„ O Mensch, schau den Menschen an!
Der Mensch hat nämlich Himmel und Erde in sich.
Er ist eine Gestalt, und doch ist in ihm alles verborgen.“ (Causa et curae S. 6)

Die Frage nach der Schöpfung und wie der Mensch mit dieser ihm von Gott gegebenen Schöpfung umgeht, wird heute von vielen diskutiert. Hildegard von Bingen schaute als Benediktinerin, geprägt von der Meditation der Heiligen Schrift und der Regel des heiligen Benedikt, auf die Fragen und Probleme ihrer Zeit. Heute betrachtet man in einer säkularisierten Welt die Schöpfung hauptsächlich unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Im 12. Jahrhundert wird das wissenschaftliche Interesse erst langsam lebendig. Hildegard von Bingen hat Interesse an Wissenschaft und damit den Fortschritten ihres Zeitalters. Die Schöpfung jedoch ist für sie nicht vom wissenschaftlichen Aspekt her interessant, sondern als Werk Gottes. Die Schöpfung ist der erste Akt Gottes, der die Vorbereitung für den zweiten Akt ist: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes. Gott, der Mensch wurde, um den Menschen zu retten – das ist für Hildegard von Bingen das zentrale Thema in ihren Werken.

Der Hauptgedanke Gottes in der Schöpfung ist der Gedanke der Beziehung. Er erschafft die Dinge, um den Menschen das Leben zu ermöglichen; er erschafft den Menschen, um mit ihm ins „Gespräch“ zu kommen. Auch der Mensch selbst ist Beziehung – Beziehung zwischen Leib und Seele. Außerdem ist auch die Beziehung der Menschen untereinander wichtig. Der Mensch heute ist wie Adam: Er hört andere Stimmen lieber als die Stimme Gottes. So fällt er ins Nichts.

Die Schöpfung ist der Akt Gottes, in dem er zeigt, wie er zu seiner Schöpfung steht: Gott will den Menschen als „Mitsprechenden“. Der Mensch als Abbild Gottes soll nach den Gedanken Gottes leben, in Kontakt mit ihm sein. Durch die Sünde wird dieser Kontakt zwischen Gott und dem Menschen unterbrochen oder sogar abgebrochen. Alle Handlungen des Menschen haben Auswirkungen auf die Schöpfung. Die Klage der Elemente im „Liber Vite Meritorum“ (Der Mensch in der Verantwortung ) macht dies deutlich: „ Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an jenen Mann < Gott> wandten. Sie riefen: ‚Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.‘ “ ( Der Mensch in der Verantwortung, S. 133). D.h. die Antwort des Menschen auf die Kontaktnahme Gottes durch die Schöpfung ist die Übernahme der Verantwortung für diese Schöpfung.

An verschiedenen Stellen in ihren Werken beschreibt Hildegard den Fall des Luzifer, z.B. in „Causa et Curae ( Heilwissen ): „…. Luzifer sah im Norden einen leeren Raum, der noch nicht in das Schöpfungswerk einbezogen war. Dort wollte er seinen Wohnsitz aufschlagen, um da noch mehr und größere Werke als Gott zu vollbringen. Er kannte dessen Absicht nicht, noch andere Geschöpfe zu erschaffen. Denn er erschaute nicht das Antlitz des Vaters, wußte nichts von seiner Macht und lernte auch seine Güte nicht kennen, weil er sich gegen Gott aufzulehnen suchte, bevor er dies erfahren konnte. Gott hatte nämlich dies noch nicht offenbart, sondern verborgen gehalten, wie es ein mächtiger, starker Mann tut, der seine Stärke manchmal vor den anderen Menschen verbirgt, so daß sie diese nicht kennen, bis er sehen kann, was sie über ihn denken und was sie beginnen und tun möchten. Als Luzifer sich in seinem verkehrten Willen zum Nichts – da es ein Nichts war, was er tun wollte – erheben wollte, stürzte er in das Nichts und konnte keinen Halt finden, weil er keinen Grund unter sich hatte. Denn er hatte keine Höhe über sich und keine Tiefe unter sich, die ihn vor einem Sturz hätte bewahren können. Als er sich aus dem Nichts ausstreckte, brachte das Beginnen dieses Strebens das Böse hervor, und alsbald entbrannte infolge der Eifersucht auf Gott das Böse, welches das helle Licht nicht kennt, in sich selbst – wie ein Rad, das sich dreht und in seinem Inneren eine glühende Finsternis sehen läßt.“ (Causa et curae S. 5,6). Gott ist der Schöpfer der Welt – er ist das „helle, strahlende Licht“, das Leben. Aus seinem Willen geht die Materie hervor. Das Licht und die Engel gehen aus der Schöpfung hervor. Die Engel sind Licht, sind Klarheit. Luzifer erbebt sich in seinem Stolz, möchte größer sein als Gott. Er sieht einen leeren Raum, den er für sich haben möchte. Und damit stürzt er ins Nichts. Der Mensch hat eine Höhe über seinem Kopf und einen Boden, einen Grund unter seinen Füßen – das ist Gott bzw. die Beziehung des Menschen zu Gott. Luzifer nicht; er steht nicht in dieser Beziehung und tut etwas, was Gott nicht von ihm gewollt hat. Der leere Raum – das Nichts, in das er fällt – steht für das Böse, das Laster, die Erhebung im Stolz. Er wird zum Bösen, wenn wir diesen Raum ohne Beziehung zu Gott nutzen. In dieser Versuchung, die uns gegebene freie Entscheidung in falscher Richtung zu nutzen, stehen wir Menschen immer wieder, und besonders auch in der heutigen säkularisierten Gesellschaft.
Im 1. Teil der 2. Vision des „Liber Sci Vias“ (Wisse die Wege) wird beschrieben, wie das Böse vom Teufel weitergegeben wird. An der Beziehung zwischen Eva und Adam wird deutlich, dass der Mensch durch Leidenschaften gekennzeichnet und damit angreifbar und besiegbar ist, wenn in unserem Herzen kein Kontakt zu Gott ist, wir mehr sein wollen, als wir sind : „Als der Teufel den Menschen im Paradies erblickte, rief er bestürzt: „Wer rührt da an die Wohnung meines wahren Glücks?“ Er war sich nämlich bewußt, daß er die Bosheit, die er in sich trug, noch in keinem anderen Geschöpf zur Vollendung gebracht hatte; doch als er Adam und Eva in kindlicher Unschuld im Paradiesgarten lustwandeln sah, war er sehr betroffen und machte sich auf, sie durch die Schlange zu verführen. … Weshalb? Weil er wußte, daß die Empfänglichkeit der Frau leichter zu besiegen ist als die männliche Stärke. Er sah auch, daß Adam Eva so leidenschaftlich liebte, daß nach einem Sieg über Eva Adam alles tun würde, was sie ihm sagte.“ ( Liber Sci Vias, S. 20/21 ).

In ihrem 3. Buch „Liber divinorum operum“ ( Das Buch der göttlichen Werke ), schreibt Hildegard, dass wir Menschen durch die Schöpfung lernen sollen, dass der Mensch der Gipfel der Schöpfung ist: Er allein kann sein Schicksal selbst bestimmen. Alles, was erschaffen ist, ist zum Dienst des Menschen da. Der Mensch ist zwar der Gipfel der Schöpfung, doch Christus ist der 7. Tag, die Vollendung. Sie schreibt: „…: Ich habe in meinem Sohn am siebten Tag, das ist in der Fülle des ganzen Guten, all mein Wirken folgendermassen begrenzt, damit das ganze kirchliche Volk, indem es schaut, hört und durch die Lehre erforscht, gut erkenne, was es in meinen Geboten zu tun habe. … Und ich habe aufgehört auf solche Weise in der Kirche zu wirken, da sie ja bereits im heiligen Werk, wie sie jetzt leuchtet, in einer vollständigen Grundlegung vollendet ist. Denn mein Sohn, der mein siebtes Werk ist, vollbrachte dies alles mit mir im Heiligen Geist, indem er aus dem Schoss der Jungfrau durch seine Menschheit hervorging, gemäß dem, was er im Evangelium sagt: „Alle Gewalt ist mir gegeben im Himmel und auf Erden“ Mt 28.,18 .“ (Liber Divinorum Operum S. 372/373). In der Menschwerdung des Sohnes stellt Gott den Kontakt zum Menschen, der durch Luzifer sowie Adam und Eva unterbrochen war, wieder her. Maria, die neue Eva, ist aus ihrer Beziehung zu Gott nicht herausgefallen. Darüber staunt Hildegard: Gott, der in seiner Güte immer wieder den Kontakt sucht und nicht ablässt – ER sucht den Kontakt durch einen Menschen, seinen Sohn. Hildegard gebraucht in diesem Zusammenhang das schöne und selten verwendete Bild vom Rad: „Aber Gott, der Vater, in seiner Güte blieb vollkommen wie ein Rad, weil seine Vaterschaft voller Güte ist; und so ist diese Vaterschaft sehr gerecht, gütig, fest, stark und, so besehen, mit einem Rad vergleichbar. … So ist die Vaterschaft wie der Umfang eines Rades, die Vaterschaft ist das vollständige Rad. Die Göttlichkeit ist in ihr, alles stammt von ihr, und ohne sie gibt es keinen Schöpfer. Luzifer aber ist nicht etwas Vollkommenes, Ganzes, sondern etwas Gespaltenes, Geteiltes, da er etwas sein wollte, was er nicht sein sollte. Als Gott die Welt erschuf, plante er seit jeher die Menschwerdung.“ (Causa et curae S. 6).

In diesem Sinne sollten wir auch wieder lernen mit der Schöpfung umzugehen: Sie ist uns von Gott gegeben, nicht um unser Maß zu überschreiten, sondern um unser Leben als mystisches Leben in Beziehung mit Gott zu leben, der uns erschaffen hat, wie Hildegard von Bingen sagt:
„Wer Gott in gläubiger Hingabe dient und ihn brennend liebt, wie es seiner würdig ist, wird durch keinen Ansturm der Ungerechtigkeit erschreckt und der himmlischen Seligkeit entrissen.“ ( Liber Sci Vias, S. 16 ).

Literatur:

Hildegard von Bingen, Liber Sci Vias ( Wisse die Wege ),übers. und hrsg. von Walburga Storch OSB, Verlag Herder Freiburg, Basel, Wien 1992

Ders., Liber Vite Meritorum ( Der Mensch in der Verantwortung ), übers. v. Heinrich Schipperges, Otto Müller Verlag Salzburg 1972

Ders., Liber Divinorum Operum ( Das Buch der göttlichen Werke ), übers. Von P. Paul Suso Holdener CSSR, Hovine – Verlag Ponchin ( F ), Marquain ( B ) 1989

Ders., Causae et Curae (Heilwissen ), übers. und hrsg. von Manfred Pawlik, Pattloch Verlag Augsburg 1989

Sr. Lydia Stritzl OSB

Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine der bedeutendsten Frauen des deutschen Mittelalters und ist heute weit über die Grenzen ihrer rheinischen Heimat hinaus bekannt. Ihre Zeitgenossen zog sie gleichermaßen in ihren Bann wie die Menschen, die heute nach Orientierung im Glauben, nach Ganzheit und Heil suchen. Am 7. Oktober 2012 wurde Hildegard von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin erhoben, eine Ehrung, die bisher in der Geschichte der Kirche nur 30 Männern und vier Frauen zu Teil wurde.

Hildegards theologisches, philosophisches, musikalisches und naturkundliches Werk und Selbstverständnis trägt stark visionäre und prophetische Züge. Göttlicher Ursprung dessen, was sie im „Lebendigen Licht“ geschaut und gehört hat, und Sendungsbewusstsein der Prophetin zeichnen es gleichermaßen aus. Die heilige Hildegard wollte die Menschen ihrer Zeit aufrütteln und der Gottvergessenheit entgegentreten. Dabei predigte sie keineswegs eine weltlose Innerlichkeit. Ihr ging es um die religiöse Deutung des gesamten Kosmos, um ein konsequent gelebtes christliches Leben. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Dasein in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe, war Geschenk und Aufgabe zugleich.
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Wenn Johann Wolfgang von Goethe unmittelbar vor seinem Tod, sozusagen in einem letzten Aufschrei, verzweifelt die Worte „mehr Licht!“ in die Welt hinausrief, so wird dies wohl nicht zu Unrecht als Ausdruck schmerzlichster und tiefster Sehnsucht des Sterbenden nach dem Transzendenten bewertet. Bis zum letzten Augenblick seines Lebens hat J.W. von Goethe mit und um Gott gerungen. Am Ende dann der Ruf nach dem Licht, das alle Dunkelheit erhellt, das Hoffnung aufstrahlen läßt und den menschlichen Geist erleuchtet und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.
Von jeher ist das Licht als Chiffre für Gott, als Bild dafür gebraucht worden, das unsagbare Geheimnis sagbar zu machen und die Frage nach dem Grund und Ziel allen Lebens zu beantworten. „Gott ist Licht“, sagt der Evangelist Johannes, und überall da, wo Gott sich in die Geschichte hinein offenbarte, erschien ein überhelles Licht. Licht aber erhellt nicht nur die Finsternis und ermöglicht das wahre Sehen, es spendet und erhält auch Leben, es schenkt Wärme und Heimat und wird damit zum Symbol der Gotteserkenntnis, des Lebens und der Liebe schlechthin.

Begegnung mit dem Licht
Auch das Leben Hildegards von Bingen (1098 – 1179) war bis zu ihrem Tod, bei dem der Legende nach ein strahlendes Licht am Himmel erschienen sein soll, gekennzeichnet vom Licht in all seinen Farben und Schattierungen. Weiterlesen

Hildegard beginnt ihre großen Visionswerke mit den Worten „Vidi et audivi“. Sie reiht sich damit in die Tradition der altestamentlichen Propheten und vor allem der apokalyptischen Schau des Sehers Johannes ein. Was aber ist eine Vision? Ein „himmlischen Fernsehapparat“, mit Hilfe dessen Gott der Seherin ihre Werke in die Feder diktierte? Oder gar eine Lichterscheinung infolge eines Migräneanfalls, wie andere behaupten? Die Wahrheit ist, wie so oft, viel einfacher und elementarer.

Werfen wir einen Blick in die Heilige Schrift – das Sehen kommt dort häufig vor, denken Sie nur an die Blindenheilungen, an Zachäus, an die Berufung des Nathanael, an die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das Wort „Vision“ kommt vom lateinischen Wort „videre“ – sehen. Sehen in biblischer Sicht bedeutet nicht zuerst äußeres Sehen und äußeres Wahrnehmen von Wirklichkeit. Sehen in biblischer Sicht bedeutet immer „liebendes Erkennen“, Einsicht in die Wesenheit der Dinge, die Gesamtschau der Zusammenhänge, ja letztlich die Erfahrung des unsagbaren Geheimnisses Gottes in Jesus Christus selbst. In diesem Sinne ist das Sehen eine Art Vorform des jenseitigen Schauens, die beginnhafte Vorausgestalt dessen, was wir gemeinhin als himmlische Glückseligkeit und als endgültige Anschauung Gottes bezeichnen. Gott, der Sehende schlechthin, gibt uns, seinen Geschöpfen, Anteil an seiner Sicht der Dinge und der Welt – und zwar immer dann, wenn wir uns liebend IHM zuwenden, wenn wir SEIN WORT hören und es gläubig annehmen. Sehen und Hören gehören also zusammen: Vidi et audivi – nicht nur bei Hildegard. Im Buch Deuteronomium heißt es: „Das Volk sah das Wort“, und bei Jesaja: „Das Wort, das Jesaja in einer Vision vernommen hat“ (2,1).

Die alten Mönchsväter nannten solche Art des Sehens und Hörens Kontemplation. Wichtig ist dabei zunächst, daß wir es nicht „machen“ können, so wie wir auch die Liebe nicht machen, sondern nur als Geschenk empfangen können. Es gibt keine „Technik“, deren korrekte Anwendung uns bereits den gewünschten Erfolg der Kontemplation beschert. Wir können uns nur bereiten, können offen sein für das Geschenk der Gnade – und dies überall und in jedem Augenblick unseres Lebens. Und, was ebenso wichtig ist, wir können uns ein-üben, Gottes Wort zu hören und alles mit seinen Augen zu sehen. Nichts anderes wollen Exerzitien sein – eine Einübung ins rechte Sehen und Hören.

Die Praxis der frühen Kirche, vor allem die Mönchstradition, lehrt uns den Dreischritt „Lectio – Meditatio – Oratio“ als Weg der Kontemplation. Hildegard hat diesen Weg von früher Jugend an eingeübt und hat so das Sehen gelernt. Anderthalb Jahrtausende lang fanden Menschen in diesem Dreischritt die Quellen ihres Christseins, beruhte auf ihm auch alle theologische Erkenntnis. Hildegard war wohl die letzte Vertreterin dieser sogenannten Monastischen Theologie. Vielleicht kann sie uns gerade deshalb heute wieder helfen, zu den Ursprüngen unseres christlichen Glaubenslebens und damit auch zur unmittelbaren Begegnung mit Gott zurückzufinden.

Betrachten wir also den erwähnten Dreischritt ein wenig näher. In der „Lectio“ wird der Text der Hl. Schrift aufmerksam und ehrfürchtig immer wieder gelesen und „zerkaut“ (ruminatio). In der „Meditatio“ vertieft der Leser den Text und sucht nach seiner inneren Wahrheit. Im Hören auf Gottes Wort dringt er zugleich auch in sich selber ein, und in dem er tiefer in sich selbst eindringt, erschließt sich ihm wiederum der Text. Ein solches Lesen bedeutet ein Neu-Lesen – nicht die Wiederholung eines toten Buchstabens – und ein Neu-Schaffen, denn der Leser war vor der Lektüre noch nicht das, wozu er im Lesen geworden ist. Die Lesung und Verinnerlichung in der Meditation führen ihn dann schließlich in die „Oratio“, in das Gespräch mit Gott. Der Leser erbittet, daß Gott selber ihm den Text erschließt und die wahre Erkenntnis des Wortes schenkt. Nun wird der Leser mit dem Gelesenen innerlich eins. Er ist hineingenommen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott und sieht von daher die Welt, ihr Wesen, ihre Zusammenhänge und sich selbst auf neue Weise. Es geschieht das, was wir Erkenntnis nennen, eine Vertrautheit mit dem Ganzen des Lebens und mit dem Absoluten. Es ist eine von der Liebe umfaßte und in ihr gründende Erkenntnis, die Gott in allen Dingen sieht und alle endliche Wirklichkeit auf die Gegenwart des Unendlichen hin durchsichtig werden läßt. Hier scheint dann etwas auf von der „alle Erkenntnis übersteigenden Erkenntnis“, von der die Heilige Schrift spricht. Erst eine solche Erkenntnis macht den Menschen, macht uns, dann auch zu wirklichen Zeugen, in deren Nähe Gott für andere spürbar wird.

Hildegard war so ein Mensch. In der Kontemplation erschloß sich ihr – wie sie im Vorwort zu ihrem Hauptwerk SCIVIAS schreibt – „der Sinn der Schriften“ und all dessen, was sie gelernt und im Leben erfahren hat. Kontemplation, und das möchte ich hier ganz besonders betonen, ist keineswegs an die Voraussetzung von Klosterzelle und Kreuzgang gebunden. Sie ist ein Weg und ein Geschenk, das Gott für jeden bereit hält. Vielleicht ist es gerade für uns heute besonders wichtig, zu den Quellen des Wortes zurückzukehren, anstatt mehr oder weniger aus Konserven pastoralliturgischer Hilfen zu leben. Lesung, Meditation und Gebet sind unverzichtbare Voraussetzungen gerade für die Verkündigung – sonst wird es dieser bald an Überzeugungskraft fehlen. Nur wenn das Wort erlauscht, aufgenommen, bewahrt und meditiert wird, kann es Propheten erwecken, die Befreier und Wegweiser sind.

SCIVIAS – Wisse die Wege oder Wegweisung – heißt das Hauptwerk Hildegards, das den Menschen ihrer Zeit und auch uns Wege zum Glauben an den dreifaltigen, an den liebenden und barmherzigen Gott eröffnete. Gott, Welt und Mensch – vereint in der Gesamtschau und in der Zeugenschaft des leidenschaftlich liebenden Herzens. Ob wir zu Ähnlichem heute die Kraft und den Mut haben?

Ich möchte Ihnen für eine Zeit der stillen Betrachtung die zweite Miniatur aus dem Buch SCIVIAS empfehlen (dazu Jes Sir 1,9 ff.). Sie trägt den Titel „Der Leuchtende“. Nähehin geht es mir hier um die Tugend der Gottesfurcht, die Hildegard als Gestalt, die über und über mit Augen bedeckt ist, darstellt. Die Gottesfurcht hat nichts mit Angst zu tun, sondern vielmehr mit Ehrfurcht. Sie ist ganz Auge und Ohr für Gott. Gott läßt sich durch die Gottesfurcht erkennen und wird durch sie geschaut. Deshalb ist sie der Anfang der Weisheit, wie es im Buch Jesus Sirach (1,14) heißt. Wer betet, der schaut auf Gott, und Gott schaut auf ihn.

Bitten wir am Schluß Gott: Du hast in der heiligen Hildegard das Verlangen geweckt, deine Größe allezeit liebend zu betrachten und zu preisen. Schenke uns auf ihre Fürsprache Wachstum in der geistlichen Erkenntnis, damit wir im Dunkel das Licht deiner Klarheit erkennen und wach sind für den Augenblick, wo du uns begegnen willst. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Von Sr. Philippa Rath OSB

Hildegard von Bingen, die zwei von ihr gegründeten Frauenklöstern vorstand und als Prophetin ihrer Zeit galt, bezeichnete sich in ihren Werken immer wieder als „einfältige Frau“. Eine sorgfältige Lektüre ihrer Werke dagegen verrät eine hochtheologische, sogar philosophische Bildung dieser Frau, die in den großen Fragen ihrer Zeit gleichrangig neben großen Theologen und Denkern stand.
Aus diesem Grund ist die wissenschaftlich-akademische Interpretation ihres Werkes ein durchaus angemessener Weg der Annäherung. Andererseits sind ihre Aussagen immer an den Menschen gerichtet, der nach Heil verlangt und nach Gott sucht. So führt auch der Weg der meditativen, besinnlichen Lektüre ohne philologische Voraussetzungen zu einem bestimmten Verständnis Hildegards, das für das eigene Leben fruchtbar werden kann. Dazu kommt die Popularisierung der sogenannten Naturheilkunde Hildegards, die einer breiten Schicht von Menschen Zugang zu Hildegard gewährt, diesen aber gleichzeitig auch verschließen kann. Weiterlesen

Die mittelalterliche Medizin und damit auch die Natur- und Heilkunde Hildegards von Bingen war ganz wesentlich geprägt vom Geist der Heiligen Schrift und der Benediktusregel. Diese haben keinerlei Behandlungsmethoden oder Heiltechniken im modernen Sinne überliefert, wohl aber ein Bild des gesunden und des kranken Menschen, konkrete Wege zu einer gesunden Lebensordnung und Lebensführung sowie die Kunde von Heil und Heilung des Menschen.

Hildegards naturkundliche und medizinische Schriften entstanden zwischen 1150 und 1160. Sie sind Kompilationen aus volkskundlichen Erfahrungen, antiker Überlieferung und benediktinischer Tradition. Weiterlesen

„Himmlisches mit Irdischem verbinden“ – das war zu allen Zeiten die besondere Aufgabe derer, die ihr Leben nach der Weisung des heiligen Benedikt ausrichten. Benediktinerinnen und Benediktiner – als Gesegnete und als Segnende, wie es ihr Name besagt – wollen Brückenbauer sein zwischen Himmel und Erde. In dem sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen und doch zeichenhaft an die eschatologische Dimension des Lebens erinnern, wollen sie mitwirken an der Verwandlung der Welt. Hildegard von Bingen war in diesem Sinne ganz eine Tochter des heiligen Benedikt. In ihrer Person verbanden sich scheinbar unvereinbare Gegensätze zu einer Spannungseinheit, die ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten freisetzte – vor 900 Jahren und auch heute. Weiterlesen

Die Hildegard-Ikonographie im Laufe der Jahrhunderte, mag es sich um Skulptur, Malerei oder Miniatur handeln, weist nur sehr selten Darstellungen auf, die die Meisterin von Rupertsberg und Eibingen in Beziehung zum Wein bringen oder ihr einen Rebstock als Attribut beigeben. Der Bildstock in der Kiedricher Weinbergslage „Heiligenstock“ zeigt somit ein seltenes Motiv, und das mit gutem Grund.

Aus der Tatsache, dass Hildegard die Wirkkraft des Weins zu therapeutischen Zwecken einbezieht, wie ihre heilkundlichen Schriften bezeugen, lässt sich folgern, wie sehr ihr diese geheimnisvolle Pflanzung vertraut gewesen sein muss. Offenbar von Kindheit an, denn ihrer Herkunft nach stammt sie aus dem Geschlecht derer zu Bermersheim, deren Stammsitz nahe bei Alzey lag, – „in einem weiten, von Reben und Korn umgebenen Tal“, wie eine romantische Landschaftsbeschreibung vermerkt. Da sich die besondere Begabung und Begnadung des Kindes Hildegard schon früh zeigte, vertrauten die Eltern, der Edelfreie Hildebert von Bermersheim und seine Frau Mechtild, ihr zehntes Kind der Klausnerin Jutta von Sponheim zur Erziehung an. Weiterlesen