benedikt öffnete sein Kloster mit großer Entschiedenheit für den Kontakt mit den Menschen, für Gäste, wie man zu sagen pflegt. Es war seine große Leistung, die Zeiten und Orte der Lebensvollzüge der Gemeinschaft so zu ordnen, dass das Alltagsleben der Mönche und Nonnen und die Gastfreundschaft vereinbar waren. Die Gäste sollten durch die Teilnahme am Gottesdienst und durch die Einführung in die Heilige Schrift innerlich gestärkt werden. Tatsächlich ist die Atmosphäre der Sammlung, die dazu notwendig ist, bis heute der von Gästen hoch geschätzte Erfahrungsraum. Der Umgang mit der Zeit, das Einüben des rechten Maßes, die Vertiefung der Kenntnis der Heiligen Schrift gereichen vielen Gästen zum Segen.

Das Kloster ist ein Ort des Segens gewiss auch durch die verschiedenen Dienste, die in ihrer Art weithin bekannt sind. Schon Benedikt hatte auf die Sorge für die Alten, die Kranken, die Kinder und die Fremden verwiesen. Nach der Gründung der Benediktinerklöster in England im 8. Jh. wurden diese Dienste institutionalisiert. Bis heute engagiert sich ein Kloster irgendwie je nach Möglichkeiten und Lage in der Diakonie oder in der Bildung, auch wenn das meist keine medienwirksame Dimension annimmt.

Das Kloster ist ein Lebensraum, ein Milieu eigener Art. Er sollte durch sein Maß und seine Kultur Menschlichkeit und Offenheit für das Sakrale miteinander verbinden. Ohne den Menschen zu überfordern, sollte die Sehnsucht nach dem Friedes des Reiches Gottes bei jedem, der diesen Raum betritt, geweckt werden. Auch dadurch ist das Kloster ein Ort des Segens.

3. Ein Kloster ist auch ein Ort des Widerstandes

Benedikt betrachtet den Menschen als begabt und gefährdet. Seine Begabungen sind zu entfalten, gegen seine Schwächen ist er zu stärken. Doch das ist nicht genug, weil es die Bedrohung durch das Böse gibt. Dem Bösen in jeder Gestalt zu widerstehen ist keine Harmlosigkeit.

Der Widerstand ist innerhalb der Gemeinschaft zu leisten, innerhalb der Kirche und gegenüber der Gesellschaft. Dieser Aufgabe haben sich die Klöster in ihrer Geschichte immer wieder entzogen. Der Widerstand gegen ungerechte Macht und gegen gesellschaftliche Strukturen, die Menschen schweren Schaden zufügten, gehört nicht zu den starken Seiten des Mönchtums. Und doch gab es ihn, und er gehört auch heute zu den Aufgaben einer Mönchsgemeinschaft.

Für die benediktinische Tradition ist die Bemühung um die Verbindung von Glaube und Vernunft kennzeichnend. Für den Mönch gilt als Ziel, „weise und gottesfürchtig“ zu sein. Denn die Dummheit ist häufig der Grund dafür, dass etwas Böses Einfluss gewinnt. Durch diese Vorgaben aus der Geschichte der Benediktiner werden an die Mönche und Nonnen hohe Anforderungen gestellt. Niemals haben sie den damit verbundenen Auftrag umfassend erfüllt. Mit Bedauern schaut man auf Fehlverhalten, Irrtum und Verweigerung und auf die Versäumnisse. Reformen und Neuansätze führten dazu, dass die Herausforderung blieb – bis heute. Faszinierend ist, dass auch eine Gemeinschaft mit einer geringen Zahl an Mönchen oder Nonnen einen Ort in der beschriebenen Weise prägen kann.

Wie in den Epochen der Vergangenheit werden sich die Formen der Liturgie, der Diakonie und des Glaubenszeugnisses ändern. Vom ausladend Eindrucksvollen wird die Entwicklung zur Konzentration auf das Wesentliche gehen. Dabei sind die Mönche und Nonnen auf den Austausch mit den Christinnen und Christen der Ortsgemeinden und auf die Kommunikation mit den Strömungen in der Kirche angewiesen. Die Wahrnehmung der kulturellen Entwicklungen in der Gesellschaft muss hinzukommen. Der Glaube der Ordensleute, die Ausrichtung auf Christus, verkümmert, wenn eine Gemeinschaft nur mit sich selbst kommuniziert. Natürlich gibt es für eine Gemeinschaft stets die Versuchung, sich nur als Hüter des „kulturellen Erbes“ und der Tradition zu verstehen, weil dies von der Gesellschaft am ehesten geschätzt würde. Dem nachzugehen wäre aber verhängnisvoll.

Ein Wort der Würzburger Synode (1975) ist aktuell geblieben: „Gelebtes Evangelium führt immer zu Gemeinde. … Die geistlichen Gemeinschaften sollen dazu beitragen, dass die Kirche Gemeinde des Gebetes und der Bruderliebe ist, in der Gottes Heilshandeln in Jesus Christus und die Hoffnung auf die endgültige Zukunft wachgehalten wird“ (Orden 2.1.7).

 

Von P. Athanasius Polag OSB

Veröffentlicht in: Neuburg hat Freunde, 10 Jahre „Verein der Freunde der Benediktinerabtei Neuburg e.V.“, 2011

 

Die Regel des heiligen Benedikt (verfasst um 540 in dem von ihm gegründeten Kloster Montecassino) ist nach der Heiligen Schrift für uns Nonnen und Mönche bis heute das wichtigste Buch (übrigens ist es nach der Bibel auch das weitverbreitetste Buch in der ganzen Welt überhaupt). Aus ihr schöpfen wir die Quellen unseres klösterlich-monastischen Lebens, aus ihr leben wir als einzelne und als Gemeinschaft. Wir möchten Ihnen den spirituellen Reichtum dieses Werkes nicht vorenthalten, sondern Sie ermuntern, sich darin zu vertiefen und Wege gelebten Glaubens zu entdecken. Wer sich über die Lektüre hinaus mit der Benediktusregel beschäftigen möchte, dem empfehlen wir den jüngst erschienenen Kommentar zur Benediktusregel, herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Eos-Verlag, St.Ottilien 2002).

Prolog

Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat! So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast. Weiterlesen