Vor 10 Jahren wurde Hildegard von Bingen offiziell heiliggesprochen. In dankbarer Erinnerung daran ein paar Gedanken zu ihrer Botschaft:

Die Original-Texte zur Heiligsprechung sind auf unserer Homepage hier zu finden. Wer sich für die Werke Hildegards interessiert, im Original oder mit Hinführungen und Erklärungen dazu, wird auf der Hildegard-Seite in unserem Online-Shop fündig werden.

Jede Zeit braucht ihre Propheten, heißt es – Menschen, die ansagen, was die Stunde geschlagen hat. Manchmal weisen die Propheten aber auch über ihre Zeit hinaus und haben den Menschen aller Zeiten etwas zu sagen. Benedikt von Nursia und Hildegard von Bingen waren solche Menschen. Sie können auch heute richtungweisend sein – durch ihr Wort und durch ihr Lebensbeispiel. Beide hatten den Mut, gegen den Strom zu schwimmen und die Welt prophetengleich aus wahrhaft ‚ver-rückter‘ Perspektive zu betrachten. Benedikt, der mit seiner Lebensregel die ganze abendländische Kultur geprägt und ihr die entscheidenden Werte vermittelt hat, und Hildegard von Bingen, die in ihrer Zeit im Geist benediktinischer Lebensordnung lebte und ihn in ganz eigenständiger Weise neu geprägt und weitergegeben hat.

Es lohnt sich, diesem Geist und diesen beiden Persönlichkeiten nachzuspüren.

Die Suche nach dem transzendenten DU
Hildegard von Bingen verstand sich als Prophetin. Vor allem anderen sah sie sich berufen, ihre Zeitgenossen aus dem „Schlaf der Gottvergessenheit“ wachzurütteln. In immer neuen Bildern beschreibt sie in ihren Werken, daß solche Gottvergessenheit, wie sie es nennt, ins Chaos führt – ins Chaos der individuellen menschlichen Beziehungen, aber auch zur Zerstörung des Kosmos insgesamt. Ohne Einschränkung verweist sie die Menschen auf Gott als den Schöpfer aller Dinge. Nur in Ihm kann der Mensch den wirklichen und wahren Sinn seines Lebens finden. Spüren nicht auch wir heute immer deutlicher, daß der Mensch sich selbst niemals genug sein kann und nur dann Sinn findet, wenn er über sich selbst hinausschaut?. Kein innerweltliches Glück, weder Erfolg noch Macht, weder Konsum noch Leistung vermögen ihn auf Dauer zu befriedigen – das wußte Hildegard, und das wissen im Grunde auch wir. Seine Ursehnsucht und seine Suche nach Sinn verweisen den Menschen auf das Absolute und auf das Ewige. Das ist eine Wahrheit, die zu allen Zeiten ihren Bestand hatte.

Nicht umsonst steht die Suche nach Gott für Benediktinerinnen und Benediktiner seit jeher im Mittelpunkt ihres Lebens. Auch Hildegard war und blieb immer eine Suchende und Fragende. Gott und seinen Willen suchen in allen Dingen, in den großen Vollzügen des Lebens, aber auch in den scheinbaren Banalitäten des Alltags – das war ihr Lebensprogramm. Dabei blieb sie allerdings stets nüchtern und illusionslos, fest verwurzelt im Glauben und im Vertrauen auf eine immer neue Zukunft in Gott. Die Suche nach dem Transzendenten also – wäre sie nicht auch heute im wahrsten Sinne des Wortes not-wendend für unsere Zeit? Suchen nicht auch wieder zunehmend viele Menschen nach diesem sie selbst übersteigenden Ursprung und Ziel – oft allerdings auch dabei steckenbleibend im Vorletzten? Der personale Gott läßt sich finden, wenn wir ihn suchen. Aber „machen“ können wir dies nicht – nicht durch noch so ausgefeilte Techniken, Meditationsübungen oder Kurse. Das Bild der leeren Hände und offenen Herzen, in die sich die Gnade ergießt, ist dabei keineswegs ein frommer Überbau. Es wird Realität, wenn es uns gelingt, von uns selbst weg auf den ganz Anderen zu schauen.

Ehrfurcht – ein vergessener Wert?
Hildegard verweist ihre Zeitgenossen in einem weiteren Schritt auf die Dankbarkeit. Für sie ist das Leben Geschenk, sie weiß sich verdankt und ruft dazu auf, den Irrglauben einer falschen Autonomie über Bord zu werfen. Wer sich verdankt weiß, erfährt, daß eben nicht alles machbar ist, daß vieles, ja das Wesentliche unseres Lebens, Geschenk ist und nur dankbar staunend angenommen werden kann. Wer sich verdankt weiß, der wird auch mit dem Leben, mit allem Leben, ehrfürchtig und mit Achtung umgehen. Auch hier war Hildegard ganz Benediktinerin, heißt es doch in der Regel des hl. Benedikt: „Die Brüder und Schwestern sollen einander in Ehrfurcht zuvorkommen“, und an anderer Stelle: „sie sollen alles wie heiliges Altargerät behandeln“. Alles – jeden Menschen ohne Ausnahme, jedes Tier und jede Pflanze, auch alle Dinge – in Ehrfurcht betrachten, im Wissen um die Größe und Schönheit allen Lebens und das Wunder Gottes, das uns in allem Geschaffenen begegnet. Hildegard hat gezeigt, daß dies kein Traum bleiben muß. Jeder kann bei sich selbst anfangen, kann der Wegwerfmentalität im eigenen Herzen begegnen. Und vielleicht wird mancher staunen, wie sehr sich auch durch kleine Schritte die Welt verändern kann. Wäre die Wiederentdeckung der Dankbarkeit und der Ehrfurcht nicht ein Schritt zur Wiederherstellung gesunder menschlicher Beziehungen – im Großen wie im Kleinen, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso wie im normalen Alltag?

Das Maß aller Dinge
Auf dem Weg zu einer neuen Ehrfurcht nennt Hildegard von Bingen als wichtiges Hilfsmittel die „Discretio“, die weise Maßhaltung und Unterscheidung, die Benedikt in seiner Regel einst als „Mutter aller Tugenden“ bezeichnet hat. Die Maßlosigkeit war und ist offenbar zu allen Zeiten die Versuchung schlechthin. Liegt ihr Ursprung nicht im Bestreben des Menschen, in allem autark und autonom zu sein, niemanden zu brauchen und alles selbst zu beherrschen? Doch nicht erst wir Heutigen wissen, sondern auch Hildegard wußte bereits, daß solche Art Unmäßigkeit und Maßlosigkeit im wörtlichen Sinne weitreichende Folgen haben kann. Die vielen verschiedenen Formen der Sucht in unserer Zeit – Alkohol, Tabletten-, Drogen-, aber auch Arbeits-, Freizeit-, und Spielsucht – sprechen davon eine beredte Sprache. Sie alle, das wissen wir nur zu gut, sind Fehlformen, die aus ungestillter Sehnsucht nach heilem Leben erwachsen. Ausgewogene und maßvolle Lebensführung dagegen kann solchen „Krankheiten“ vorbeugen und darüberhinaus die Grundlage für eine neue Kultur des Alltags schaffen. „Ordo“ und „Regula“, Schlüsselbegriffe benediktinischen Lebens, weisen den Weg zu einer Lebensordnung, die zu heilen vermag. Das gilt für alle Bereiche des Lebens: für Essen und Trinken, Schlafen und Wachen, Bewegung und Ruhe, Schweigen und Kommunikation, Arbeit und Muße, Einsamkeit und Gemeinschaft. Hildegard, die Zeit ihres Lebens in der Ausgewogenheit des benediktinischen „Ora et Labora“ lebte, hat eine solche im wahrsten Sinne heil-bringende Ordnung immer neu im Bild der Harmonie beschrieben. Sich einfügen in das Ordnungsgefüge der Welt, Mitschwingen in der Harmonie des Kosmos und des Lebens, darum geht es. Und um das rechte Verhältnis der Lebensvollzüge, um das, was man heute Lebenstil nennen würde. Der Mensch braucht die Anstrengung ebenso wie das Zur-Ruhe-Kommen, die Stille ebenso wie die Unterhaltung, die Hinwendung zum Mitmenschen ebenso wie die Hinwendung zu Gott. Mit dem, was manche Zeitgenossen heute als Lustprinzip bezeichnen, hat das nur wenig zu tun. Auch die vielzitierten, sogenannten „Sachzwänge“ würde Hildegard nicht gelten lassen. Denn meist genügt schon ein kleiner Schritt, um die Meßlatte für Sinn, Inhalt und Ausrichtung des alltäglichen Lebens im Sinne der „Discretio“ wieder zurechtzurücken. Allerdings braucht es dazu den konkreten Willen zur Veränderung. Die Möglichkeit der Einsicht dazu hat der Mensch durch seinen Verstand. Er ist eben nicht dem eigenen Sosein hoffnungslos ausgeliefert, sondern kann sein Leben ändern. Er ist in der Lage, in Freiheit das rechte Maß zu finden und das Gute zu tun, denn, so wußte Hildegard von Bingen schon vor 900 Jahren: „O Mensch, du hast das Wissen um das Gute und Rechte in dir selbst. Deshalb kannst du dich durch nichts entschuldigen“. Womit entschuldigen wir uns?

Die armen Reichen und die reichen Armen
Eng verbunden mit der „Discretio“ ist für Hildegard der Wert der Armut im umfassenden Sinne. Armut hat im heutigen Sprachgebrauch einen ausschließlich negativen Klang. Im benediktinischen Sinne geht es bei der Armut nicht um die Idealisierung von Not oder Mangel, sondern um ein konkretes Mehr an Leben, um ein Reicherwerden an Freiheit – im Loslassen der Dinge, die uns binden. Mehr Lebensqualität kann durchaus darin bestehen, sich zu bescheiden und die eigenen Grenzen anzuerkennen, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, großmütig und gern. Gewinn durch Verzicht – wäre das nicht auch heute ein ganz und gar alternatives Lebensmodell? Dabei muß freilich der ganze Mensch in den Blick genommen werden. Zu allen Zeiten strebten die Menschen danach, zu haben, zu besitzen, mehr zu haben und immer mehr zu besitzen – und das nicht nur in materiellem Sinne. Der Mensch kann vieles, ja nahezu alles haben wollen: Begabung, Wissen, Zeit, Ehre, Ansehen, Beruf, Erfolg, Geld, Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Schönheit, Macht, Recht, Liebe, um nur einiges zu nennen. Wer aber alles haben will, der hat am Ende nichts. Wenn Hildegard und lange vor ihr der heilige Benedikt von Armut und Demut – diesem heute so vielfach verkannten Wert – sprechen, dann geht es ihnen darum, von „Menschen des Habens“ zu „Menschen des Seins“ zu werden. In der Freiheit des Loslassen-Könnens, des Verzichts z.B. auf bestimmte Lebensmöglichkeiten, Ausdrucksformen, Ideen und Ideale liegt für sie der eigentliche, oft ungeahnte Reichtum des Lebens. Nur, wer sich selbst loslassen kann, ist auch in der Lage, sich selbst zu überschreiten – hinein in die Unendlichkeit. Ahnen wir eigentlich noch, daß es durchaus möglich sein kann, sich selbst zu verwirklichen, in dem man sich selbst zurücknimmt? Wissen wir noch – oder vielleicht wieder – , daß das Wesentliche des Lebens eben nicht darin besteht, alles zu haben und alles zu tun, was wir tun möchten und tun können? Dies alles hat nichts mit Einschränkung und Minderung zu tun, viel aber mit wahrer Freiheit und mit Verantwortung. Vielleicht brauchen wir heute eine neue Befreiung, eine Emanzipation von der Versklavung an die Selbstsucht – hinein in eine neue Freiheit in Gebundenheit und Verantwortung.

Weltgestaltung in Freiheit und Verantwortung
Die Spannungseinheit von Freiheit und Verantwortung ist vielleicht der für uns heute wichtigste Kerngedanke, den uns Hildegard von Bingen ans Herz legt. Zwar ist der Mensch frei erschaffen, aber diese Freiheit darf keineswegs mit Beliebigkeit oder gar Willkür gleichgesetzt werden. Der Mensch ist Geschöpf und von daher eingebunden in die Schöpfungsordnung. Er ist immer und von jeher Gerufener, Hörender und Antwortender zugleich. Es lohnt sich an dieser Stelle, einen Blick in die Benediktus-Regel zu werfen, aus der Hildegard gelebt und geschöpft hat. Nicht umsonst beginnt dieser auch nach 1400 Jahren noch faszinierende Text mit dem Wort „Höre!“ – „Obsculta o fili, praecepta magistri“ (Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters). Hören setzt Schweigen voraus, ebenso aber die Bereitschaft, dem Anruf in Freiheit zu antworten. Ant-wort und Ver-antwort-ung gehören dabei untrennbar zusammen. Für Hildegard wie für Benedikt ist der Mensch nicht nur „Opus“, freies Geschöpf Gottes, sondern zugleich auch „Operarius“, Mitschöpfer Gottes, der die Weltkräfte kultiviert und sie zum Wohle aller gebraucht. Der Mensch hat einen Auftrag in der Welt und an der Welt und trägt Verantwortung für sich selbst wie für die gesamte Schöpfung. Das gilt für jede und jeden, nicht nur für die Großen und Mächtigen. Hildegard betont dabei immer wieder die Wechselwirkung zwischen dem Handeln des einzelnen und den Auswirkungen dieses Handelns auf das Ganze dieser Welt. Mikro- und Makrokosmos sind wechselseitig Spiegel füreinander. Das gilt im positiven wie im negativen Sinne. Nichts geht verloren oder ist unwichtig. Kein Bemühen ist umsonst. Ist dies nicht ein tröstlicher, aber auch ein ungeheuer herausfordernder Gedanke angesichts des in unserer Zeit oft so entsetzlichen Gefühls der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an anonyme Mächte und Gewalten? Wissen wir überhaupt noch um diese einmalige Würde des Menschen, die ihn befähigt, sich selbst und die ganze Welt sinnvoll zu gestalten? Schaffen wir uns noch Raum für das Schweigen, aus dem erst das Hören geboren werden kann und in einem zweiten Schritt das zielorientierte Handeln möglich wird? Haben wir den Mut zur Veränderung: in Freiheit und Verantwortung?

Liebe und Barmherzigkeit als Heilmittel für eine kranke Welt
Ein Letztes: in Freiheit übernommene Verantwortung für sich selbst und für die ganze Welt ist für Hildegard ein schöpferischer Akt der Liebe. Es ist die liebende Antwort des Menschen auf die unendliche, ganz und gar ungeschuldete, immer schon dagewesene Liebe Gottes zum Menschen. Die Liebe bewegt die ganze Welt, sie sitzt genau in der Mitte der Achse und entscheidet darüber, ob die Welt im Lot bleibt oder aus den Fugen gerät. Das zeigt einmal mehr, daß Liebe im eigentlichen Sinn nicht erstlich eine Sache des Gefühls ist. Hildegard, wie nach ihr der große Thomas von Aquin, versteht die Liebe als eine vernünftige, geordnete, bewußt gewollte und weise Lebenskraft, die schöpferisch wirkt und alles zusammenhält. Daß solche Liebe auch Mühe kostet und Kraft, ja sogar Leiden schaffen kann, ist selbstverständlich. Die Liebe ist für Hildegard „brennende Vernunft“, „rationalitas“, in der Gottes Geist selbst west und immer neu – oft unter Schmerzen – Leben schafft. Liebe hat also mit Vernunft zu tun. Sie muß gewollt sein und erstrebt werden. Wäre nicht auch das für uns heute ein geradezu revolutionärer Gedanke? Wissen wir überhaupt noch um eine solche vernünftige, auch kämpferische Liebe – oder baden wir nur noch in der unverbindlichen Gefühligkeit dessen, was moderne Zeitgenossen uns als wahre Liebe verkaufen wollen? Die Liebe beweist sich in der Standhaftigkeit und Treue und ist deswegen keineswegs immer der leichtere, wohl aber der wahrhaftigere Weg.

Gilt die Liebe allen Menschen – und das wäre das Ziel -, so erweist sie sich vor allem in der Barmherzigkeit, die einer für den anderen aufzubringen bereit ist. Für Hildegard – und auch hier steht sie ganz in der Tradition des hl. Benedikt – ist solche Barmherzigkeit die „magna medicina“, die Medizin für Leib und Seele schlechthin. Wer barmherzig sein kann mit sich und vor allem mit anderen, der weiß um seine eigene Begrenztheit und Schwäche, besitzt aber gleichermaßen eine Ahung dessen, wie Gott sich den Menschen und seine ganze Schöpfung ursprünglich gedacht hat. Er kann Fehler nachsehen, strahlt Güte aus und vor allem Geduld. Uns Heutigen sind solche Haltungen vielfach abhanden gekommen, obwohl wir uns im Grunde unseres Herzens so sehr danach sehnen. Besinnung tut da not, aber auch Neuanfang in kleinen Schritten. Wie befreiend und tröstlich kann es sein, wenn wir Menschen begegnen, die etwas ausstrahlen von dem, was im wahrsten Sinne des Wortes Heil und Leben spendet. Benedikt von Nursia und Hildegard von Bingen waren solche Menschen. Doch auch heute können wir Menschen dieser Art begegnen oder danach streben, solche zu werden. Wir sollten sie nicht vorschnell als weltfremde Utopisten und Träumer abtun. Denn sind sie es nicht eigentlich, die uns hoffen lassen? Hoffen, daß es sich lohnt, zu werden, was wir sind: Menschen?

Sr. Philippa Rath OSB

Die geschichtlichen Wurzeln des Klosterweinguts reichen bis ins 12. Jahrhundert, in die Zeit unserer Gründeräbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179). Schon damals betrieben die Schwestern der Klöster Rupertsberg und Eibingen erfolgreich Weinbau. Ihre Weingüter hatten beträchtliche Bedeutung in der Region. Diese Tradition setzt das heutige Klosterweingut fort. 

Die Abtei St. Hildegard kann auf eine mehr als 850-jährige Geschichte zurückblicken, und von den ersten Anfängen an war vermutlich der Weinbau mit ihr verbunden. Die Klostergründung läßt sich auf Hildegard selbst, die später den Beinamen „von Bingen“ erhielt, zurückführen. Geboren wurde Hildegard 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Gemahlin Mechtild, deren Stammsitz nahe bei Alzey lag, – „in einem weiten, von Reben und Korn umgebenen Tal“. Weiterlesen

Gott, der Vater und Schöpfer aller Dinge, mit bärtigem Antlitz, überragt die ganze Welt. Er sprengt den Rahmen des Bildes, denn er ist der Herr über alles, was ist. An seiner Brust trägt er das gewaltige Schöpfungsrad, das von der Kraft der Liebe, einer feurigen Christus-Gestalt gehalten und gleichsam umarmt wird. Die gestaltgewordene Liebe sagt von sich: „Ich habe jeden Lebensfunken entzündet. Mit Weisheit habe ich das All geordnet. ich bin das heile Leben. Alles hat seine Wurzel in mir.“
In der Mitte des Kosmosrades steht der Mensch. Der Blick des Betrachters bleibt zunächst wie gebannt auf diese androgyne Gestalt gerichtet, die den Menschen schlechthin symbolisiert. DerMensch steht aufrecht, ganz aufgerichtet, mit ausgebreiteten Armen, mitten im Fadenkreuz des Kosmos. Durch seinen Leib ist er eingeästet in die gesamte Schöpfung wie die Zweige in einen Baum. Seine Fingerspitzen berühren einen der Kreise, die sich um ihn herum befindet.
Nur langsam nimmt man auch die anderen Dinge wahr. Blaue und weiße Kreise sind da zu sehen, Schichten, die von außen nach innen den Äther, das Wasser, die Luft mit Wolken und Regen symbolisieren. Nach mittelalterlicher Vorstellung waren dies die Urelemente der Schöpfung. Genau in der Mitte des Bildes sehen wir eine braune Kugel. Sie steht für die Erde, auf der alles Leben sich ereignet.
Dann sind da, feine, goldene Linien, die die Kreise und auch den Menschen durchziehen und die unterschiedlichen Bereiche und Teile des Bildes mitenander verbinden. Ein geheimes Netzwerk entsteht, das Himmel und Erde, Mensch und Natur – ja alles Leben miteinander in Beziehung setzt. Jedes Geschöpf, so sagt Hildegard, ist von einem anderen abhängig, alles ist miteinander verbunden und aufeinander angewiesen, alles antwortet einander und hält einander in Spannung. Das Geheimnis des göttlichen Schöpfungsplanes, nach dem jeder Mensch in einem dreifachen Beziehungsgeflecht steht: nach oben zu Gott, nach rechts und links zu den Mitmenschen und nach unten zur Tier- und Sachwelt.
Im Übergang von den blauen zu den beiden roten Kreisen ist symbolisch das Windsystem dargestellt. Aus allen vier Himmelsrichtungen entsteigen Tierköpfe: Leopard, Wolf, Löwe und Bär. Von den Sternen rundum gehen Strahlungen aus, die wiederum alle Elemente des Kosmos erfassen. Ein Lichtnetz durchdringt so die ganze Schöpfung. Der Mensch aber hält das Weltennetz in seinen Händen. Er ist Geschöpf, aber auch Mitschöpfer Gottes.
„O Mensch“, sagt Hildegard, „du bist mir verantwortlich“. Jeder einzelne ist also existentiell in diese Verantwortung gerufen. Durch sein unterscheidendes Wissen um Gut und Böse kann er die Welt gestalten und aufbauen – sie aber auch ins Chaos stürzen. Die Entscheidung liegt bei ihm. Die Kraft zum rechten Tun aber muß er sich von Gott erbitten.
Hören wir zum Schluß einen Auszug aus dem Originaltext Hildegards zum Bild des Kosmosmenschen:

„Mitten im Weltenbau steht der Mensch. denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach oben gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er alles in Bewegung zu setzen. Was er mit seinem Werk bewirkt, das durchdringt das All. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis erstrecken. So hat der gläubige Mensch sein Dasein im Wissen aus Gott und strebt in seinen geistlichen wie weltlichen Bedürfnissen zu Gott. Immer richtet sich sein Trachten auf Gott, dem er in Ehrfurcht entgegentritt. Denn wie der Mensch mit den leiblichen Augen allenthalben die Geschöpfe sieht, so schaut er im Glauben überall den Herrn. Gott ist es, den der Mensch in jedem Geschöpf erkennt. Weiß er doch, daß Er der Schöpfer aller Welt ist.“

Sr. Philippa Rath OSB

Ein Wort der Hoffnung können wir uns niemals selbst zusprechen. Hoffnung muß ein anderer uns zusagen, einer, der es gut mit uns meint, einer, der die Grundmelodie unseres Herzens kennt und sie uns zuruft, wenn wir sie vergessen haben. Einem verzweifelten, orientierungslosen und suchenden Zeitgenossen rief Hildegard von Bingen vor 900 Jahren zu: „Schau auf zum Herrn, und die Welt wird neu!“
„Schau auf zum Herrn, und die Welt wird sich verändern, weil du sie mit neuen Augen siehst“ – das ist, meine ich, ein wahrhaft prophetisches Wort: zeitlos gültig und heute so aktuell wie damals. Ein Wort, das Richtung weist, auch uns. Vielleicht ist dieses Wort sogar der Schlüssel zu einer neuen Hoffnung. Denn ohne Hoffnung können wir nicht leben. Wo keine Hoffnung ist, da stirbt Leben, da öffnen sich keine Türen mehr, da bleibt alles verschlossen und versinkt in einem Sumpf von Resignation und Verzweiflung. Wir erleben solches heute, doch seien wir getrost: auch zur Zeit Hildegards waren solche Gefühle und Stimmungen keineswegs unbekannt.

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Die Musik der heiligen Hildegard ist ohne den Hintergrund ihrer benediktinischen Lebensform nicht zu verstehen. Schon mit 14 Jahren begann für Hildegard das klösterliche Leben im Schatten eines Mönchskonventes. Mit 16 Jahren entschied sie sich auf Lebenszeit für die benediktinische Lebensform. Die heutige Interpretation der Hildegard-Musik ist häufig gelenkt von der Suche nach „Außergewöhnlichem“. Hier nun ein anderer Ansatz: Ihre benediktinische Lebensform, ihr Alltag, der zunächst der gewöhnliche in einem benediktinischen Kloster war.

1. Benediktinische Liturgie im Mittelalter – das Umfeld Hildegards

Wie sah Mönchtum, benediktinisches Leben zur Zeit Hildegards aus? Ja, man darf wohl sagen, das sich viele Spuren, die Grundwerte, bis in unsere Tage erhalten haben. Mönchtum nach Benediktusregel bedeutet, dem Gottesdienst nichts vorziehen. Der Glaube der Mönche äußert sich nirgendwo so intensiv wie in der Liturgie – leiturgia: Gottes Werk an uns, unser Werk für ihn – Dienst. Liturgie steht im Mönchtum in engster Verbindung mit dem gesamten monastischen Leben. Allein schon die Tagesordnung in einem mittelalterlichen Kloster zeigt dies auf: das Opus Dei ist die Hauptpflicht eines Klosters im Mittelalter. Gleichzeitig ist sie damit auch Quelle aller monastischen Bildung zu der sie gleichzeitig anregte und worin sie sich verwirklichte, denn in ihr begegnet der Mönch zu einem großen Teil der Hl.Schrift und den Gedanken der Kirchenväter, also der theologischen Überlieferung. In der Liturgie fand die monastische Bildung aber auch ihre vornehmliche Ausdrucksmöglichkeit. Für die Liturgie, oder durch sie angeregt, verfaßten die Mönche ihre meisten Schriften, ja man darf auch sagen: ihre Meisterwerke, die heute zum Allgemeingut abendländischer Liturgie geworden sind. Liturgie, d.h. hier im weitesten Sinn: alle Ausdrucksformen des Gebetes. Im Mittelalter gewinnt immer mehr die besondere Hochschätzung des öffentlichen Gottesdienstes an Bedeutung, ja sie wird zum Merkmal monastischen Lebens schlechthin. Das ganze monastische Leben verlief unter dem Zeichen der Liturgie, im Rhythmus des Stundegebetes, der Zeiten und Feste des Kirchenjahres. Liturgie war einfach das Beherrschende im Mönchsleben, die Sorge: Gott in allem zu verherrlichen. Dieses Grundanliegen kommt in allen Schriften zum Ausdruck und zwar in dreifacher Hinsicht:

1. Schriften, die Themen der Liturgie behandeln
2. Texte, die für den Gebrauch im Gottesdienst bestimmt waren
3. Schriften, die den Einfluß der Liturgie auf die Frömmigkeit der Mönche bezeugen.

Im Zusammenhang des Themas interessiert besonders der 2.Punkt: Die Schriften, die die Mönche für die Liturgie verfaßten. In diesen Jahrhundert entstehen eine Fülle neuer Texte: Tropen, Hymnen, Sequenzen – Gedichte von höchster künstlerischem Wert – bis hin zu Mysterienspielen. Alle diese Werke haben nur das eine Ziel: Gott zu loben, ihm Antwort zu geben auf seine Liebe. So schreibt z.B. Walter von Coincy, daß alle Mönche in seinem Kloster „die lieblichen Litaneien, die schönen und süßen Sequenzen mit lauter Stimme und in hellen Tönen“ sangen. Es gab sogar Klöster, die ein Fest einsetzten oder einen Festrang erhöhten, nur um der Freude willen, dabei schöne Texte zu singen oder vorzutragen.

Was kennzeichnete diese Literatur?: Sie nährten sich aus der Bibel und den Schriften der Väter. Die Ausdrucksweisen sind konkret und reich an Bildern. Ihre Worte wiegen weniger durch das, was sie sagen, als durch das, was sie sagen wollen; die Kraft der Vergegenwärtigung ist größer als die begriffliche Genauigkeit. Jedes Wort gleicht einer Note, die den ganzen Akkord zum Klingen bringt. Die mittelalterlichen Autoren bedienen sich der Worte der Heiligen Schrift in freier, harmonischer Form. Die großen Heilswahrheiten der Offenbarung stehen im Mittelpunkt ihrer Frömmigkeit, ihres Denkens. In ihren Gottesdiensten feiern die Mönche die Geheimnisse der Erlösung, die Heiligen, die deren lebendige zeugen waren, die Gottesmutter Maria, in der sich die Geheimnisse des Glaubens erfüllt haben. In allen Dichtungen spiegeln sich froher Glaube, glühende Begeisterung, innige Freude und Vertrauen in die Führung Gottes wider. Freude an Gott, an seinen Wohltaten in der Schöpfungen – das mußten die Mönche des Mittelalters einfach heraussingen, herausjubeln und immer wiederholen.

Nun mußten die Texte aber noch in eine musikalische Form gebracht werden. In ihren Gottesdiensten wurde – und bei uns in Eibingen wird es bis auf den heutigen Tag – alles gesungen. Gottesdienst war aber selbstverständlich kein Konzert oder primär ästhetisches Tun. Ja im „Speculum virginum“ (unbekannter Verfasser) wurde sogar gesagt: „Lieber mit rauher Stimme singen als sich im Chor langweilen.“ „Musicus et monachus“ – das war für mittelalterlichen Mönche ein wichtiges Zusammenspiel in einer Persönlichkeit (Guido v. Arezzo). Sie wurden Musiker, weil sie Mönche waren. In allen ihren Schriften stehen nebeneinander Theorien über modi und toni und Gedanken über Liturgie und monastisches Leben. Der Zweck ihrer Arbeit sahen sie darin, ihren Mitbrüdern zu helfen, sich durch einen wohlgeordneten einmütigen Gesang dem Lobpreis anzuschließen, den das All und die Engel Gottes darbringen und schon auf Erden den ewigen Gesang im Himmel vorwegzunehmen.

Insgesamt kann man sagen: Die Liturgie hat dem ganzen Leben der Mönche, der ganzen monastischen Kultur ihr Siegel aufgedrückt. Die Liturgie und ihre Feste haben den Lebensrhythmus der Mönche geprägt. Umgekehrt gilt: Die Liturgie ist Widerschein und Krönung ihrer Kultur. In den Texten und Kompositionen verdichtet sich die Theologie der Mönche, fand ihre Sehnsucht nach Gott den ihr angemessenen Ausdruck. In der Liturgie hatten die Mönche Anteil am ewigen Lobgesang

2. Hildegards musikalisches Schaffen im Rahmen ihrer benediktinischen Lebensform

„Nunc omnis ecclesia in gaudio rutilet ac in symphonia sonet.“ „Nun erstrahle die ganze Kirche in Frohlocken und erschalle in symphonischen Klang.“ Diese Worte aus dem Hymnus, den wir gerade gehört haben, treffen ins Zentrum dessen, was bisher allgemein über das Mönchtum gesagt wurde. Wie zentral die Musik im Leben, in der Theologie, in der Anthropologie und Kosmologie Hildegard war, läßt sich schon an folgendem Phänomen festmachen: In unzähligen Variationen besingt sie Gott, das Schöpfungsgeschehen, das Mysterium der Inkarnation, ja den gesamten Kosmos mit einer Bildersprache aus dem Bereich der Musik. Vom Urbeginn her ist alles vom Musik durchtönt. Schlüsselworte ihres Werkes sind: Symphonie, Harmonie, Klang.

Ich möchte nun in drei Punkten über das musikalische Schaffen Hildegards sprechen: 1. Aspekte der Überlieferung des musikalischen Werkes Hildegards. 2. Die Texte der Gesänge und ihre Verwurzelung im Gottesdienst des Klosters Rupertsberg.3. Die musikalische Umsetzung der Texte.

2.1 Aspekte der Überlieferung

Die Lieder der hl. Hildegard sind uns in zwei bedeutenden Handschriften hinterlassen. Die ältere Handschrift, Kodex 9 (Villarenser Kodex, Kloster Villers) des heutigen Klosters Dendermonde ist noch zu Hildegards Lebzeiten auf dem Rupertsberg geschrieben worden. Dann die jüngere HS, kurz nach dem Tod Hildegards ev. im Zusammenhang mit dem Heiligsprechungsprozess auf dem Rupertsberg geschrieben, der sogenannte Riesenkodex, heute HS 2 in der Hessischen Staatsbibliothek/Wiesbaden. Sodann sind uns einzelne Gesänge in verschiedenen HSS z.T. auch ohne Neumennotation überliefert, insgesamt rechnen wir mit 77 Gesängen und das Mysterienspiel „Ordo virtutum“. Diese Kompositionen umfassen Antiphonen, Hymnen, Sequenzen und Responsorien, meist zu den vielfältigsten Ereignissen des Kirchenjahres verfaßt. Das wohl bedeutendste Selbstzeugnis in Bezug auf ihre Musik gibt uns Hildegard in der Praefatio zum „Liber vite meritorum“. Dort bezeichnet sie selbst ihre Lieder als „symphonia harmoniae caelestium revelationem“, etwas frei übersetzt: musikalische Umsetzung der Harmonie des Himmels. Aber auch im „protocollum canonisationis“, d.h. in der Heiligsprechungsakte aus dem 13. Jh., ziemlich bald nach ihrem Tod, enthält schon Zeugenaussagen über ihr musikalisches Schaffen. Dort kommen Stellen vor wie : „caelestis harmoniae cantum“ – Lieder der himmlischen Harmonie, die sie geschrieben hat, oder von „cantum eius“. Daß eine hohe musikalische Begabung bei ihr vorausgesetzt werden kann, darf man vielleicht auch davon ableiten, daß ihr Bruder Hugo Domkantor in Mainz war.

2.2 Die Texte und ihre Verwurzelung im Gottesdienst des Klosters Rupertsberg

Inhaltlich darf man die Lieder Hildegards nicht lösen von ihrem gesamten Prosawerk, wenngleich sie auch daneben recht eigenständig stehen. Sie verarbeiten die Themen etwas anders als in ihren Prosawerken, aber es sind dennoch die Themen, die auch für das 12. Jh. als typisch belegt sind. Gott, der Schöpfer und Vater, neigt sich in Liebe seinen Geschöpfen zu. Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes – die Menschwerderung war besonders bei Bernhard von Clairvaux das große Thema des Hochmittelalters. Jesus Christus, der Erlöser steht ganz im Mittelpunkt ihrer Lieder. Der Hl. Geist – die Lieder an den Hl.Geist, zu Ehren des Hl. Geistes, gehören sicher mit zu den schönsten Teilen ihres Schaffens. In einer dieser Aantiphonen „Spiritus Sanctus vivificans vita“ besingt Hildegard den Hl.Geistes als „radix in omni creatura“ , die Wurzel alles Schöpfung. Der Hl.Geist ist in ihrem Denken derjeigen, der in allem lebt und alles bewegt und neu belebt. Ein relativ großer Teil ihrer Carmina ist Maria gewidmet. Durch Bernhard von Clairvaux wissen wir auch, welche große Stellung als Folge der Menschwerdung Maria im Denken des Hochmittelalters hatte. Durch ihr Ja-Wort holt sie das Nein Evas im Paradies wieder ein (Doppelung Eva – Ave). Maria heilt die Wunde des Todes. Hildegard nennt sie in einem Responsorium „mater sanctae medicinae“ – Mutter der Heilkunde. Maria gibt durch die Geburt der verlorenen Menschheit das Leben zurück; und sie gießt dadurch Salböl in die Wunde des Todes und hat dadurch das Leben wieder aufgerichtet. Solche Bilder aus dem Bereich der Medizin benutzt Hildegard immer wieder und weist damit auf die eigentliche Krankheit des Menschen hin, nämlich die Krankheit zum Tod, die Krankheit der Gottverlassenheit, der der Mensch durch die Gottvergessenheit entfliehen will. Heil wird – im Denken Hildegards – nur da, wo sich der Mensch wieder auf den Weg zu rück, auf den Ursprung besinnt und sich wieder in die Urverbundenheit mit Gott begibt. Insgesamt sind uns 16, als eine sehr große Zahl, an Maria überliefert. Die anderen Teile ihres musikalischen Schaffens gelten vor allem den Heiligen. Es fällt auf, wenn man es überblickt, daß sie jeweils zwei Gesänge zu einem Thema geschrieben hat, zwei über die Engel, zwei über die Patriarchen und Propheten, zwei über die Apostel, zwei über die Martyrer, zwei über die Bekenner, drei über die Jungfrauen, eine über die heiligen Frauen. Im Mittelalter beachtete man besonders hoch den Stand der Jungfräulichkeit, d.h. es kommt in ihrem musikalischen Schaffen der ganze „himmlische Hofstaat“ vor. Dies ist insofern bemerkenswert, als sie in der Schlußvision ihres Werkes Scivias verschlüsselt beschreibt, welches in ihrem Denken die Aufgabe der Musik ist. In dieser Vision schaut sie die Himmelsbürger in der Gemeinschaft der Heiligen. Sie sind vereint in einem einzigen Lobpreis der Herrlichkeit Gottes. Jeder Gruppe der Heiligen ist ein Musikinstrument zugeordnet, entsprechend Ps 150, wo beschrieben wird, wie und mit welchen Instrumenten in besonderer Weise Gott zu loben ist. Der Mensch wird in dieser Schlußvision aufgerufen, in diesen Lobpreis einzustimmen, denn, so schreibt Hildegard: „Jubellieder, die in Einfalt, Einmütigkeit und Liebe erschallen, geleiten die Gläubigen zu jener Seeleneinheit, die keine Zwietracht kennt. Sie bewirken, daß die, die auf Erden weilen, mit Herz und Mund nach dem himmlischen Lohn trachten.“ Hildegard meint, daß im Lied, in der Musik der Mensch hier auf Erden schon Anteil am ewigen Lob des Himmels nimmt. Mit dieser Deutung des Liedes sind wir eigentlich im Zentrum dessen, was Hildegard mit ihrer Musik ausdrücken will. Sie steht da ganz in der Tradition unseres Ordensvaters, des hl.Benedikt. Im 19. Kapitel seiner Regel spricht er vom Verhalten beim Psalmensingen: Der Mönch soll wissen, daß er beim Chorgebet Anteil hat an der himmlischen Liturgie, eindedenk des Psalmenwortes: Im Angesicht der Engel will ich dir lobsingen. Das Beten der Klostergemeinschaft ist also ein Eintauchen in das ewige Gebet der Engel, ein Eintauchen in die Gemeinschaft der Heiligen. Engel, hier verstanden als Bild, als Symbol von Gottes Gegenwart. Durch das Gebet, den Lobpreis als gesungenen Gebet wird der Mensch hineingenommen in die heilende und liebende Gegenwart Gottes. Im musikalischen Tun, im Singen erhebt sich der Mensch gleichsam aus seiner Erdenverhaftung und läßt sich schon, natürlich nur anfanghaft, in die Sphäre des Himmels mit hineinnehmen, die Sphäre des Himmels, die uns allen als letztendliches Lebensziel zugedacht ist: das Einswerden mit Gott und mit allen, die schon vor uns dieses Ziel erreicht haben. Wie schlimm muß in diesem Zusammenhang für sie und ihre Schwestern auf dem Rupertsberg das Interdikt durch die Mainzer Prälaten gewesen sein. In einem Brief beschreibt sie ihre Not: Das Interdikt untersagte dem Konvent den gesungenen Vollzug des Stundengebetes. Deswegen war sie und ihre Schwestern in große Traurigkeit gesunken. Gott singend zu loben, ist die Berufung des Menschen, darin sind sie Gefährten der Engel, dadurch halten sie die Verbindung zum ihrem heilen Ursprung aufrecht. Die singende Stimme eines Menschen spiegelt ähnlich der Körpersprache seinen inneren Zustand wider. Das Singen des Gotteslobes ist eine Erinnerung daran, wie wir von Gott gemeint sind und worauf wir uns hin entwickeln dürfen. Es gab zu allen Zeiten Menschen, deren Aufgabe es war, im Menschen die Sehnsucht nach dem göttlichen Ursprung wachzuhalten (Propheten). Als ich diese Gedanken zusammenstellte, fiel mir ein: man müßte einmal darüber nachdenken, was es heißt, wenn heute das Singen für viele Menschen „auf das Badezimmer“ reduziert ist. Damit verlernen wir etwas, was Hildegard noch ganz elementar gewußt hat: daß wir im Singen schon unser Lebensziel vorausnehmen, daß wir uns im Singen schon abheben können von dieser Erdenverhaftung. Wenn man weiter darüber nachdächte, käme man sich auf viele anthropologische, psychologische oder vielleicht auch theologische Konsequenzen. Dies sei aber nur am Rande bemerkt. In den monastisch-liturgischen Zusammenhang sind noch andere Gesänge Hildegards einzureihen, die bisher noch nicht erwähnt wurden. Es sind dies Gesänge von mehr lokaler Bedeutung. Hildegard schreibt Lieder auf Heilige, die ihr durch Klosterpatrozinien bekannt sind, z.B. Disibod, Rupertus, Matthias, Eucharius, Maximin und Bonifatius. Diese Lieder geben Aufschluß darüber, welche Beziehung Hildegard zu welchen Klöstern hatte, so natürlich zu ihrem Heimatkloster Disibodenberg, aber auch zu den Klöstern in Trier und Mainz. Auffällig ist auch, daß Hildegard eine große Anzahl von Liedern der hl.Ursula und den Elftausend Jungfrauen gewidmet hat – 13 an der Zahl.. An diesem Beispiel läßt sich erkennen, wie sehr Hildegard trotz der Universalität doch auch ihrer Zeit verhaftet ist. Wir wissen aus anderen Berichten, daß Elisabeth von Schönau, mit der sie sehr verbunden war, die Verehrung der hl.Ursula und der Elftausend Jungfrauen sehr gepflegt und empfohlen hat. Damals fing man auch in Köln an, die vermeintlichen Reliquien auszugraben. Von daher versteht sich die große Anzahl der Ursula-Gesänge. Ein kleiner Teil läßt auch einen direkten liturgischen Bezug ihrer Gesänge erkennen, vier Gesänge zum Kirchweihfest, zwei Antiphonen zu neutestamentlichen Cantica – Magnificat und Benedictus – und ein Kyrie. Im Villarenser Kodex, einer Gebrauchshandschrift, sind auch alle Antiphonen mit Psalmenkadenzen versehen. Das trifft nicht zu für den Riesenkodex in Wiesbaden, weil dieser als Prachthandschrift nicht für den täglichen Gebrauch bestimmt war. In jedem Fall ist jedoch dadurch belegt, daß die Carmina zum liturgischen Gebrauch vorgesehen waren. Wir wissen auch aus Zeugnissen, daß Hildegard ihre Musik im liturgischen Vollzug des Klostergottesdienstes gebraucht hat. Wibert von Gembloux, der 1177- 1179 auf dem Rupertsberg mitlebte, in einem Brief von 1175, die Gesänge von Hildegard seien geschrieben: ad laudem Dei et Sanctorum honorem compositi et in ecclesia publice de cantori facit. – zum Lob Gottes und zu Ehre der Heiligen komponiert, und sie wurden öffentlich in der Kirche vorgetragen.

2.3 Die musikalische Umsetzung der Texte

Die Gesänge, die uns in den erwähnten Codices überliefert sind, sind in der für das 12. Jahrhundert typischen Neumennotation geschrieben. ( 4 Notenlinien, fa-Linie jeweils rot , do-Linie gelb eingefärbt) Kirchmusikalisch gesehen befinden wir uns in der Spätzeit des Gregorianischen Chorals. Die feine Notationsweise der Blütezeit, wie wir das auch heute noch aus den HSS z.B. der Kodices von St.Gallen oder aus dem französischen Laon kennen, ist schon vorbei. Hildegard kennt eben schon das System der Notenlinien, wie es Guido von Arrezzo entwickelt hat. Aus den HSS läßt sich ein Rhythmisierung nicht ableiten. (Interpretationsweisen: Aequalismus – Mensuralismus) Wenn man sich das kirchmusikalische Umfeld des 12. Jh. vor Augen führt, dann scheinen die Gesänge Hildegards das Gewohnte zu überschreiten. Selbst die aus der Spätzeit der Gregorianik entstanden Kompositionen haben zwar Ansatzpunkte und Vergleichspunkte, aber Hildegards Schaffen geht immer über diesen Rahmen hinaus. Die Modalitäten lassen sich oftmals nur schwer erkennen, der Tonraum ( Extrem: 2 ½ Oktaven“(O vos angeli“, durchschnittlich 1 1/2) sprengt oft alles das, was wir sonst aus dieser Zeit gewohnt sind. Diese Melismenfreudigkeit fordert von den Sängern ein Höchstmaß an Perfektion, sowohl technisch als auch musikalisch. Dieser Befund steht – vordergründig gesehen – etwas im Widerspruch zu einer Selbstaussage Hildegards, nämlich die, daß sie musikalisch ungebildet war. An vielen Stellen spricht sie davon, daß sie „indocta“ sei, ungelehrt. Dies bezieht sich auch auf die Musik. Sie sagt damit von sich, daß ihr das handwerkliche Rüstzeug zum Komponieren gefehlt hat. Aber andererseits ist das auch kein Widerspruch. Wenn man bedenkt, daß das 12.Jh. noch ganz dem antiken Bildungsideal verhaftet war, dann kann sich Hildegard tatsächlich als „indocta“ bezeichnen, denn die Antike reihte die Musik innerhalb der sieben Künste an den fünten Platz zwischen Arithmetik und Geometrie. Man betrachtete die Musik rein unter den Aspekten von Gesetzmäßigkeit und Struktur. In diesem Sinn kann man tatsächlich sagen – und würde das alles-sprengende der Hildegardischen Lieder erklären -, daß sie „indocta“ war, nämlich in Beziehung auf Struktur und Gesetzmäßigkeit von Musik. Aus meiner Sicht war das vielleicht gerade ihr großer Vorteil. Sie spürte in sich eine große musikalische Intuition und konnte – befreit von allen Strukturen und Gesetzen der Musik – ihren Empfindungen freien Lauf lassen. Insgesamt entspricht meiner Vermutung einem Urteil, dem ich mich anschließen möchte, das Professor Dronke von der Universität Cambridge hinsichtlich der Liedtexte gefunden hat. Dies korrespondiert genau mit dem, was wir auch in der Musik, in den Melodien vorfinden: „In den poetischen Werken Hildegards begegnet uns eine höchst individuelle Sprache, manchmal unbeholfen, manchmal unklar. Die Aneinanderreihung von Adjektiven wirkt begrenzt, manche Einschübe gar übertrieben. Es ist nicht die geschliffene Sprache eines Humanisten des 12.Jh., sondern die eines Menschen, der durch seine einzigartige Kraft poetischen Vision mehr als einmal mit den Grenzen dichterischen Ausdrucks konfrontiert wird. An Höhepunkten jedoch überschreitet Hildegard diese Grenzen nahezu triumphierend und erreicht eine visionäre Konzentration und einen beschwörenden und assoziativen Reichtum, der ihr Werk absetzt von nahezu allen anderen religiösen Dichtungen ihrer Zeit.“

Hildegard sagt einmal: symphonialis est anima. Die Seele ist symphonisch. Dieses Wort gilt im höchsten Maß für sie selbst. Symphonisch, so interpretiere ich es, ist die Seele, die zu einer inneren Ordnung zurückgefunden hat, in der die inneren widerstrebenden Kräfte zur Einheit, zur Harmonie zusammengewachsen sind. Dies ist und bleibt Ziel jeden menschlichen Lebens, das wir in dieser Zeitlichkeit und Begrenztheit nie erreichen werden. Genau dies ist der Wurzelgrund, auf dem die Lieder Hildegards gewachsen sind. Sie sind Ausdruck eines Menschen ihrer Zeit, der auch von den Wellen der Zeit hin- und hergerissen wurde, aber dennoch in diesem Hin-und Hergerissensein das Streben nach Ganzheit, nach Einheit nicht aufgegeben hat. Der Einheitspunkt – da dürfen wir vom 12. Jh. lernen, ist für Hildegard unumstritten, der Zentralisationspunkt ist Gott selbst. Nur der kann zur Einheit und Ganzheit finden, der seinen Lebensanker an die richtige Stelle geworfen hat, nämlich in Gott hinein. Hildegards Musikschaffen kann vielleicht in diesem Sinn auch therapeutische wirken. Ihre Musik will heilen, indem sie Zugang zum Heil vermittelt, letztlich zum Heiler selber, der Gott ist, Gott in Christus, Christus in Maria. Da ist das Heil, das Hildegard uns vermitteln will.

In der Sequenz „O virga ac diadema“ besingt Hildegard das gesamte Erlösungswerk. In der Heiligsprechungsakte aus dem 13. Jh. wird berichtet, daß drei Nonnen des Rupertsberges nach dem Tod Hildegards bezeugt, daß sie durch den Keuzgang ihres Klosters geschritten und eben diese Sequenz gesungen hat. Der Text der Sequenz endet in der letzten Strophe mit einer Bitte an Maria – Hildegard nennt sie sogar ’salvatrix‘, Heilerin, Miterlöserin: „Sammle die Glieder deines Sohnes zur himmlischen Harmonie“. Wenn man eines aus dem musikalischen Schaffen Hildegards heraushören kann, dann ist es vielleicht die Aktualität dieser Bitte auch für uns heute. Welche Gebetsbitte wäre für die Menschen unserer Tage notwendiger denn diese: Führe uns zur himmlischen Harmonie!

Sr. Christiane Rath OSB

Im fünften Kapitel ihres zweiten großen Visionswerkes “Welt und Mensch“ (Liber divinorum operum) schenkt uns die heilige Hildegard eine bedeutungsvolle Zusammenschau der schöpferischen Kraft Gottes im Sechs-Tage-Werk und dem geistlichen Leben des Glaubenden. Es ist die gleiche viriditas (Grünkraft), die das All vollendet und die Heilung des Menschen zum Ziel hat. Beides ist aufeinander bezogen und führt zur Heilung, zur Wiederherstellung der gestörten Schöpfungsordnung.
Um die Kraft der viriditas ein wenig zu verstehen, könnte man als Vergleich die Photosynthese der Pflanzen anführen. Sie besagt, dass das Blattgrün die „schöpferische“ Fähigkeit besitzt, Sonnenlicht aufzunehmen und es in Energie zu verwandeln, die für den Organismus lebensnotwendig ist. Dieser Stoffwechselvorgang ist einer der wichtigsten physiologischen Prozesse und Voraussetzungen für die Existenz des Lebens. Die Pflanze erhält mittels des Lichtes, einer von außen auf sie treffenden Energie, eine neue Qualität. In Analogie dazu ist festzustellen, dass auch die geistigen Schöpfungskräfte des Menschen im Aufstieg zu Gott in eine höhere Seinsstufe gehoben werden. Dabei verlassen wir den klassischen Weg-Gedanken des geistlichen Lebens: sich Gottes erinnern, zu Ihm rufen, gegen die eigene Schwachheit kämpfen, nach der Niederlage in Reue zu Gott umkehren und geheilt werden, und schließlich das Werk Gottes mit eigenem Tun in Beziehung setzen und damit zur Vollendung der Schöpfung beitragen.
Jetzt umkreisen wir eher das geistliche Leben, so wie auch die Seele mit ihrer Kraft das All umkreist.

Der erste Tag:
„Die Erde ist noch wüst und leer, von Finsternis und Chaos beherrscht. Der Geist Gottes schwebt über diesem Chaos. Und Gott spricht: ‚Es werde Licht!’“ (Gen 1,2f.)
In das Chaos bricht von oben her das Licht ein, hinein in die verworrene Masse. Die erste Kraft des Lichtes (prima virtus lucis) ist im Menschen die compunctio cordis, die Zerknirschung des Herzens, ein unerhörter Aufbruch zu Gott hin. Schmerzlich beglückt verlangt der Mensch aus seiner Gebrochenheit heraus nach Gott. Dieses Sehnen kommt vom Himmel her, auch wenn der Mensch der Sünde verhaftet bleibt. Die compunctio cordis ist wie ein unaufhörliches Tagen, das von keiner Finsternis verdeckt wird. Es ist ein bewegender Aufschrei: „Herr, erbarme dich meiner“, so beschreibt ihn Hildegard, „und wenn man alle Wüsten und Meere durchmessen könnte, würde man kaum das Ausmaß der Heilung mit all’ ihrer Freude und unbeschreiblichen Herrlichkeit bleibenden Lebens ermessen können“.
Uns mahnt sie: „Ihr verbietet eurer Seele dieses Sehnen und nötigt sie, keine Hilfe bei mir zu suchen. Wer aber kann jemandem antworten, dessen Stimme er nicht hört? Niemand. Ihr richtet ja keinen Ruf um Hilfe an mich. Welche Gabe (Heilung) soll dem gegeben werden, der gar nichts sucht, sondern vor dem Geschenk flieht? Ihr verlangt nichts mehr von mir.“

Der zweite Tag:
„ … es scheide sich Wasser von Wasser. Gott machte das Firmament…“ . (Gen 1,6f.)
Dieser beständige Prozess der Scheidung und Unterscheidung ist im Menschen die Kraft der discretio, der weisen Maßhaltung. Sie ist nicht so sehr ein opus, ein Werk, sie ist vielmehr die Unterstützung, der Halt für alles. Die Kraft der discretio ist entscheidend, bedeutend bis in die höchsten Stufen der Vollkommenheit. Solche Kraft berücksichtigt und unterscheidet beides: die Sehnsucht nach dem Himmel und die Sorge um das Irdische. Der Leib ist ja, so Hildegard, „im Feuer des Heiligen Geistes gestaltet worden. Er soll weder durch maßlos Auferlegtes Gutes wirken, noch durch negatives Verhalten zugrunde gehen.“ Er sollte im Wechsel von Gebet, Arbeit und Erholung leben.
Die discretio ist eine Treppe oder Leiter, auf ihr soll die Seele zum Himmel emporsteigen und zur Erde herunterklettern um des irdischen Bedürfnisses willen. Beides ist Gott wohlgefällig.
In einem Brief an eine besorgte Äbtissin rät die Meisterin Hildegard: „Sei Martha und liebe Maria!“
„So besteht das Gefüge der Tugend in beiden Lebensweisen, indem der Mensch in rechtem Maß die Unterscheidung trifft.“ Die discretio lenkt Leib und Seele und schafft feste Lebensgewohnheiten. Sie ist sozusagen ein Tugendgesetz, das das konkrete Leben mit einbezieht, die sanfte Rücksicht nimmt und Augenmaß hat (doctrina quae respicit ad vitam).

Der dritte Tag:
… es erscheine das Trockene. … Die Erde bringe Kräuter und Samen hervor. (vgl. Gen 1,9.11)
Die mütterliche Erde erhält die Kraft, Grünes hervorzubringen. Hildegard sieht in der Demut (humilitas – humus) die dritte Schöpfungskraft, d.h. der Mensch erkennt seine Schwachheit in seinem irdischen Leib. Der gefallene Engel Luzifer brach in Gelächter aus, als er den Plan Gottes vernahm, den Menschen in der Hinfälligkeit des Leibes zu schaffen. Er begriff nicht, dass Gott selbst sich zur Erde geneigt und das Gewand des Menschen angezogen hat, den Leib. Gerade in der Schwachheit des Leibes wollte Gott uns erlösen und den Teufel besiegen.
Demut heißt: auf die Niedrigkeit seines Fleisches schauen und bedenken, dass wir aus Ton sind. „Wie verwehende Asche bin ich vor dir.“ „Nur wer bei der Wurzel mit dem Aufstieg beginnt, kommt nicht so leicht zu Fall. Nur wer die Fühlung mit der Erde behält, kann den Himmel erreichen.“
Hildegard schreibt über die Verkündigung, dass Maria zuerst auf die Erde schaute, aus der sie genommen war, dann seufzte sie auf zum Himmel und sprach: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn“.
Hildegard erklärt weiter: „Wenn das Wort einer Zurechtweisung angenommen wird, dann fällt der Same Gottes auf gute Erde und bringt die Frucht der virtutes, der Kräfte Gottes und der Tugend des Menschen hervor.“

Der vierte Tag:
„Es werden Lichter am Himmelsgewölbe…“ (Gen 1,14)
Aus den Gaben des Heiligen Geistes sollen Lichter hervorgehen, damit der Mensch Gott und seinen Nächsten liebe wie sich selbst. – Wie soll das geschehen?
„Mit der ganzen Kraft seiner Seele (viriditas) soll der Mensch beharrlich zu Gott flehen und nicht – gleichsam von außen her – glaubenslos, einen anderen Helfer als Gott suchen, sondern kraftvoll, ohne zu wanken auf Gott schauen.“ Es überrascht, dass Hildegard das als einzige Notwendigkeit vermerkt, will man der Liebe Ausdruck geben. Den Nächsten zu lieben, heißt zuerst einmal, nicht würdelos mit ihm umzugehen, als sei er der Untergebene. Immer die Würde des anderen respektieren! „Erde verwirft die Erde nicht, ihr seid eine Erde!“ Dann gilt es, die Bedürfnisse des anderen zu sehen, ihm zu helfen, ihn nicht zu verachten, sondern Gemeinschaft mit ihm zu haben.

Der fünfte Tag:
„Das Wasser bringe Kriechtiere hervor und die Vögel über der Erde unter dem Himmel!“ (Gen 1,20)
Hier setzt Hildegard die contemptio mundi, den Abstand, die innere Distanz von der Welt an. Das Herz solle weder an Güter noch an Laster gebunden werden. (Man denke an den Hochmut, den Eigenwillen, die Habsucht etc..) Nichts festhalten wollen, an nichts kleben und haften, sich selbst beherrschen in Beten, Fasten und Enthaltsamkeit. Gleichsam wie die Vögel zum Himmel fliegen können.
Es folgen bei Hildegard bemerkenswerte Aussagen: „Wer alles um meines Namens willen verlässt [Eigenwille, Begierden, Hochmut] und auf mich schaut, der wird hundertmal so viel Ruhe, den Frieden des Herzens (quies cordis) auf irdische Weise empfangen, gerade weil er die Sorge um das Irdische abgelegt hat und mir [Gott] gefolgt ist … . Ein solcher Mensch verlässt die Welt und durchdringt sie zugleich mit dem Tau des Heiligen Geistes. Er zieht Scharen von Menschen an sich, so dass viele in Gott wiedergeboren werden … . Ein solcher Mensch ist in allem gelöst und heiter.“
Doch gerade auf der hohen Stufe der Vollkommenheit warnt Hildegard vor der Maßlosigkeit. „In allem aber soll der Mensch sich das rechte Maß auferlegen. Die discretio allein ist es, die die Distanz von der Welt lenkt, dass sie nicht im Überschwang des Geistes höher steige, als sie getragen werden kann.“

Der sechste Tag:
„Die Erde bringe lebendige Wesen hervor … . Und Gott sprach: ‚Lasst uns Menschen machen nach unserem Bilde!’“ (Gen 1,24.26)
Der sechste Tag ist dem Gehorsam zugeordnet: jener starken Kraft, die in Gott dem Tod seine Macht nimmt. Alle Geschöpfe sind dem Menschen untertan (gehorsam). Der Mensch kann nach dem Beispiel Christi seinen Eigenwillen aufgeben, den Geboten Gottes und den Weisungen heiliger Lehrer gehorchen. Und er ist auch anderen Menschen im Gehorsam untertan. Darin liegt für Hildegard ein Doppeltes, nämlich ein männliches und ein weibliches Tun. Einmal ist es die große Kraft des Gehorsams, die weder vor sich noch vor einem anderen feige jedweder Ungerechtigkeit ausweicht. Gott selbst ist diese Kraft der Gerechtigkeit im Gehorsam des Menschen. Hildegard schreibt an die Mainzer Prälaten einen Brief, in dem sie für die Gerechtigkeit ungeschminkt eintritt. „Die Gerechtigkeit Gottes ist eine starke Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit, bis diese besiegt am Boden liegt.“ Dem Gehorsam wohnt aber noch eine zweite Kraft inne, die Hildegard dem Wirken der Frau zuschreibt: „So wie Gott sich des Elends des Menschen annimmt und in seine Reue das Öl der Barmherzigkeit gießt, so soll sich auch der Mensch des anderen barmherzig annehmen.“ An anderer Stelle lässt die hl. Hildegard dies poetisch anklingen:
„Die Seele ist wie der Wind, der über die Kräuter weht,
und wie Tau, der auf die Gräser träufelt
und wie Regenluft, die wachsen macht.
Genauso ströme der Mensch sein Wohlwollen aus
auf alle, die da Sehnsucht tragen!
Ein Wind sei er, indem er den Elenden hilft,
ein Tau, indem er die Verlassenen tröstet
und Regenluft, indem er die Ermatteten aufrichtet,
und sie mit der Lehre erfüllt wie Hungernde,
indem er ihnen seine Seele gibt.“

Der siebte Tag:
„Also wurden vollendet Himmel und Erde…“ (Gen 2,1)
Am siebten Tag schaut Gott in den Schoß der Jungfrau wie der Adler in die Sonne schaut und bringt alles zur Vollendung in Seinem Sohn. Er ist gewissermaßen die Vollendung, das siebte Werk Gottes. Im Reich der Welt trägt er dann in Maria die Vollendung hinein in die Kirche. Er ist der kostbare Edelstein, mit dem Gott all’ seine Werke schmückt. Gott ruht aus in seinem Sohn von seinen Werken. Der Sohn fängt an, im Schoße der Jungfrau zu wirken.
Er, der Sohn, ist die interiora benedictio, die innerste, tiefste Segnung, die Heilung. Der Mensch aber vermag an seiner Vollendung mitzuwirken, indem er den göttlichen Sohn nachahmt. Und worin besteht solche Nachahmung vor allem?
So wie Christus uns in die Fülle der Freude gehen lässt, indem Er uns jede Schuld vergibt, die wir ehrlich bekennen und bereuen, so ist es die größte Würde und Herrlichkeit des Menschen, wenn er wie Christus jedwedes Unrecht seinem Nächsten vergibt. Auf diese Weise wird dann der Mensch in der Vollendung seines geistlichen Lebens zum Segen, zur Heilung für die Wunden und Unversöhnlichkeiten der ganzen Welt. Wir werden immer nur diese oder jene der schöpferischen Kräfte Gottes in unserem Wirken „gebären“, und doch stehen wir schon im Gefüge des Ganzen, denn alles antwortet einander. Im Bekenntnis unserer Schwachheit aber ist es uns jederzeit möglich, das Licht Gottes über unserem Chaos aufleuchten zu lassen. Wer solchermaßen im Glauben offen bleibt für den Heiligen Geist, wird – so Hildegard – habilitas, d.h. bewohnbar nicht nur für Gott, sondern auch für die Mitmenschen. Er kann ihnen bei sich Heimat geben, Gastfreundschaft im tiefsten Sinne gewähren. Wie viel Sehnsucht gibt es heute danach! Darüber hinaus entsteht ein Stück konkret „bewohnbare“ Erde.
In jenem fünften Kapitel ihres Visionswerkes sieht die Prophetin die Erde in bewohnbare und unbewohnbare Bereiche aufgeteilt; nicht im geographischen Sinne, dennoch nicht irreal oder imaginär, sondern wirklich vorstellbar. Man kann auch die Gestalt der Seele oder eines Engels nicht beschreiben, und doch sind diese Unsichtbaren real und sehr stark da. Die Unbewohnbarkeit ist für Hildegard eines der Symptome der zerfallenen Schöpfung. In Jer 22,6 heißt es: „Sion, ich mache dich zur unbewohnbaren Stadt.“ Ein solches Wort mag stellvertretend stehen für die vielen Gerichtsworte der Hl. Schrift. Auf der anderen Seite hören wir die Heilsverheißungen Gottes an Sein Volk: „Ich führe dich zur bewohnten Stadt. Israel soll in Sicherheit wohnen.“

Anmerkung:

Die sieben Tugendkräfte – Zerknirschung des Herzens (compunctio cordis), Unterscheidung, weise Maßhaltung (discretio), Demut (humilitas), Liebe, ganze Kraft der Seele (viriditas), Enthaltsamkeit, innere Distanz, (contemptio mundi), Gehorsam (oboedentia) und Barmherzigkeit (misericordia) – werden von der hl. Hildegard – sozusagen in einer Art ‚Selbstvorstellung’ – in ihrem Werk „Der Mensch in der Verantwortung“ (Liber vitae meritorum) beschrieben.
Es ist kein Zufall, dass die Barmherzigkeit bei Hildegard in das grüne Gewand der viriditas gekleidet ist, jener Grünkraft, die die elementare Lebenskraft überhaupt ist.

Sr. Caecilia Bonn OSB

Die heilige Hildegard war eine bedeutende Universalgelehrte, die ein umfangreiches und äußerst facettenreiches Werk hinterlassen hat. Sie war gleichermaßen Ordensfrau und Wissenschaftlerin, Theologin und Philosophin, Musikerin und Dichterin, Natur- und Heilkundige. Ihr gesamtes Werk zielt darauf ab, den Menschen mit Gott in Berührung zu bringen und ihn zu einem Leben aus dem Glauben zu ermutigen.

Die sieben wichtigsten Werke der heiligen Hildegard:

LIBER SCIVIAS – Wisse die Wege (1141–1151)

In Hildegards erstem theologischem Visionswerk, einem umfassenden Glaubensbuch, durch das sie schon zu Lebzeiten berühmt wurde, geht es einerseits um die Wege Gottes zu den Menschen in Schöpfung, Erlösung und im Verlauf der Geschichte und andererseits um die Wege des Menschen zu Gott.

LIBER VITAE MERITORUM – Das Buch der Lebensverdienste (1158–1163)

Das zweite Hauptwerk Hildegards entfaltet in Form von dramatischen Dialogen zwischen 35 Tugenden und Lastern den untrennbaren Zusammenhang zwischen Kosmos,Heilsgeschichte und sittlichem Handeln des Menschen. Dabei wird deutlich, dass die persönlichen Entscheidungen Teil der kosmischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse sind.

LIBER DIVINORUM OPERUM – Das Buch vom Wirken Gottes (1163–1170)

Das große Alterswerk der heiligen Hildegard befasst sich mit einer umfassenden Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch. Hier werden noch einmal alle Grundthemen und Grundanliegen Hildegardsin einem großen und ausgereiften Wurf zusammengefasst.

CAUSAE ET CURAE – Ursprung und Behandlung der Krankheiten (1150–1158)

In diesem Werk beschreibt Hildegard einerseits eine Vielzahlvon Krankheitsbildern, deren Ursache und Symptomatik und gibt andererseits Anweisungen zur Behandlung dieser Krankheiten mit Heilmitteln aus der Natur. Einen besonderen Stellenwert haben dabei auch die Ratschläge zur Vorbeugungvon Krankheiten und zu einer gesunden und maßvollen Lebensführung.

PHYSICA – Heilsame Schöpfung – die natürliche Wirkkraft der Dinge (1150–1158)

In diesem Werk werden die Kräfte der Natur und ihre Wirkung auf den gesunden und den kranken Menschen in neun Kapiteln
beschrieben: Kräuter, Elemente, Bäume, Edelsteine, Fische,Vögel, Landtiere, Kriechtiere und Metalle. Dabei hebt Hildegard immer wieder den Verweischarakter der sichtbaren Dinge auf eine unsichtbare Wirklichkeit hervor.

SYMPHONIAE – Lieder (1151–1170)

Das Buch der Lieder enthält 77 Gesänge, die die heilige Hildegard komponiert und gedichtet hat. Dazu das geistliche Singspiel »Ordo Virtutum« (Reigen der Tugenden), das zur Einweihung der Klosterkirche auf dem Rupertsberg uraufgeführt wurde.

EPISTOLAE – Briefe (1147–1179)

Die Briefsammlung umfasst 390 Briefe der heiligen Hildegard an bekannte und unbekannte Zeitgenossen. Die Briefe enthalten sowohl persönliche als auch allgemeingültige Botschaften. Hildegard erscheint in ihnen als wache Zeugin des Zeitgeschehens und mahnt kirchliche und weltliche Amtsträger mit wahrhaft prophetischem Sendungsbewusstsein.

Zu den wichtigsten Handschriften der hildegardischen Werke gehört der Lucca-Codex des Liber divinorum operum, der  bis heute unversehrt erhalten ist.

Die Handschrift ist mit reichen Miniaturen illuminiert und gibt Zeugnis von der hohen Kunst mittelalterlicher Buchmalerei. Die 10 Tafeln des Lucca-Codex entstanden erst in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, vermutlich in der Schreibstube eines mit dem Kloster Rupertsberg in Verbindung stehenden Klosters. Den Malern dieser Miniaturen standen als Vorlage nur die Texte Hildegards zur Verfügung.

Allen Miniaturen gemeinsam ist, dass sie dem Betrachter einen außergewöhnlichen Einblick in den Reichtum der in Bilder umgesetzten Visionen Hildegards gewähren.

Wie wunderbar ist doch das Wissen im Herzen Gottes,
der urewig jedes Geschöpf hat erschaut.
Denn Gott, da er blickte ins Antlitz des Menschen
Er sah all sein Werk insgesamt in dieser Menschengestalt.
Wie wunderbar ist doch der Hauch, der den Menschen zum Leben erweckte.

Der Mensch durch den Hauch Gottes zum Leben erweckt, ist das Thema in Hildegards Schriften, die heute in allen Erdteilen, auf der ganzen Welt bekannt sind. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist es hilfreich, Aussagen über den Menschen aus unserer christlichen Kultur zu haben in Hildegard von Bingen, die grundlegend für alle Menschen gelten, unabhängig von Religion und Konfession.

Hildegard, das zehnte Kind, aus dem fränkischen Hochadel bei Bermersheim, lebte von 1098 bis 1179. Die nach ihrem Tod entstandene Vita enthält auch autobiographische Aufzeichnungen.

„In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern.
Bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, manches erzählte ich einfach, so dass die es hörten, sich wunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst. Während ich tief in meiner Seele schaute, behielt ich doch das äußere Sehvermögen. Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte.

Viele äußere Dinge erfuhr ich nicht wegen der häufigen Erkrankungen, an denen ich von der Muttermilch an bis jetzt gelitten habe, die meinen Leib schwächten. Als ich davon erschöpft war, versuchte ich von meiner Amme zu erfahren, ob sie irgendetwas sähe, abgesehen von den äußeren Dingen. Und sie erwiderte nichts, weil sie nichts dergleichen sah. Da ward ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandem zu offenbaren.“( Vita , S. 71 / 72 )
Dieses Sehen des “lebendigen Lichtes“, das Gott von Kindheit an Hildegards Seele eingeprägt hatte, diese Gabe der Schau, blieb viele Jahre verborgen, bis zu dem Tag, an dem es Gott offenbaren wollte.

Wie es in jener Zeit üblich war, wurde Hildegard, das 10. Kind, von ihren Eltern für das religiöse Leben bestimmt. Mit 14 Jahren ging Hildegard mit der Verwandten Jutta von Sponheim ,die 20 Jahre alt war, in die Frauenklause auf den Disibodenberg. Im Schatten des dortigen Männerklosters lebten sie nach der Regel des hl. Benedikt. Um 1114 erhielt Hildegard, die sich den Wunsch ihrer Eltern zu eigen gemacht hatte, den Schleier durch Bischof Otto von Bamberg. Hildegard, die sich eine ungelehrte Frau nannte, hatte einen Elementarunterricht in der Vulgata-Bibel und lateinischen Kirchenvätern halten, ebenso etwas in den sieben freien Künsten und dem liturgischen Leben der Benediktiner. Nach dem Tode der Jutta von Sponheim wurde Hildegard im Jahre 1136 die Leitung der angewachsenen Frauengemeinschaft als Magistra übergeben.

Als Hildegard 42 Jahre und 7 Monate alt war, sah sie plötzlich einen überhellen Glanz und hörte eine Stimme vom Himmel, die ihr zurief: „Du hinfälliger Mensch, du Asche, du Fäulnis, sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Schreibe, wie es dem Willen dessen entspricht, der alles weiß, alles sieht und alles in der Verborgenheit seiner Geheimnisse anordnet.“ „Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. Es verbrannte nicht, war aber heiß wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen. Plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen Bücher des Alten und Neuen Testamentes.“

(WW, Vorrede) ,Hildegard, die seit ihrer Kindheit wundersame Gesicht schaute, hatte alles mit Schweigen begraben bis zu diesem Eingreifen Gottes. „Die Gesichte, die ich sah, empfing ich nicht im Schlaf, sondern im wachen Zustand, bei klarem Verstand, durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, an zugänglichen Orten, wie Gott es wollte.“ „Ich sehe diese Dinge einzig in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen“, schreibt Hildegard später an den Mönch Wibert von Gembloux, „wachend schaue ich dies, so dass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide. Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als „der Schatten des Lebendigen Lichtes“ bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. Von meiner Kindheit an erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, wo ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin. (BW S. 227)
Hildegard hörte nach ihrer Erleuchtung:
„Ich, das lebende Licht, das die Dunkelheit erleuchtet, habe den von mir erwählten Menschen herausgeholt und unter große Wunder versetzt, wie es mir gut schien. Sie übertreffen alles, was die alten Seher in mir an Geheimnissen schauen durften. Doch warf ich ihn zur Erde, damit er sich nicht in Geistesstolz erhebe. Du, aber Mensch, der du das zur Offenbarung des Verborgenen Bestimmte in einfacher Klarheit empfängst, schreibe, was du siehst und hörst!“

„O hinfälliger Mensch aus Erdenstaub, sprich über den Zugang zur unvergänglichen Erlösung, damit alle belehrt werden, die den inneren Gehalt der Schriften kennen, ihn jedoch nicht aussagen und verkünden wollen. Ergieße dich wie ein überfließender Quell, erhebe dich, rufe und verkünde, was dir kraft göttlichen Beistandes offenbart wird. Denn er, der seine Schöpfung kraftvoll und gütig regiert, durchströmt mit dem Licht himmlischer Erleuchtung, die ihn fürchten und ihm in freudiger Liebe im Geist der Demut dienen. Und er führt sie zu den Freuden der ewigen Schau, wenn sie auf dem Weg der Gerechtigkeit ausharren.“
(WW S.10)

Bezwungen durch viele Krankheiten, legte Hildegard Hand ans Schreiben und brachte dieses Werk in zehn Jahren zustande: „Wisse die Wege“, „Scivias“. In dieser Glaubenskunde stellt die Seherin das Schöpfungs- und Erlösungsgeschehen von seinem Beginn bis zu seiner Vollendung in großartigen Bildern dar. Das Werk ist in 3 Teile gegliedert:
Im 1. Teil geht es um die Schöpfung, den Fall der Schöpfung und die Folgen des Sündenfalls.
Der 2. Teil hat die Erlösung durch Christus und die Fortsetzung des Erlösungswerkes durch die Kirche zum Gegenstand. Der 3. Teil stellt das gesamte Heilgeschehen unter dem Bild eines Gebäudes dar, an dem bis zum letzten Tag , dem Tag der großen Offenbarung, gebaut wird. Scivias zeigt die Wege auf, die Gottes Weisheit mit der Schöpfung und dem Menschen ging, um die gefallenen Menschen zu erlösen, bis diese Wege am Ende der Zeiten in den Schoß des dreifaltigen Gottes münden.
„ Scivias, Wisse die Wege“ ist zwischen 1141 und 1151 entstanden und wurde mehrfach abgeschrieben. Es gibt 10 vollständige und 7 fragmentarische Textzeugen, Wiesbaden (Eibingen), Vatikan, Heidelberg, Eberbach, Gent, München, Brüssel, Dendermonde, Bernkastel-Kues, Oxford, Fulda, Berlin, Hannover, Trier, Mainz.
„Scivias“ beginnt nach der Vorrede mit der ersten Vision über den „Lichtherrlichen“, der als eine Gestalt von solchem Glanz auf einem großen eisenfarbenen Berg thronte, dass ihre Herrlichkeit die Augen Hildegards blendeten. Mit dem Lobpreis der Heiligen schließt das Buch „Scivias“.
Hildegard war von Papst Eugen III. mit den Bischöfen auf der Trierer Synode in ihrer Sehergabe bestätigt worden, nachdem diese einige Visionen aus Scivias gelesen hatten.

In die Zeit der 1. Visionsschrift fiel die Weisung Gottes von den Mönchen auf dem Disibodenberg wegzuziehen und ein eigenes Kloster zu bauen auf dem Rupertsberg am Zusammenfluß von Nahe und Rhein, bei Bingen. Durch Krankheiten wurde die Seherin stark gehemmt und oft in schwere Schmerzen verstrickt, wie auch jetzt durch den Widerstand der Mönche. Doch Gott hat Hildegard immer wieder neu belebt.
Unter großen Schwierigkeiten zog Hildegard im Jahre 1150 mit 18 Nonnen in das Kloster auf dem Rupertsberg, weil Gott es wollte. Dort schrieb sie ihr erstes Werk, „Wisse die Wege“, zu Ende.

Das zweite große Visionswerk, das Hildegard von 1158 bis 1163 verfaßte, ist das „Buch der Lebensverdienste, der Liber Vitae Meritorum“, vom Übersetzer Heinrich Schipperges Der Mensch in der Verantwortung genannt. „Als ich 60 Jahre alt geworden, erlebte ich eine gewaltige und wunderbare Schau, auch mit diesem Gesicht hatte ich ein halbes Jahrzehnt zu tun.“ (LVM S. 27)Inhaltlich geht es um den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Tugenden und Lastern sowie um die Rückbesinnung des Menschen auf seine schöpfungstheologische Gottebenbildlichkeit. Der Mensch ist von Natur aus gut. Es liegt allein am Menschen, wenn er seine Natur in ihr Gegenteil verkehrt, indem er seinem Fleisch die Zügel schießen lässt.

Die Tugenden oder Gotteskräfte stehen den Lastern, vitia, in 35 Gegensatzpaaren gegenüber. So schaute Hildegard die Gestalt der Hartherzigkeit mit großen schwarzen glotzenden Augen, die ohne sich zu bewegen in der Finsternis verharrte und sprach: „Ich habe nichts hervorgebracht und niemanden ins Dasein gesetzt. Warum sollte ich mich um etwas bemühen oder kümmern? Das werde ich schön bleiben lassen. Ich will mich für niemanden einsetzen, als auch er mir nützlich sein kann. Gott, der alles geschaffen hat, der soll für sein All Sorge tragen! Würde ich immer solches Mitleid in mir hegen, dass ich gar nicht zur Ruhe käme, was würde dann von mir selber noch übrig bleiben? Was für ein Leben müsste ich führen, wenn ich auf alle Stimmen der Freude oder der Trauer antworten wollte! Ich weiß nur von meiner eigenen Existenz.“ Ihr antwortet die Barmherzigkeit: „O du versteinertes Wesen! Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten; ein Stein strahlt seinen Glanz auf die andern und jede Kreatur hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung. Auch steht die ganze Natur dem Menschen zu Diensten, und in diesem Liebesdienst legt sie ihm freudig ihre Güter ans Herz.

Ich aber bin in Luft und Tau und in aller grünenden Frische ein liebliches Heilkraut. Übervoll ist mein Herz, jedem Hilfe zu schenken. Mit liebendem Auge berücksichtige ich alle Lebensnöte und fühle mich allem verbunden. Den Gebrochenen helfe ich auf. Eine Salbe bin ich für jeden Schmerz.“ (LVM S. 34) In der Tugendgestalt der Barmherzigkeit kommt uns Gottes Erbarmen mit seiner Schöpfung entgegen.

Gott, Kosmos und Mensch sind aufeinander bezogen. Die Gestalt des „vir“ ist die Zentralfigur, die vom Himmel bis zur Erde reicht, alle Elemente berührt und den Mittelpunkt des Universums bildet: “Ich sah einen Mann von solch hohem Wuchs, dass er von der oberen Höhe der Himmelswolken bis hinunter in die Abgründe reichte.“ In diesem Werk befasst sich Hildegard mit vielen Lebensfragen und hält den Menschen den Spiegel vor Augen im Unglauben, der Hoffnungslosigkeit, in der Sexualität, Abtreibung, Kindsmord. Das Buch der Lebensverdienste schließt: „ Der Mensch, der dies schaut und im Schreiben weitergibt, sieht und sieht doch nicht. Er trägt Gottes Wunderdinge nicht aus sich vor, ist vielmehr davon ergriffen, wie eine Saite durch den Spieler ergriffen wird, um ihren Ton nicht aus sich, sondern aus dem Griff eines anderen wiederzugeben. Dies ist von der lebendigen Stimme des lebendigen und unvergänglichen Lichtes vorgetragen und ausgesprochen worden. Und es ist die Wahrheit. Und der gläubige Mensch achte darauf, und er halte es ganz fest im Gedächtnis seines guten Gewissens.“

Der Codex, aus dem der Liber Vitae Meritorum beim Mittagstisch der Mönche in Villers gelesen wurde, liegt heute unter der Signatur 9 in der Abtei Dendermonde. Kardinal Pitra fertigte auf der Grundlage dieses Textzeugen 1882 die Erstausgabe an.

Der Liber Vitae Meritorum liegt in 5 vollständigen und in 2 unvollständigen Handschriften vor, in Dendermonde, Trier, Berlin, Wiesbaden (Riesenkodex), Wien. Die Handschrift Dendermonde 9 wurde zu Lebzeiten Hildegards im Kloster Rupertsberg geschrieben. Vom LVM existiert keine illuminierte Prachtausgabe wie vom Liber Scivias .

Die Editio princeps des Liber Vitae Meritorum kam erst 1882 zustande. Sie wurde von Kardinal Pitra innerhalb einer von ihm besorgten Ausgabe verschiedener Hildegard-Schriften veranstaltet.

Die dritte große Visionsschrift Hildegards, an der sie von 1163 bis 1174 arbeitete, ist das Buch der Gotteswerke, Vom Wirken Gottes, der Liber Divinorum Operum. In diesem Werk geht es um die große und kleine Welt, den Makrokosmos und Mikrokosmos. Hildegard schaut Gott, Welt und Mensch in ihren Beziehungen zueinander, belebt vom ewigen Wort, durch das die Schöpfung entstand und das Mensch wurde ein Jesus Christus. Das Werk enthält 10 Visionen. Eine Schlüsselstellung nimmt die Interpretation des Prologs vom Johannes-Evangelium am Ende der vierten Vision ein. Die erste Vision gibt den Grundton und die Finalis an, als Hildegard eine Stimme vom Himmel hörte, die zu ihr sprach: „Gott, der alles erschaffen hat, bildete den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis und zeichnete in ihn die niederen und höheren Kreaturen. Er liebte ihn mit solch großer Liebe, dass er die Stelle des gefallenen Engels für ihn bestimmte und jenen Ruhm und Herrlichkeit ihm zumaß, die dieser einst in seiner Glückseligkeit verloren hatte. Das bedeutet die Schau dieses Bildes:“
Die „Acta canonisationis“ bezeugen die 3. Visionsschrift. Hildegards Schriften wurden den Pariser Theologen zur Prüfung vorgelegt. Wilhelm von Auxerre bekräftigten den göttlichen Ursprung.
Der Liber divinorum operum liegt in 6 vollständigen und in einem fragmentarischen Textzeugen vor, in Gent, Wiesbaden,(Riesenkodex), Troyes, Lucca, Trier (Stadtbibliothek), London, Frankfurt. Die Genter Handschrift (Leitschrift)lässt sich als typisches Produkt des Rupertsberger Skriptoriums und seiner Schreiber zu Hildegards Lebzeiten erweisen. Diese ist entweder von Hildegard selbst oder nach ihrem Tod von den Rupertsberger Schwestern an den Konvent von Trier übergeben worden sein. Der Lucca-Codex , aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, gehört zu den luxurösesten Hildegard-Handschriften auf grund seiner äußeren Gestalt mit den beigefügten Miniaturen. Der Lucca-Codex zeigt Abweichungen vom Genter-Codex, damit eine größere Unabhängigkeit von seiner Vorlage als der Riesencodex und die Handschrift Cod. Troyes 683. Die Editio princeps des Liber divinorum operum entstand erst 1761, ca. 250 Jahre nach jener des Scivias.

In Hildegards Schriften, die der Niederschlag ihrer Visionen und Auditionen sind, geht es stets um den Menschen, der Geschöpf Gottes und Abbild Gottes ist. Gott hat dem Menschen
die Schöpfung als Lebensraum gegeben damit der Mensch mit der Schöpfung wirke zum Lobe seines Namens. (Der Mensch, das inniggeliebte Abbild Gottes, soll sich im Lobpreis auf seinen Schöpfer und Erlöser hin verwirklichen. Mit seinem innersten Seelengrund sehnt sich der Mensch nach dem Kusse seines Gottes. Durch den Erlöser, den Menschgewordenen, ist der Mensch am Herzen Gottes beheimatet.)
Die Briefe sind neben Hildegards Visionsschriften von besonderer Bedeutung. Sie sind im Rahmen ihrer 4 Reisen entstanden. Im Liber vitae meritorum weist die Seherin selbst darauf hin, indem sie ihre bis dahin verfassten Werke aufzählt. „Es war das erste Jahr, nachdem dieses Gesicht mir folgende Schriften zu erklären gegeben hatte: „Die Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe“, ferner Antworten und Ermahnungen an zahlreiche Personen hohen und niederen Standes, dann die „Sinfonie der Harmonie himmlischer Offenbarungen“ und „Die unbekannte Sprache“, schließlich die Briefe mit einigen anderen Erklärungen, unter denen ich insgesamt acht Jahre lang nach den erwähnten Visionen ausgeharrt hatte, durch viel Kranksein und starke körperliche Beschwernisse belastet.“
(LVM S. 27)
Die Äbtissin vom Rupertsberg lebte aus ihrer Schau heraus, d.h. viele ihrer Aussagen und Entscheidungen entstammten dem Zusammenwirken ihrer Denkkraft mit der ihr von Gott geschenkten Schau. Der Briefwechsel begann 1147 / 48 mit Bernhard von Clairvaux, nahm nach der Synode von Trier (1148 / 49) sprunghaft zu und erstreckte sich in den folgenden Jahrzehnten über das Deutsche Reich hinaus nach Dänemark, England, Frankreich, Schweiz, Italien und Griechenland. Die meisten Schreiben Hildegards waren Antwortbriefe. Wachsam beobachte Hildegard das politische Geschehen ihrer Zeit und nahm Stellung zu brennenden Fragen. 4 Briefe schrieb sie an Kaiser Friedrich I., ein Schreiben richtete der Herrscher an Hildegard. Als Friedrich Barbarossa 1168 den dritten Gegenpapst aufstellte, sandte sie ihm einen Brief . Sie stellte dem Herrscher das Gottesgericht vor Augen.
„O König, es ist dringend notwendig, dass du in deinen Handlungen vorsichtig bist. Noch hast du Zeit über irdische Dinge zu herrschen. Gib acht, dass der höchste König dich nicht zu Boden streckt wegen der Blindheit deiner Augen, die nicht richtig sehen, wie du das Zepter zum rechten Regieren in deiner Hand halten musst. Darauf hab acht! Sei so, dass die Gnade Gottes nicht in dir erlischt!“
Im 4. Brief ruft Hildegard dem Kaiser zu:
„Der da ist, spricht: die Widerspenstigkeit derer, die mir trotzen, zermalme ich durch mich selbst. Wehe, wehe diesem bösen Tun der Frevler, die mich verachten! Das höre, König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert dich durchbohren.“ (BW S. 86)
390 Briefe sind uns überliefert und kritisch ediert von Lieven Van Acker und von Monika Klaes in deutscher Sprache. Die wichtigsten Textzeugen des 12. bis 15. Jahrhunderts sind: Zwiefaltner Briefhandschrift in Stuttgart, Wien, Berlin, Trier, Wiesbaden, Riesenkodex, London, Brüssel, Florenz, München, Paris. Es bestand eine Nachfrage nach Hildegard-Briefen. Die meisten Sammlungen sind auf dem Rupertsberg entstanden. Viele Briefe haben eher den Charakter von Sermones, Lehrschreiben, Brieftraktaten.
Die Editio princeps des Epistolariums (Köln 1566) basierte maßgeblich auf dem Textzeugen des Riesencodex.

Hildegard von Kindheit an bis ins hohe Alter mehr oder weniger krank, besaß eine besondere Fähigkeit, Kranke zu verstehen und ihnen zu helfen. Sie hatte die Gabe der Heilung und der Dämonenaustreibung von Gott. Ihre natur- und heilkundlichen Schriften sind heute im Rahmen der Naturheilkunde als Ergänzungsheilkunde zur Allgemein-Medizin aktuell und von vielen Menschen angefragt. „Physica, die Heilkraft der Natur“ und „Causae er Curae, Heilwissen“ sind nicht aus Hildegards Zeit überliefert. Die ältesten uns überlieferten vollständigen Textzeugen der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards, die Kopenhagener Handschrift mit dem Liber compositae medicinae sowie die Florentiner und die Wolfenbütteler Handschriften mit dem Liber simplices medicinae datieren erst aus dem beginnenden 13. bzw. endenden 14. Jahrhundert. Hildegard führt im Vorspann zum Liber vitae meritorum den Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum an, der ihre bis 1163 entstandenen Werke benennt. Durch eine Vision veranlasst, sagt Hildegard, so werden diese Schriften auf die gleiche Bedeutungsebene gehoben wie die eigentlich visionären.
Für Hildegard ist die Schöpfung mit den Pflanzen, Tieren, Steinen, Elementen nicht zu trennen von der Wirklichkeit Gottes, der seine ganze Schöpfung mit seiner Lebens – und Liebeskraft, der Grünkraft, mit seinem Heiligen Geist durchströmt. Alles schaute sie im Licht Gottes. Wenn auch die natur- und heilkundlichen Schriften der hl. Hildegard nicht zu den geistlichen, theologischen Schriften zählen, aber alles, was von der „Posaune Gottes“ kommt, steht im Zusammenhang mit Gott und der Schöpfung. So wollen auch die konkreten Hinweise z.B. über den Dinkel den Menschen innerlich heilen, wie eine gute Salbe und ihn in seinem Gemüt froh stimmen und helfen in der Gottverbundenheit lebendig zu sein.
Hildegard war allen Seinsbereichen der Gottesschöpfung zugewandt, so war sie auch auf dem Gebiet der Musik schöpferisch tätig. 77 Lieder und das geistliche Singspiel Ordo Virtutum, Spiel der Kräfte sind überliefert. Von einem Hymnus auf den Heiligen Geist greife ich einige Verse heraus, in denen es auch um das Salben, Heilen, Retten geht. Der Mensch, mit dem Öl der Barmherzigkeit gesalbt, mit der heilenden Kraft des Heiligen Geistes gestärkt, erfährt so Rettung und Erlösung, Befreiung für das ewige Leben in der Schau des dreifaltigen Gottes.

O Feuergeist, Lob sei dir! Du wirkst beim Pauken – und Zitherspiel.
Die Herzen der Menschen erglühen von dir.
Aus Zöllnern und Sündern, die ihre Sünden und Taten vor dir bekennen,
hast du einen Turm gebaut.
Darum preisen dich alle Geschöpfe, die leben aus dir.
Denn du bist die kostbare Salbe
für die gebrochenen Glieder und eiternden Wunden,
die du verwandelst in kostbare Gemmen.
Nun sammle uns alle in Gnaden zu dir
und leite uns hin auf den rechten Weg. (Lieder, S. 231 / 132 )

Im Jahre 1165 erwarb Hildegard von Bingen das Kloster Eibingen. bei Rüdesheim. Sie vollendete ihre langen, mühevollen Weg am 17. September 1179 auf Kloster Rupertsberg, tief verwurzelt in Gott, beschenkt mit dem Charisma der Schau, die Last und Lust bedeutete, gehorsam dem empfangenen Auftrag Gottes.
Die älteste Lebensbeschreibung berichtet von einer Lichterscheinung am Himmel nach dem Heimgang der Rupertsberger Äbtissin. Sie durfte in die unverhüllte Schau des lebendigen Lichtes eingehen, dessen Abglanz sie in ihrem Herzen getragen hatte und in der Vision vom Dreifaltigen Gott hat schauen dürfen.

Mit der Schau des Geheimnisses des Dreieinen Gottes möchte ich den 1. Teil meiner Ausführungen schließen.

Wisse die Wege, 2. Vision, 2. Teil
„Ich sah ein überhelles heiteres Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht war. Und das helle Licht überstrahlte das ganze rötliche Feuer und das rötliche Feuer das ganze helle Licht und das helle Licht und das rötliche Feuer die ganze Menschengestalt, so dass sie ein einziges Licht in derselben Stärke und Leuchtkraft bildeten.“
Du siehst ein überhelles heiteres Licht, das den Vater bezeichnet, und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die den Sohn darstellt, der vor aller Zeit, seiner Gottheit nach, vom Vater gezeugt, doch dann in der Zeit, gemäß der Menschheit, auf Erden Fleisch wurde. Sie wird völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht, dem Heiligen Geist, von dem der Eingeborene Sohn Gottes dem Fleisch nach empfangen und von der Jungfrau in der Zeit geboren wurde und das Licht der wahren Herrlichkeit über die Welt ausgoß.
Der Vater ist nicht ohne den Sohn, noch der Sohn ohne den Vater, weder Vater noch Sohn ohne den Heiligen Geist oder der Heilige Geist ohne sie beide. Deshalb unterlasse es der Mensch nicht, mich den einzigen Gott, in diesen drei Personen anzurufen. Ich habe sie nämlich dem Menschen geoffenbart, dass er umso heißer in der Liebe zu mir entbrenne, da ich ihm zuliebe meinen Sohn in die Welt sandte.
Gott gedachte barmherzig seines großen Werkes und seiner kostbaren Perle, nämlich des Menschen, den er aus dem Lehm der Erde gebildet und dem er den Lebensodem eingehaucht hatte. Durch den Lebensquell des Wortes kam nämlich die umarmende Mutterliebe Gottes zu uns; sie nährt unser Leben, hilft uns in Gefahren und leitet uns als tiefe und zarte Liebe zur Buße an.
Die Erlösungstat der Liebe ging nicht von uns aus, wir vermochten nicht Gott zu unserer Rettung zu lieben, vielmehr hat er, als Schöpfer und Herr, sein Volk so geliebt, dass er seinen Sohn, das Haupt und den Retter der Gläubigen sandte. Er wusch und reinigte unsere Wunden.
Daher, o Mensch, erkenne in den drei Personen deinen Gott, der dich erschaffen und vor dem Verderben gerettet hat. Vergiß nicht deines Schöpfers, umarme Gott im Licht deiner Lebenskraft, bevor die Stunde der Läuterung deiner Werke kommt!“

Lob der Dreieinigkeit,
sie ist Klang und Leben,
Schöpferin des Alls,
Lebensquell von allem,
Lob der Engelscharen,
wunderbarer Glanz all des Geheimen,
das den Menschen unbekannt,
und in allem ist sie das Leben. (Lieder, S.230)

 

Literatur:

Hildegard von Bingen, Leben, berichtet von den Mönchen Gottfried und Theoderich , V

Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, übersetzt v. Walburga Storch OSB , WW, Sc

Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung, übersetzt v. Prof. Schipperges LVM, MV

Hildegard von Bingen, Vom Wirken Gottes, übersetzt v. Mechthild Heieck, LDO

Hildegard von Bingen, Briefwechsel, übersetzt v. Adelgundis Führkötter OSB, BW

Hildegard von Bingen, Lieder, übersetzt v. Maria Immaculata Ritscher OSB L

Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen, Akademie Verlag, 2004
Die Spiritualität der heiligen Hildegard

Versuch einer Annäherung in den Visionen über den Ursprung des Lebens, über die Elemente im Bau der Welt und über die Liebe Gottes (1., 2. und 10. Vision aus dem LDO)

Das Wort „Spiritualität“ stammt aus dem Französischen „spiritualité“. „Vor aller begrifflichen Klärung bezeichnet Spiritualität die gelebte Grundhaltung der Hingabe des Menschen an Gott und an seine Sache. Deshalb ist Spiritualität eine vielgestaltige Größe wie das Leben selbst und wie die Vielgestaltigkeit möglicher Beziehungen zu Gott.“ (Giesbert Greshake) Christliche Spiritualität teilt sich in der Sorge Gottes um und für den Menschen; sie weiß sich noch nicht am Ziel, sondern im Geist und mit ihm unterwegs zum Menschen, dem Menschen Gottes, so Christian Schütz, Abt v. Schweiklberg)
Hildegard war als Benediktinerin von der Benediktusregel geformt. Ein Leben in der Gegenwart Gottes mit dem Auftrag des Gotteslobes forderte einen immer wieder neu vollzogenen Glauben, der genährt wurde in der Bibellesung, in der Feier der Liturgie. Die Spiritualität Hildegards fand den stärksten Ausdruck in ihren Schriften. Lassen wir drei Visionen aus Hildegards Kosmosschrift dem Liber divinorum operum zu uns sprechen.

Vision: Der Ursprung des Lebens

Ein schönes wundervolles Bild wie die Gestalt eines Menschen,
dessen Antlitz von großer Schönheit und Klarheit war
ein weiter goldener Reif um das Haupt der Lichtgestalt
in dem Reif über dem Haupt ein anderes Gesicht, wie das eines älteren Mannes, dessen Kinn und Bart den Scheitel des Hauptes berührten.
Von beiden Seiten des Halses der Gestalt ging ein Flügel aus,
diese Flügel erhoben sich über den Reif und verbanden sich dort miteinander.
In der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels der Kopf eines Adlers ( der Glanz der Engel wie in einem Spiegel)
In der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels das Antlitz eines Menschen (wie der Glanz der Sterne)
Von den beiden Schultern dieser Gestalt reichte ein Flügel bis zu den Knien.
In den Händen der Gestalt war ein Lamm.
Die Lichtgestalt trat mit ihren Füßen auf ein Ungeheuer in giftig schwarzer Farbe. Eine Schlange hatte sich in das rechte Ohr des Ungeheuers verbissen.
Gott, der alles erschaffen hat, hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht und in ihm die höheren und niederen Geschöpfe eingezeichnet.
Er hat ihn so geliebt, dass Er ihn für jenen Ort bestimmte, aus dem der Engel bei seinem Sturz geschleudert wurde und ihn in den Ruhm und in die Ehre eingesetzt, die jener verloren hatte.
Niemand wirkt so und hat soviel Macht wie Gott. Daher ist niemand Ihm gleich und Er ist nicht durch die Zeit begrenzt.
Die Seherin erblickt „im Mysterium Gottes“ eine Gestalt von wunderbarer Schönheit, im Geheimnis Gottes ein schönes wundervolles Bild wie die Gestalt eines Menschen, dessen Antlitz von so großer Schönheit und Klarheit war, dass Hildegard leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht. Obwohl die Seherin diese leuchtende Gestalt kaum schauen konnte, sah sie einen weiten goldenen Reif um das Haupt dieser Lichtgestalt. In dem Reif erschien über dem Haupt ein anderes Gesicht, wie das eines älteren Mannes, dessen Kinn und Bart den Scheitel des Hauptes berührten. Und von beiden Seiten des Halses derselben Gestalt ging ein Flügel aus. Diese Flügel erhoben sich über den Reif und verbanden sich dort miteinander. Den Kopf eines Adlers konnte Hildegard auf dem höchsten Punkt der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels erkennen. In den feurigen Augen des Adlers erschien der Glanz der Engel wie in einem Spiegel. Auf dem höchsten Punkt der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels war das Antlitz eines Menschen, das wie der Glanz der Sterne leuchtete. Beide Gesichter waren nach Osten gewandt. Von den beiden Schultern dieser Gestalt reichte ein Flügel bis zu ihren Knien. Hildegard erblickte ein Lamm in den Händen der Gestalt, die in ihrem Gewand wie die Sonne leuchtete, und das Lamm wie das Licht des Tages. Diese wunderschöne Lichtgestalt trat mit ihren Füßen auf ein Ungeheuer von abscheulichen Aussehen in giftig schwarzer Farbe und auf eine Schlange. Diese hatte sich in das rechte Ohr des Ungeheuers verbissen.
Die Liebe des himmlischen Vaters in ihrer Schönheit hat Menschengestalt, denn der Sohn Gottes hat Menschengestalt angenommen und durch den Dienst der Liebe den verlorenen Menschen erlöst. Diese schöne klare Lichtgestalt sprach:
„Ich, die höchste feurige Kraft, habe alle lebendigen Funken entzündet und nichts Sterbliches ausgehaucht. Indem ich mit meinen oberen Flügeln, d.h. mit der Weisheit, den Erdkreis umpflog, habe ich ihn in richtiger Weise geordnet. Ich, das feurige Leben der göttlichen Wesenheit, flamme über die Schönheit der Fluren, leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit dem Windhauch, dem unsichtbaren Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt nämlich im Grünen und im Blühen, die Wasser fließen, als ob sie lebten, auch die Sonne lebt in ihrem Licht.“
Hildegard kündet uns den Ursprung des Lebens, die schaffende Liebe Gottes, als feurige Kraft, die auch in den Winden verborgen ist; und sie brennen durch ihn, wie der Atem ständig den Menschen bewegt.
„Ich bin auch die Vernunft, hört sie den Urlebendigen sprechen, die den Windhauch des tönenden Wortes in sich hat, durch den jedes Geschöpf gemacht ist und in alles habe ich Leben gehaucht. Ich bin das volle Leben. Ich bin das gleichbleibende Leben in der Ewigkeit, das nicht entstanden ist und nicht endet.“ (LDO S. 20 21)
Gott offenbart sich in dieser Lichtvision als das Leben ohne Anfang und Ende. Und dieses Leben bewegt sich und wirkt und ist das eine Leben in dreifacher Kraft. „Die Ewigkeit wird der Vater genannt, das Wort der Sohn, und der Hauch, der beide verbindet, der Heilige Geist. Dieses eine Leben in dreifacher Kraft flammt über der Erde, über die Schönheit der Fluren, aus dem Gott den Menschen machte. Und Gott leuchtet in dem Wasser, das entspricht der Seele; denn wie das Wasser die ganze Erde durchströmt, so durchdringt die Seele den ganzen Leib. Der Mensch, der aus Leib, Seele und Vernunft ist, ist analog zur Erde, dem Wasser und zu Sonne und Mond gesetzt in seiner Vernunft. Der Urlebendige hat sich selbst in die Beziehung zu Luft und Wind, zu seiner gesamten Schöpfung gesetzt. Der säkularisierte Mensch heute hat seine Schwierigkeiten mit den Zusammenhängen und deren Konsequenz von Schöpfer, Schöpfung und Mensch. Danach können wir uns nicht mehr isoliert oder allein anschauen, denn wir sind von unserem Ursprung her auf die Verbundenheit von Schöpfer und Schöpfung verwiesen.
Hildegard hörte die Stimme vom Himmel, die zu ihr sprach: „Gott, der alles erschaffen hat, hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht und in ihm die höheren und niederen Geschöpfe eingezeichnet. Und er hat ihn so geliebt, daß er ihn für jenen Ort bestimmte, aus dem der Engel bei seinem Sturz geschleudert wurde und ihn in den Ruhm und in die Ehre einsetzte, die jener verloren hatte.“( S. 21) Der Mensch ist an die Stelle des gefallenen Engels gestellt als Abbild Gottes. Gott selbst ist das Leben in Fülle und die Liebe. Und die Liebe des Vaters hat Menschengestalt angenommen im Sohn, der durch seine Menschwerdung im Dienst der Liebe den verlorenen Menschen erlöste. Die überragende Liebe Gottes strahlt aus dem Angesicht der Gottesgestalt in Schönheit und Klarheit. Ein weiter goldener Reif umgibt das Haupt, das will auf den katholischen Glauben hinweisen, der sich über den ganzen Erdkreis ergießt und der mit aller Ehrfurcht das Übermaß der Liebe umfasst, in der Gott durch die Menschheit seines Sohnes den Menschen erlöste und im Heiligen Geist stärkte. Das Gesicht wie eines älteren Mannes in dem Reif über dem Haupt der Gottesgestalt bedeutet, dass den Gläubigen die alles überragende Güte Gottes zu Hilfe kommt. Das Kinn und der Bart des Gesichtes berühren den Scheitel des leuchtenden Antlitzes. Das will uns sagen, dass Gott in seinem Planen und Fürsorgen das Äußerste seiner Liebe darin zeigt, dass der Gottessohn in seiner Menschheit den verlorenen Menschen zum Himmel zurückführt.
Flügel zu beiden Seiten des Halses des Urlebendigen erheben sich über den Reif und verbinden sich dort. Sie stehen für die Gottes- und Menschenliebe, die aus der Einheit des Glaubens hervorgehen und nicht zu trennen sind. In der bogenförmigen Krümmung des rechten Flügels erblickte Hildegard gleichsam den Kopf eines Adlers mit feurigen Augen, in denen der Glanz der Engel wie in einem Spiegel erscheint. Wenn ein Mensch sich Gott unterstellt, sein Streben auf Gott richtet, sein Herz emporhebt, entbrannt vom Heiligen Geist, dann erscheinen darin die seligen Geister und bringen Gott die Hingabe dieses Herzens dar. Denn mit dem Adler werden die geistlichen Menschen bezeichnet, die in Hingabe ihres Herzens in der Betrachtung oftmals wie die Engel Gott schauen. Die seligen Geister, die Gott unablässig schauen, freuen sich an den guten Werken der Gerechten und zeigen sie Gott in sich selbst. Den Engeln, die im Lob Gottes verharren, ist ein Glanz wie von vielen Spiegeln eigen, in den sie schauen. „Niemand wirkt so und hat soviel Macht wie Gott. Daher ist niemand ihm gleich und Er ist nicht durch die Zeit begrenzt.“ (S. 23)
Alles, was Gott gewirkt hat, hatte er vor dem Beginn der Zeit in seinem Vorauswissen. Alles Sichtbare und Unsichtbare erschien vor aller Zeit wie Bäume oder Geschöpfe, die nahe am Wasser stehen und in diesem gesehen werden, obwohl sie nicht leibhaftig im Wasser vorhanden sind. Das Vorauswissen Gottes schaute jedes Geschöpf, bevor es in seinem Körper war. Im Menschen sind das Vorauswissen Gottes und sein Werk. (Geheimnis der Berufung, der Gnade und Freiheit des Menschen)
Als eine unzählbare Schar von Engeln aus sich selbst heraus sein wollten und ihren Schöpfer vergaßen, stürzten sie, Luzifer und sein Anhang, in die Finsternis.
Auf der bogenförmigen Krümmung des linken Flügels ist gleichsam das Antlitz eines Menschen, das wie der Glanz der Sonne leuchtet. Das bedeutet, wenn der Mensch sich der Verteidigung seines Schöpfers zuwendet, indem er die irdischen Beweggründe, die ihn von links anfechten, in Demut zertritt, hat er das Aussehen eines Menschen., weil er seiner menschlichen Natur entsprechend in Würde lebt und nicht nach Art des Viehs. ( S. 25)
Der Mensch erhielt den Platz und die Ehre des gefallenen Engels, mit einem Leib umhüllt, damit er zum Lobe das vollende, was jener nicht tun wollte. Mit dem Menschenantlitz werden jene bezeichnet, die zwar mit dem Leib der Welt zugeordnet sind, aber mit dem Geist Gott beständig dienen. Sie vergessen nicht, was des Geistes ist, auch wenn sie an weltliche Verpflichtungen gebunden sind. Geistliche wie Weltliche müssen sich Gott zuwenden., deshalb sind die Gesichter nach Osten gewandt.
Von den beiden Schultern der Gestalt reicht je ein Flügel bis zu ihren Knien. Denn in der Kraft seiner Liebe hat der Sohn Gottes Gerechte und Sünder an sich gezogen, die einen auf die Schultern genommen, weil sie gerecht gelebt haben, die anderen auf die Knie, weil er sie vom Weg der Ungerechtigkeit zurückgerufen hatte. „Durch das Wissen der Liebe Gottes wurde der Mensch mit Leib und Seele zur Fülle des Heils geführt, obwohl er häufig vom Zustand der rechten Beständigkeit abweicht.“ (S. 26)
Die Gestalt ist mit einem Gewand bekleidet, das dem Glanz der Sonne ähnlich ist. Das bedeutet: Der Sohn Gottes hat in seiner Liebe den menschlichen Leib ohne jede Befleckung der Sünde in Ähnlichkeit zur Schönheit der Sonne bekleidet. Der Mensch kann die Menschheit des Gottessohnes nur durch den Glauben erfassen.
Und in ihren Händen trägt sie ein Lamm, leuchtend wie das Licht des Tages. Die Liebe in den Werken des Gottessohnes hat die Milde des Glaubens offenbart, die alles überstrahlt, als Er aus Zöllnern, Sündern Märtyrer, Bekenner, Büßer erwählte und als er aus Ungläubigen Gerechte machte. So hat die Liebe ihr Werk vollendet.
Die Gestalt tritt mit ihren Füßen auf ein Ungetüm von abscheulichem Aussehen und giftiger schwarzer Farbe und auf eine Schlange. Die wahre Liebe zertritt mit den Fußspuren des Sohnes Gottes das Unrecht, das durch viele Laster verdreht ist und die alte Schlange, die allen Gläubigen nachstellt.

Die geistige Botschaft der ersten Vision könnte so zusammengefasst werden:
Die Liebe, die im Rad der Ewigkeit und ohne Zeit ist, wie die Glut im Feuer, Gott, hat alle Geschöpfe vorausgewusst in seiner Ewigkeit und sie in seiner Liebe so hervorgebracht, dass der Mensch bei ihnen keine Erquickung oder keinen Dienst entbehrte, weil Er sie mit dem Menschen verband wie die Flamme mit dem Feuer.
Im Vorherwissen Gottes liegt die ganze Schöpfung und Heilsgeschichte. So leuchtet im Ursprung des Lebens, im Urlebendigen, der Liebe ist, alles auf, was Hildegard in einzelnen Visionen schauen durfte. In der ersten Vision ist diese Gesamtschau der Schöpfung und des Weges des Menschen enthalten. Die Schöpfung beginnt mit der Engelwelt. Denn als ersten „schuf Gott den Engel in der größten Schönheit.“ Und sobald er sich selbst erblickte, (sed ubi ille seipsum conspexit, dominum suum odio habuit et dominus esse voluit, sed Deus in puteum abyssi illum proiecit.) haßte er seinen Herrn und wollte selbst der Herr sein. Aber Gott warf ihn in den „Schach der Hölle“ (eine reale Möglichkeit für den Menschen, der seine ihm von Gott geschenkte Freiheit in Selbstbehauptung verschließt als Verweigerung der Liebe. Hölle eine angstmachende Wirklichkeit ist auch in unserer geschichtlichen Erfahrung gegeben.) Dieser Aufrührer gibt bis heute dem Menschen seinen bösen Rat, nachdem er den ersten Menschen, das Werk Gottes, in Gemeinschaft mit sich gebracht hatte. So hatte der Mensch sein himmlisches Gewand verloren. Durch den Sohn Gottes, „der in der Natur der Jungfrau Fleisch annahm,“ wurde der Mensch, das inniggeliebte Werk Gottes, in die Gemeinschaft Gottes zurückgeholt. Sowie Adam Stammvater des gesamten Menschengeschlechtes ist, so ist durch den Sohn Gottes das geistige Volk hervorgegangen. Jetzt gilt es, Gott mit aufrichtigem Seufzen des Herzens zu verehren. So kann die Gnade des Heiligen Geistes den guten Acker des Menschen durchtränken. „Wer gläubig der göttlichen Verheißung vertraut, auf alles Irdische hinabschaut und zum Himmlischen strebt, der wird als Gerechter unter die Söhne Gottes gezählt. Denn er liebte die Wahrheit und versuchte immer mehr an dem Geschmack zu haben, was des Geistes ist. „Solange der Mensch an dem Geschmack findet, was des Fleisches ist, kann er das, was des Geistes ist, nicht voll erfassen.“ (S. 30) Maria war der Geschmack von dem, womit die alte Schlange die erste Frau täuschte, unbekannt. Sie glaubte dem Wort des Gottesboten, sie blickte zur Erde, aus der sie geschaffen war, und sagte, sie sei die Magd des Herrn. Darum nahm der Sohn Gottes in ihr Fleisch an.

„Jeder Mensch, der Gott fürchtet und liebt, soll sich diesen Worten mit Hingabe seines Herzens öffnen, und er soll wissen, dass sie zum Heil des Leibes und der Seele des Menschen nicht von einem Menschen verkündet sind, sondern durch Mich, der Ich bin.“ (S. 31)
Wenn der Mensch sich dem Sinn seines Lebens stellt, seine Verwurzelung aus dem Urlebendigen erkennt und spürt, bleibt er lebendig , d.h. dann lebt er in Würde in den Beziehungen, in die er von Gott hineingestellt ist zur Verteidigung seines Schöpfers und Erlösers. Und so wird er heil an Leib und Seele und fähig für die Fülle des ewigen Lebens mit den Engeln und Heiligen.

Vision: Die Elemente im Bau der Welt

Ein Rad auf der Brust der schönen Gestalt
Ein Kreis von leuchtendem Feuer
Ein Kreis von schwarzem Feuer
Darunter ein Kreis aus reinem Äther
Ein Kreis aus wasserreicher Luft
Ein Kreis mit starker weißleuchtender Luft
Ein Kreis von dünner Luftschicht
In der Mitte des dünnen Luftkreises eine Kugel, die Erde
In der Mitte des Rades die Gestalt eines Menschen mit ausgebreiteten Armen
Vier Tierköpfe stehen für die Windkräfte im Kosmosrad:
Der Kopf eines Leoparden, eines Wolfes, eines Löwen, eines Bären
Sieben Planeten, sechzehn Hauptsterne und viele Sterne
Aus dem Mund der Gottesgestalt, auf deren Brust das Rad erschien, ging Licht wie Fäden aus. Alles wurde im rechten Maß abgemessen.
„Gott hat zur Ehre Seines Namens die Welt aus den Elementen zusammengefügt. Er hat sie mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und auch mit den übrigen Geschöpfen erfüllt.
In ihr hat Er den Menschen mit all diesem umgeben und ausgerüstet und ihn mit größter Kraft überall durchströmt, damit die gesamte Schöpfung ihm in allem beistehe und an seinen Werken teilhabe, so dass er mit ihnen wirkt. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen.“

In der zweiten Vision schaute Hildegard auf der Brust der gleichen schönen Gestalt ein Rad von wunderbarem Anblick mit seinen Zeichen, ähnlich dem Bild, das sie vor 28 Jahren in der Gestalt eines Eies als Sinnbild des Universums gesehen hatte.
An der Rundung des Rades zeigte sich außen ein Kreis von leuchtendem Feuer, unter diesem ein anderer Kreis von schwarzem Feuer. Der Kreis von leuchtendem Feuer übertraf an Dichte zweimal den schwarzfeurigen Kreis, doch waren diese beiden Kreise miteinander verbunden, als wären sie ein Kreis. Darunter war ein Kreis aus reinem Äther, von gleicher Dichte wie der Feuerkreis. Unter dem Kreis von reinem Äther zeigte sich ein anderer aus wasserreicher Luft., darunter erschien ein weiterer Kreis mit starker weißleuchtender Luft, die in ihrer Härte wie eine Sehne im menschlichen Körper ähnelte. Diese beiden Luftkreise waren so miteinander verbunden, dass sie als ein Kreis erschienen. Unter dem Kreis von starker weißleuchtender Luft war eine andere dünne Luftschicht bezeichnet, die bisweilen hohe lichte Wolken und dann wieder tiefhängende dunkle Wolken empor zu tragen und über das ganze Rad auszudehnen schien. All diese sechs Kreise waren ohne jeden Zwischenraum miteinander verbunden. Der äußerste Kreis durchströmte mit seinem Feuer die übrigen Kreise; der mit der wasserreichen Luft benetzte alle anderen mit seiner Feuchtigkeit. In der Mitte des dünnen Luftkreises war eine Kugel ringsum im gleichen Abstand von der starken weißleuchtenden Luft zu sehen. In der Mitte des Rades erschien die Gestalt eines Menschen mit ausgebreiteten Armen, dessen Scheitel oben und dessen Fußsohlen unten bis zu dem Kreis der starken, weißleuchtenden Luft reichten. Vier Tierköpfe, die für die Windkräfte im Kosmosrad stehen, erschienen in Richtung der 4 Seiten. Über dem Scheitel der Gestalt war im Kreis des reinen Äthers der Kopf eines Leoparden, der aus seinem Maul einen Hauch ausstieß. Unter den Füßen der Menschengestalt im Kreis der wasserreichen Luft erschien der Kopf eines Wolfes. Im Kreis des leuchtenden Feuers war zur Rechten der Gestalt ein Löwenkopf, zur Linken im Kreis des schwarzen Feuers der Kopf eines Bären. Alle diese Köpfe hauchten auf das beschriebene Rad und die Menschengestalt zu. Über dem Kopf des Menschen waren in der Höhe getrennt voneinander sieben Planeten bezeichnet, 3 im Kreis des leuchtenden Feuers, einer im schwarzen Feuerkreis, 3 im Kreis des reinen Äthers. Unter den Füßen der Gestalt erschien die Sonne, die ihre Strahlen aussendet auf die Tierköpfe, den Mond und den Menschen wie auch die Planeten. 16 Hauptsterne im leuchtenden Feuerkreis richten ihre Strahlen teils zur dünnen Luft, teils auf das schwarze Feuer. Auch der Kreis des reinen Äthers und der Kreis der starken weißleuchtenden Luft waren gleichsam voll von Sternen, die ihren funkelnden Schein zu den gegenüberliegenden Wolken schickten. Die Gestalt war in diese Zeichen verflochten und umgeben. Von dem Mund der Gottesgestalt, auf deren Brust das Rad erschien, schaute Hildegard Licht wie in Fäden ausgehen, strahlender als das Licht des Tages. Durch diese wurden die Kreise und übrigen Figuren im Rad und die einzelnen Glieder der Menschengestalt im rechten und genauen Maß abgemessen.
Und wieder hörte Hildegard eine Stimme vom Himmel: „Gott hat zur Ehre Seines Namens die Welt aus den Elementen zusammengefügt. Er hat sie mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und auch mit den übrigen Geschöpfen erfüllt.
In ihr hat Er den Menschen mit all diesem umgeben und ausgerüstet und ihn mit größter Kraft überall durchströmt, damit die gesamte Schöpfung ihm in allem beistehe und an seinen Werken teilhabe, so dass er mit ihnen wirkt. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen.“ (S. 40)
Dies wird in dieser Vision gezeigt.
Die Gestalt der Welt existiert in Gott, im Wissen der wahren Liebe. Der Urlebendige trägt sie auf seiner Brust. Er umarmt sie, so existiert die Gestalt der Welt unaufhörlich kreisend und wunderbar, sie wird nicht durch Alter verbraucht, auch nicht durch Neues vermehrt. Wie der Kosmos am Anfang von Gott geschaffen wurde, so wird er bis zum Ende der Zeiten bleiben. Die Gottheit ist in ihrem Vorauswissen und in ihrem Werk vollkommen wie ein Rad, sie hat weder Anfang noch Ende, sie umfasst unbegrenzt alles und übertrifft alles, weil niemand sie in Ihrer Macht zerteilen noch übertreffen, noch an eine Ende bringen kann.
In der Vision des Kosmosrades wird der Umlauf und das rechte Maß der Elemente gezeigt, die Gestalt der Welt in der Kugel.
Das Element Feuer erscheint zuerst im äußeren Kreis des Rades. Es erleuchtet und durchdringt alle Geschöpfe und bringt ihnen die Freude seines Lichtes. Es versinnbildlicht die Macht Gottes, der über allem steht und das Leben gibt. Der darunter liegende schwarze Feuerkreis zeigt, dass jeder, der sich Gott entgegenstellt, in den Zustand des Dunkels, des Gerichts gestürzt wird. Die Macht und das Gericht Gottes sind nicht zu trennen, wie die Feuerkreise. Der darunter liegende reine Äther umschließt mit seiner Rundung die ganze Welt. Er hält den oberen und unteren Bereich zurück, damit sie ihre Grenzen nicht überschreiten. Er weist auf die reine Reue der Sünder hin. Der Mensch soll auf die Macht und das gerechte Urteil Gottes schauen und aufrichtig und in würdiger Weise bereuen.
Der sich anschließende Kreis der wasserreichen Luft weist auf die heiligen Werke der Gerechten hin, die klar wie Wasser sind und unreine Werke reinwaschen. Der Kreis der starken weißleuchtenden Luft hält ähnlich wie eine Sehne mit seiner Kraft und Zähigkeit Überschwemmungen aus der wasserreichen Luft zurück. Dies weist auf die
Unterscheidungskraft, die discretio hin, die heilige Werke durch Mäßigung stärkt, sie in ihrem Maß hält. Die dünne Luftschicht unter dem Kreis der starken weißleuchtenden Luft weist darauf hin, dass sie aus den oberen Kreisen und Elementen wie ausgeatmete Luft hervorgeht. Diese Luft trägt hohe lichte Wolken und tiefhängende dunkle Wolken empor und sie dehnt sich über das ganze Rad aus, weil alles, was auf der Welt ist, von ihr belebt und gestützt wird.
Das zeigt auch, dass unter dem Schutz der Unterscheidungskraft die wahre Sehnsucht des gläubigen Menschen aus den höheren Tugendkräften und den Stärkungen durch den Heiligen Geist hervorgegangen ist.
Sowie die sechs Elementenkreise ohne jeden Zwischenraum miteinander verbunden sind, so sind die Tugenden (Reue, Unterscheidung, rechte Einsicht, Sehnsucht) im gläubigen Menschen durch die Eingebung des Heiligen Geistes miteinander verbunden. In der Ordnung der Elementenkreise und ihrem Wirken erkennt Hildegard eine Weisung für den gläubigen Menschen, der durch die Macht und Gnade Gottes geheiligt wird. Die Werke der Gläubigen preisen dann die Güte des Schöpfers. Wer Gott treu anhängen will, wird sich bemühen, das zu vermeiden, was die Seele verletzt. Er muß vor dem Satan fliehen aus dem linken Bereich und in diesem Kampf standhalten. Dann erhält er Gemeinschaft mit dem Eckstein, mit Christus.

In der Mitte des dünnen Luftkreises ist eine Kugel, die die Erde darstellt. Sie steht in der Mitte der Elemente, damit sie von allen ins richtige Maß gebracht wird. Daher empfängt sie fortwährend Lebenskraft, viriditas und Stärkung. Die Erde versinnbildlicht das tätige Leben, das bei den gläubigen Menschen maßvoll ist in den geistlichen Pflichten und in den leiblichen Bedürfnissen. Denn die die Discretio lieben, richten all ihr Tun nach dem Willen Gottes.

In der Mitte des Rades, in der Mitte des Weltenbaus, steht der Mensch. Er ist mächtiger als die übrigen Geschöpfe; von Gestalt zwar klein, aber groß durch die Kraft seiner Seele. Seinen Kopf richtet er nach oben, seine Füße nach unten und bewegt so die oberen und unteren Elemente. Ebenso durchdringt er sie mit den Werken, die er mit seiner rechten und seiner linken Hand bewirkt, weil er in den Kräften seines inneren Menschen diese Macht zu wirken hat. Wie nämlich der Leib des Menschen, sein Herz an Größe übertrifft, so übertreffen auch die Kräfte der Seele den Leib des Menschen mit ihrer Kraft. Und wie das Herz des Menschen in seinem Leib verborgen ist, so ist auch sein Leib von den Kräften der Seele umgeben, denn sie erstrecken sich über den ganzen Erdkreis. Denn wie der Mensch mit seinen leiblichen Augen überall die Geschöpfe sieht, so sieht er im Glauben überall Gott und erkennt Ihn durch die Geschöpfe, weil er einsieht, dass Er ihr Schöpfer ist. (S. 49)
Die vier Hauptwinde an den vier Seiten des Weltalls ahmen in ihren Kräften die Tiere nach; sie bedeuten für den Menschen, dass er von vielen Versuchungen bedroht ist. Die Winde (Tierköpfe), die auf das beschriebene Rad und die Menschengestalt hauchen, bringen mit ihrem Blasen die Welt ins Gleichgewicht und bewahren durch ihren Dienst den Menschen zu seinem Heil. Weder die Welt würde bestehen noch der Mensch könnte leben, wenn sie nicht durch das Wehen dieser Winde belebt würden. (S. 51) Wenn ein Wind naturgemäß oder nach Gottes Anordnung sein Blasen ausstößt, durchdringt er den Leib des Menschen. Die Seele nimmt ihn auf und führt ihn auf natürliche Weise zu den Organen des Leibes, die seiner Natur entsprechen. So wird der Mensch durch das Wehen der Winde (Hauptwinde und Seitenwinde) entweder gekräftigt oder geschwächt. (S. 65) Die Winde rufen auf eine Weise mit gleichem Eifer der Aushauchungen ihrer Kräfte den Menschen zur Seligkeit auf. Eine Tugend geht beim richtigen Handeln aus der anderen hervor. Und all diese Köpfe, d.h. diese Tugenden (Reue, die Zerknirschung, Vertrauen (Kopf des Krebses), Hoffnung, Glaube (Kopf des Hirsches stellt den Glauben dar), Beständigkeit der Gottesfurcht, Heiligkeit) sind im Wissen Gottes und stehen dem Menschen sowohl in seinen leiblichen, als auch in seinen geistigen Bedürfnissen bei. „Wenn der Mensch die Lebenskraft, viriditas, der Tugenden verlässt und sich der Dürre der Gleichgültigkeit zuwendet, so dass er ohne den Lebenssaft und die Lebenskraft der guten Werke ist, ermatten die Kräfte seiner Seele und verdorren. Wird er aber von der Ausschweifung der Begierden wie von einer übermäßigen Überschwemmung zu sehr überflutet, dann wird sein Geist entkräftet, weil er auf schlüpfrigen Wegen geht.“ ( S. 52 / 53)
„Indem die Winde auf die Weisung Gottes achten, treiben sie die Menschen mit der Kraft ihrer Tugenden an, den Willen Gottes zu erfüllen.“ (S. 56)
„Wer die Lebenskraft, viriditas, des Heiligen Geistes nicht hat, erstickt im Unglauben, verbraucht sich in schlechten Taten und läuft in den Pfuhl der Hölle, weil er sich nicht bemüht hat, sich der Gnade Gottes anzuvertrauen. Wer nicht auf Gott vertraut und nicht darauf achtet, auf welche Weise er von Gott geschaffen ist, sondern Ihm Vorwürfe macht, als ob Er an seinen Sünden schuld sei, der will auch nicht den Aufgang und Untergang der Sonne, des Mondes und der Sterne, die Gott in den Himmel gesetzt hat, noch den Wind mit der Luft, noch die Erde mit den Gewässern und den übrigen Geschöpfen betrachten. Das alles hat Gott des Menschen wegen erschaffen, damit er in all dem erkennt, zu welch großer Würde er erschaffen ist.“ (S. 57) Wie die Winde den Erdkreis mit ihren Kräften halten, so lassen sie auch durch ihre Dienste den Menschen wissen und einsehen, was er tun soll. (S. 60) Sie treiben den Menschen mit ihren Kräften dazu an, mit Leib und Seele seinem Schöpfer treu anzuhängen. (S. 66)
Im Kosmosrad wirkt nicht nur das Windsystem auf den Menschen ein, sondern auch die sieben Planeten mit Sonne und Mond in den Feuer- und Ätherkreisen. Mit ihren Strahlen tragen sie sich gegenseitig in ihrem je eigenen Maß. Die Sonne ist der größte Planet. Sie erwärmt und stärkt mit ihrem Feuer das gesamte Firmament und erleuchtet mit ihrem Glanz den Erdkreis. Sie gibt dem Leib des Menschen von oben bis unten, vom Gehirn bis zur Ferse, Kraft und das richtige Verhältnis. Sie stärkt vor allem das Gehirn, so dass es durch den Verstand voller Lebenskraft alle Körperkräfte zusammenhält, mit den Sinneswahrnehmungen alle Eingeweide durchströmt, so wie die Sonne die Erde erleuchtet. Auch vom Mond leuchtet ein Strahl über die Augenbrauen und Fußknöchel des Menschen im Kosmosrad. Der Mond mäßigt mit seiner natürlichen Kraft den Leib des Menschen und mahnt den Menschen aus der Gottesfurcht heraus, die Schärfe seines Verstandes zu hüten, um nicht in Blindheit der Seele zu fallen. (S: 79) Sonne und Mond dienen nach göttlicher Anordnung dem Menschen und bringen ihm entweder Gesundheit oder Krankheit. „Wenn der Mond im Zunehmen ist, vermehren sich Gehirn und Blut im Menschen; wenn der Mond im Abnehmen ist, vermindern sich Gehirn und Blut im Menschen. Ist der Mond im ausgewogenen Maß , so hat der Mensch im Gehirn und im Kopf Gesundheit und in der Sinneswahrnehmung Lebenskraft, weil durch die richtige Mischung der äußeren Elemente die Säfte im Menschen in Ruhe sind. Ohne Mäßigung und den Dienst der Elemente könnte der Mensch nicht leben.“ (S.73 / 74) Und dies alles bezieht sich auch auf das Innere der Seele.
Die sieben Planeten versinnbildlichen, dass die sieben Gaben des Heiligen Geistes allen Verstand des Menschen überragen (durch all drei Weltzeiten : vor dem Gesetz, im Gesetz, im Evangelium). (Die Gabe der Weisheit, der Stärke, der Gottesfurcht, des Verstandes, der Geduld, der Gerechtigkeit, des Rates, der Klugheit, der richtigen Unterscheidung, der Frömmigkeit)
Die 16 Hauptsterne im leuchtenden Feuerkreis sind in gleichmäßigem Abstand voneinander angeordnet, damit sie das Firmament gleichmäßig mit ihren Kräften unterstützen. Sie stehen auch für die geistlichen Lehrer und die acht Seligpreisungen.
Die Sterne im reinen Äther und in der starken weißleuchtenden Luft erwärmen und stärken das Firmament. Mit ihre Strahlen durchströmen sie die Wolken unter der starken weißleuchtenden Luft, durchdringen sie und halten sie fest, damit sie nicht die von Gott gesetzten Grenzen überscheiten. Die Sterne bedeuten auch, dass die wahre Reue und die Unterscheidungskraft der heiligen Werke im Glanz der Vernunft erblühen. „Durch ihren Glanz machen sie den Geist der Gläubigen vernünftig, weil sie ihnen eingeben, dass alle werke, die sie vollbringen, vor Gott vernünftig erscheinen.“ (S. 85)
Auf diese Weise ist der Mensch in diese Zeichen verflochten und umgeben. „Der Mensch ist durch die Kraft der Elemente und die Unterstützung der übrigen Geschöpfe so gestärkt und geschützt, dass er durch keinen Anprall einer Widerwärtigkeit aus seinem Zustand herausgerissen werden kann, solange ihn die göttliche Macht behütet.“ (S. 84)
Der gläubige Mensch, der treu den Spuren des Gottessohnes folgt, ist durch die Strahlkraft der Tugenden geschützt und ausgerichtet. (S. 86)
Hildegard schaute, dass von dem Mund der Gestalt, auf deren Brust das Rad erschien, Licht wie Fäden ausging, strahlender als das Licht des Tages. Denn aus der Kraft der wahren Liebe, in deren Wissen der Weltumlauf ruht, geht ihre feine Ordnung hervor. Sie leuchtet über alles, umschließt alles und festigt alles. Durch diese Fäden sind die Kreise, die Winde, Planeten, Sterne, die Wolken, die Menschengestalt in richtigem und genauem Maß gemessen. Durch dieses Licht unterscheidet die Liebe die Kräfte der Elemente und den übrigen Schmuck am Himmel, die zur Festigung und Zierde der Welt dienen. Aus der wahren göttlichen Liebe kommt auch das Gute. Alles wägt sie mit richtigem Urteil: die Verdienste, die aus der Sehnsucht nach dem Himmel und den geistlichen Stoßseufzern durch göttlichen Antrieb kommen, ebenso die Werke des Menschen, die er um Gottes willen vollbracht hat. Im Menschen tobt ein heftiger Kampf, denn das Fleisch ergötzt sich an Sünden und die Seele dürstet nach Gerechtigkeit. „Lebt der Mensch nach der Sehnsucht seiner Seele, so verleugnet er sich aus Liebe zu Gott und macht sich zu einem Fremdling bei den Begierden des Fleisches.“ (S. 89)
Auch die 2. Vision endet mit der Einladung Gottes: Jeder Mensch, der Gott fürchtet und liebt, soll sich diesen Worten mit der Hingabe seines Herzens öffnen, und er soll wissen, dass sie zum Heil des Leibes und der Seele der Menschen nicht von einem Menschen verkündet sind, sondern durch Mich, der Ich bin.

Welche spirituelle Botschaft kommt uns aus dieser Vision entgegen?
Die göttliche Liebe, Gott selbst, trägt den Kosmos als Riesenrad in seiner Brust. Mit den Lichtfäden aus seinem Mund durchströmt er alles, ordnet alles und hat jedem Element, den Winden, Planeten, Sternen, Geschöpfen, dem Menschen sein Maß gegeben und alles aufeinander bezogen. Die Gestalt des Menschen ist in das Ganze des Kosmos eingeästet, sie ist berührt und durchströmt von den Kräften der Winde, Planeten und Sterne und sie wirkt mit und in den Elementen. Denn der Mensch steht mitten im Weltenbau mit ausgebreiteten Armen, berufen zum Wirken mit und in der Schöpfung. Die Kräfte der Seele, die den Leib des Menschen mit ihrer Kraft übertreffen, können sich über den ganzen Erdkreis erstrecken. Und die Schöpfung soll an seinen Werken teilhaben und ihm in allem beistehen. Denn der Mensch kann ohne die Schöpfung weder leben noch bestehen. In allem Tun soll der Mensch Gott fürchten, d.h. in einer ehrfürchtigen Beziehung als Geschöpf Gottes in dem Lebensraum der Schöpfung leben und in lauterer Gesinnung den Urheber allen Seins verehren. Denn der gottesfürchtige und gläubige Mensch hat sein Dasein im Wissen Gottes; er lebt in einer lebendigen Beziehung zu seinem Gott. Bei Erfolg oder Misserfolg seiner Handlungen seufzt er zu Ihm auf und bleibt in der Haltung der Hingabe. Denn er sieht im Glauben überall Gott und erkennt ihn durch die Geschöpfe. Die Eingebundenheit des Menschen in den Kosmos, die der Mensch gerade auch immer wieder besonders in dem Windsystem und durch die Planeten erfährt, rufen ihn zur Verantwortung in der Schöpfung auf und zeigen ihm sein Angewiesensein auf die „virtutes“, auf die Tugendkräfte aus Gott. In dieser Kosmosvision geht es auch um das Handeln des einzelnen Menschen und seinen Weg zum Heil, der sich im Lebensraum der Schöpfung befindet. Und wie der Mensch mit der Natur verwoben ist, so ist er auch mit seinem Schöpfer und Erlöser verbunden. Der Mensch kann nicht ohne die Schöpfung und nicht ohne den Schöpfer leben. Heil, Zukunft finden die Menschen nur in einem persönlichen Gottesbezug.
In dem komplizierten Ineinander von Gotteskräften im Kosmosrad ist die Grundsituation des Menschen nach Hildegard einfach: er kann sich in dieses Bezugsfeld hineinbegeben, indem er sich auf Gott ausrichtet oder er wendet sich von ihm ab und liefert sich damit den Mächten des Bösen aus. Dies ist aber keine einmalige Entscheidung. In der Spannung und Auseinandersetzung bleibt der Mensch im zeitlichen Leben. Mit Hilfe der sieben Geistesgaben und der entsprechenden Gotteskräften kann der Mensch sein Heil erreichen, das ewige Leben mit der erneuerten Schöpfung.

 

 

10. Vision: Die Liebe Gottes

Ein Rad von erstaunlichem Umfang, es weist auf Gott hin,
der ohne Anfang und ohne Ende ist.
Eine dunkle Linie teilte es quer in der Mitte, sie trennt Ewiges und Zeitliches.
Eine rötlich schimmernde Linie zeigt die göttliche Ordnung.
Ein grünes Feld in der oberen Radhälfte von links zur Mitte steht für die Schöpfung, für die viriditas
Ein rotes Feld in der oberen Radhälfte von rechts bis zur Mitte steht für das gewandelte Leben aus der Vergänglichkeit in Gott.
Die untere Radhälfte zeigt ein fahles, von schwarz untermischte Farbe, die vergänglichen Zeiten der Welt, die Zeitlichkeit.
In der Mitte des Rades sitzt eine Gestalt, die Liebe, „caritas“.
Ihr Gesicht leuchtet wie die Sonne, um ihren Hals eine goldene mit Edelsteinen geschmückte Kette.
Die Gestalt blickte auf eine Tafel (das Vorauswissen Gottes). Damit bewegte sich die Linie, auf er sie saß. So entstanden auf Gottes Geheiß Himmel und Erde und die übrigen Geschöpfe.
Mit verschiedenen Feldern im unteren Rad werden die einzelnen Zeitabschnitte der Menschheit angedeutet.
Wasser, Zeit der Sintflut
Glühend rotes Feld, Zeit der Gerechtigkeit (Abraham, Moses, Propheten)
Klares leuchtendes Feld, Zeit der Menschwerdung des Sohnes Gottes
Dunkles Feld, Zeit des Glaubensabfalls, des Antichristen
In Gottes Willen und in seiner Macht liegt es, wann er die Welt und was in der Welt ist, beenden wird.
Gott ist im Kreisen Seiner Liebe mitten in der Schöpfung, in Zeit und Ewigkeit.

Hildegard schaute wieder ein Rad von erstaunlichem Umfang, das Ähnlichkeit hatte mit einer leuchtend weißen Wolke und nach Osten gewandt war. Es weist auf Gott hin, der ohne Anfang und ohne Ende ist, aber milde in seinen Werken. Eine dunkle Linie wie der Atem eines Menschen teilte es quer in der Mitte, von der linken zur rechten Seite, das bedeutet, dass Gott Ewiges und Zeitliches getrennt hat. Auf der Mitte dieses Rades oberhalb der Linie zeigte sich eine andere Linie, rötlich schimmernd wie das Morgenrot. Sie führte vom oberen Rand des Rades bis zur Mitte der dunklen Linie herab. Dadurch wird die Göttliche Ordnung gezeigt, die auf alles Gute gerichtet und vollkommen ist. Der obere Teil der Radhälfte sandte von links bis zur Mitte grüne Farbe aus, die Schöpfung steht in der Lebenskraft, viriditas, des Willens Gottes. Und von der rechten Seite bis zur Mitte leuchtete so etwas wie rote Farbe. Dieses Feld steht für das gewandelte Leben, d.h. Gott wandelt nach dem Ende der Welt das, was von der vergänglichen Zeit zum Leben emporgehoben werden soll, zum Besseren. Beide Farben sind auf gleiche Flächen verteilt. Denn wie die Ewigkeit vor dem Beginn der Welt keinen Anfang hatte, so hat sie auch nach dem Ende der Welt kein Ende, sondern Anfang und Ende der Welt werden gleichsam von dem einen umfassenden Kreis umschlossen.
Die Radhälfte, die quer unterhalb der erwähnten Linie ist, zeigt eine fahle, von Schwarz untermischte Farbe. Sie bezeichnet die vergänglichen Zeiten der Welt, die Anfang und Ende haben. Über sie herrscht die Ewigkeit. Solange die Welt dauert, trägt sie schwer, bald an der Blässe der Ängste, bald an der Schwärze der Drangsale.
In der Mitte dieses Rades sah Hildegard auf der dunklen Linie, die Ewiges und Zeitliches trennt, die Gestalt sitzen, die ihr als die Liebe, „caritas“, bezeichnet worden war. Das bedeutet, dass die Liebe mit dem Willen Gottes im Ruhen verbunden ist. Ihr Antlitz leuchtete wie die Sonne, ihr Gewand glänzte wie Purpur, um ihren Hals hatte sie eine goldene Kette, die mit Edelsteinen geschmückt war, und sie trug Schuhe, die wie Blitze strahlten.
Ihr Gesicht leuchtet wie die Sonne, weil sie den Menschen mahnt, jede Absicht seines Herzens auf die wahre Sonne zu richten. Ihr Gewand glänzt wie Purpur, damit sich der Mensch aus dem Herzen der Barmherzigkeit ein Gewand macht und jeden, der ihn bittet, zu Hilfe kommt, soweit er kann. Sie hat um ihren Hals eine goldene Kette mit Edelsteinen geschmückt. Das ist ein Wink für den Menschen, das Joch des Gehorsams aufzunehmen und es mit seligen Tugenden zu schmücken, so dass er sich in allem erniedrigt und zeigt, das er Gott so wahrhaft unterworfen ist, wie der Sohn Gottes seinem Vater bis zum Tod gehorchte.
Auch trägt die Liebe Schuhe, die wie Blitze strahlen, damit alle Wege des Menschen im Licht der Wahrheit liegen und der Mensch den Spuren Christi folgt und so den anderen ein Beispiel der Rechtschaffenheit gibt. (LDO S. 409)
Vor dem Antlitz dieser Gestalt erschien eine Tafel, (das Vorauswissen Gottes) strahlend hell wie Kristall mit der Aufschrift, dass nichts, was einem Anfang unterworfen ist, die Gottheit, die ohne Anfang ist, völlig begreifen kann. Denn im Anblick der Liebe wird das Vorauswissen Gottes offenbart, weil die Liebe und das Vorauswissen völlig übereinstimmen. Es offenbart, dass der Mensch, der der Liebe unterworfen sein will, mit ihr liebt, was in Gott ist. Er schaut Gott in der Reinheit des Glaubens an und zieht Ihm nichts vor, was vergänglich ist. Damit errichtet er sich einen Platz in den himmlischen Freuden, da Gott vorausgesehen hat, dass er dorthin gelangen wird. Und die Gestalt blickte auf die Tafel. Dadurch bewegte sich die Linie, auf der sie saß. Als die Liebe Gottes sein Vorauswissen anblickte, in dem alles erschien, was in den Geschöpfen zukünftig war, (da die Geschöpfe, die geschaffen werden sollten, noch nicht waren), bewegte sich der Wille Gottes, mit dem die Liebe in Ruhe verbunden ist, zur Erschaffung der Geschöpfe. Und so entstanden auf Gottes Geheiß Himmel und Erde und die übrigen Geschöpfe, die auf ihr sind. (S. 410)
Nach den anderen Geschöpfen, sagt Hildegard, schuf Gott den Menschen, damit er alles, was er brauchte, für sich vorbereitet fand, und erleuchtete ihn mit dem lebendigen Geisthauch. Er rüstete ihn mit Feuer und Flamme aus, d.h. der Mensch ist Feuer in der Seele und Flamme in der Vernunft. Die Flamme der Vernunft weiß, wo sie durch den Kuß des Auswählens wirken soll, das ist die Erkenntnis von Gut und Böse. Diese beiden Kräfte, Feuer und Flamme, Seele und Vernunft, legte Gott in das irdene Gefäß des Leibes des Menschen, damit der Mensch wirke, was für ihn nützlich ist. Wie das Feuer die Flamme in sich enthält, so hat der vernunftbegabte Mensch Kräfte zum Wirken.
„Und Gott ist Feuer und lebendiger Geist. Er hat das große Werk geschaffen, aus dem sein Sohn sein Gewand nahm, durch das er seine Gottheit verbarg und sehr viele Wunder wirkte. In Ihm ist Er auch durch die Welt gegangen, bis Er die zehnte Zahl (das Menschengeschlecht), die verloren war, an sich zog.“ (S. 411) Der Mensch aus Feuer (Seele) und Flamme (Vernunft) ist immer wieder eingeladen, zu seinem Schöpfer aufzuschauen und zu sprechen: Du bist mein Gott! Im Feuer des Heiligen Geistes kann der Mensch seine Lobpreisungen entzünden, „um sie zu vermehren wie die Funken des Feuers vermehrt werden.“ (S. 411) Der vernunftbegabte Mensch wünscht, ersehnt etwas, danach bewirkt er etwas. (Das unvernünftige Tier richtet sich nach seiner Naturanlage.) Der Mensch aber wohnt durch den Glauben bei Gott. Nachdem wir von der schaffenden Liebe Gottes gehört haben und damit auch über den Menschen, lassen wir uns in der Vision der hl. Hildegard weiterführen.
Im oberen Teil des Rades wurde uns das geschaffene Leben, das Wirken Gottes im Vorauswissen Gottes aus der Ewigkeit heraus vor Augen gestellt in den Feldern grün und rot. Im unteren Teil des Rades werden wir mit der Zeitgeschichte und Menschheitsgeschichte im gesamten Ablauf der Zeiten konfrontiert.
Mit den verschiedenen Feldern im unteren Rad werden die einzelnen Zeitabschnitte der Menschheit angedeutet. Sie leuchten auf, wenn die Gestalt der Liebe auf das Vorauswissen Gottes in der Tafel schaut und die Linie sich bewegt. Den äußeren Teil der unteren Radhälfte schaute Hildegard für kurze Zeit wie Wasser. Gott kündet: „Nachdem sich Mein Wille mit Meiner Macht zur Schöpfung verbunden und die Geschöpfe hervorgebracht hatte, zeigten sich die Urteile Meiner Macht in der Sintflut beim Ausgießen der Wassermassen. (Welch eine Souveränität Gottes kommt hier zur Sprache!) Denn als der erste Mensch Kinder zeugte, versank deren Nachkommenschaft immer mehr in das Böse.“ (S. 411 / 412) Das sich anschließende glühend rote Feld kündet von der Zeit nach der Sintflut mit Noach , mit dem das Bauwerk der Gerechtigkeit entstand. Die Röte der Gerechtigkeit leuchtete in der Beschneidung bei Abraham auf, weiter in der Gesetzgebung des Mose und durch die Propheten. In den verschiedenen Generationen rissen Menschen in ihren Werken den Glanz der Gottesfurcht an sich. Klar und leuchtend wurden die Zeiten mit der Menschwerdung des Gottessohnes. “Gott, der Vater, der weder Anfang noch Ende hat, sandte in der Fülle der Zeit, die von Ewigkeit her bestimmt war, seinen Sohn zur Erlösung des verlorenen Menschen auf die Erde.“ (S. 412) Vor der Geburt des Sohnes Gottes war alles gleichsam in einer Finsternis, die er nach seiner Menschwerdung wie die Sonne erleuchtete. Der Heilige Geist, der den Schoß der Jungfrau befruchtet hatte, war in Feuerzungen über die Jünger des Gottessohnes gekommen und wirkte in ihren Nachfolgern, eine kräftige (männliche) leuchtende Zeit.
Danach nahm die Grünkraft, die Kraft des Heiligen Geistes in den Menschen ab, in der folgenden weibischen Zeit (Zeit der hl. Hildegard) tat jeder Mensch, was ihm gefiel. Schlechte Mietlinge, ungerechte Tyrannen, die Gier nach Geld herrschten. Gott hatte eingegriffen mit vielen Heimsuchungen, durch Strafen, mit schwerer Krankheit, weil sie nicht von ihrer unruhigen Lebensweise ablassen wollten.
Hildegard hörte Gott sprechen: „Durch die Schöpfung, die ich zum Nutzen des Menschen geschaffen habe, werden die Menschen oft gerichtet. So werden sie durch Feuer und Wasser erstickt, durch den Wind und die Witterung wird ihnen die Frucht der Erde genommen. Sonne und Mond zeigen sich nicht in richtiger Weise, weil sie ihre Bahnen nicht einhalten, wie sie von Gott angeordnet wurden.
So werden jene Tage ihren Lauf mit den wüsten Sitten der Menschen füllen, die Blut vergießen, jede ehrenhafte Einrichtung der Kirche zerstören, die goldenen Gerechtigkeit verfälschen.“ (S. 418)
Die kirchlichen Einrichtungen (Die Kirche sollte immer leuchtend und unwandelbar vor Gott stehen) werden allmählich zerfallen. Die Kirche klagt: Meine Krone ist durch die Spaltung des irrenden Geistes verdüstert, weil jeder sich nach seinem Willen sein Gesetz macht. Für die Heilige Schrift sind sie taub, sie hören nicht auf sie und lehren sie nicht. So herrscht Überdruß in allen Ständen. (S. 427)
Hildegard hörte drei Reden des Menschensohnes und eine ausdrückliche Bitte des Sohnes Gottes an den Vater um Schonung der Menschen in der Heilsgeschichte. Der Sohn Gottes leidet selbst an seinem Leib an Erschöpfung, weil seinen Kleinen schwach werden. Er zeigt dem Vater seine Wunden. Seine Glieder verursachen ihm Leid, weil sie in ihrer Bosheit gegen ihn ausschlagen.
Die Heilsgeschichte zeigt ein Auf und Ab von innerer Erneuerung und Irrlehren im Glaubensabfall. Die Menschen vergessen ihren Schöpfer und wenden sich von der reinen Lehre der Kirche ab. Dies zeigt das dunkle Feld in der unteren Radhälfte, das wie ein unruhiges und stürmisches Unwetter ist. In Gottes Willen und in seiner Macht liegt es, wann er die Welt und was in der Welt ist, beenden wird. „Die Menschen jener Zeit werden die Reinheit und Beständigkeit des wahren Glaubens fliehen und sich vom wahren Gott lossagen, indem sie sich dem Sohn des Verderbens zuwenden. Dieser wird alle kirchlichen Einrichtungen in Verwirrung bringen und über die Gläubigen, die ihm widerstehen, die stärksten Stürme der Widerwärtigkeiten losbrechen lassen.“ (S. 447)
„Im katholischen Glauben der Christen werden so große Zweifel und Verunsicherung herrschen, dass die Menschen zweifeln, wen sie als Gott anrufen sollen. In jener Zeit wird so große Traurigkeit die Menschen befallen, dass sie das Sterben für nichts erachten.“ (S. 448)
Gott sieht den Niedergang in verschiedenen Zeitabschnitten. Er wartet auf die volle Zahl der Märtyrer, die in den letzten Tagen des hoffnungslosen Irrtums, des Antichristen, wegen des Bekenntnisses seines Namens ihren Leib den Leiden des Martyriums ausliefern werden.
Der Sohn des Verderbens lehrt die Menschen nach der feurigen Begierde des Fleisches zu leben und jeden Wunsch ihres Fleisches zu erfüllen. Er wird sich als Gott anbeten lassen.
Gott lässt dies im Kreisen seiner Liebe zu, damit das gesamte Menschengeschlecht den Sturz des Antichristen erkennt. „Wenn nämlich der Sohn des Verderbens sich durch teuflische Kunst nach oben erhebt, wird er durch göttliche Kraft hinuntergestürzt werden. „Jesus, der Herr, wird ihn, den gesetzwidrigen Menschen, durch den Hauch seines Mundes töten“.
(2 Thess 2,8) Die dabeistehenden Völker werden sich zum wahren Glauben der Taufe bekehren. Sie werden Gott lobpreisen.
Hildegard hörte vom Himmel eine Stimme: „Jetzt sei Gott Lob in seinem Werk, dem Menschen. Für seine Erlösung hat Er die gewaltigsten Kämpfe auf der Erde geführt und Er hat sich gewürdigt, ihn über die Himmel zu erheben, damit er zusammen mit den Engeln Sein Antlitz in jener Einheit lobt, in der Er wahrer Gott und Mensch ist.“ (S: 460)

Welche spirituellen Aussagen hören wir in der zehnten und letzten Vision?
Es geht um die Liebe Gottes im Kreisen der Zeit und Ewigkeit. Denn Gott ist in seinem Wesen die Liebe. Gott hat in seinem Planen und in seiner Fürsorge für alles das Äußerste seiner Liebe darin gezeigt, dass der Sohn Gottes in seiner Menschheit den verlorenen Menschen zum Himmel zurückführt. Dieses Äußerste der Liebe Gottes, die Menschwerdung des Sohnes Gottes, leuchtet in der Zeit, vor der Zeit in seinem Vorauswissen und nach der Zeit, in Ewigkeit auf, die unser ewiges Leben ist. Gott war vor allem Anfang und ist der Anfang und die Zeit der Zeiten. Er selbst ist jenes lebendige Feuer, durch das die Seelen atmen. Er hat den Menschen „mit Feuer und Flamme“ ausgerüstet. Mit diesen beiden Kräften soll der Mensch wirken und durch den Glauben bei Gott wohnen. Er soll mit seiner Vernunft den Lobpreis Gottes vermehren.
Im Symbol des Rades kommt uns die Ewigkeit Gottes entgegen. Der Wille Gottes hat Zeitliches und Ewiges getrennt und eine göttliche Ordnung gesetzt. (Linien im Rad)
Im Vorherwissen Gottes liegt die Schöpfung; diese ist in der Ewigkeit eingeborgen mit all dem Verwandelten aus der Zeit. (grünes und rotes Feld)
Die untere Radhälfte gibt uns einen Einblick und Überblick über die Menschheitsgeschichte, die eine Heilsgeschichte Gottes mit seinen Geschöpfen ist. Die Bitte des Gottessohnes an den Vater um Schonung der Menschen erklingt bis zur Wiederkunft des Herrn, dem Ende der Zeitgeschichte:
Vater, weil Ich Dein Sohn bin, blicke auf Mich in der Liebe, in der Du Mich in die Welt gesandt hast, und betrachte Meine Wunden, durch die Ich auf Dein Geheiß den Menschen erlöst habe. Ich zeige sie Dir, damit Du Dich dieser erbarmst, die Ich erlöst habe. Laß nicht zu, dass sie aus dem Buch des Lebens getilgt werden. Durch das Blut Meiner Wunden hole Ich sie in der Reue zu dir zurück, damit nicht der, der Meine Menschwerdung und Mein Leiden verspottet, durch das Verderben über sie herrscht. (S. 456)
In der Mitte des Rades sitzt die Gestalt der Liebe. Sie weist auf Gott hin, der die Liebe ist.
Gott ist mitten in der Schöpfung, in Zeit und Ewigkeit, im Kreisen der Liebe.
Nun sei Lob dem allmächtigen Gott in all Seinen Werken vor der Zeit und in der Zeit, denn er ist der Erste und der Letzte. (S. 461)

Die spirituelle Botschaft der ersten, zweiten und zehnten Vision kreist um den Menschen aus Feuer und Flamme als Abbild Gottes, in den die höheren und niedrigeren Geschöpfe eingezeichnet sind. Der Mensch am Platz des verlorenen Engels, soll das Lob Gottes vollenden. Die gesamte Schöpfung soll dem Menschen bei seinem Werk beistehen. Deshalb hat Gott die Welt aus den Elementen zusammengefügt, mit den Winden verstärkt, mit den Sternen verknüpft und erleuchtet und mit den übrigen Geschöpfen erfüllt. In ihr hat Gott den Menschen mit all diesem umgeben, mit größter Kraft überall durchströmt. Denn der Mensch, der mitten im Weltenbau steht, eingeästet in den Kosmos mit den Elementenkreisen, dem Windsystem, den Planeten und Sternen, kann ohne die Schöpfung nicht leben. Alles hat Gott des Menschen wegen erschaffen. In der Schöpfung kann er seinen Schöpfer erkennen. In der Verteidigung seines Schöpfers, in der Beziehung zu dem Urquell allen Lebens, hat der Mensch das Aussehen eines Menschen, weil er beginnt , nicht nach der Art des Viehs, sondern in Würde seiner menschlichen Natur entsprechend zu leben. Von den Gotteskräften, den Tugenden im Heiligen Geist, gestärkt, folgt der gläubige Mensch treu den Spuren des Sohnes Gottes. In lauterer Gesinnung soll Gott verehrt werden, der das Kosmosrad umarmt und so den Menschen in seiner Brust trägt. Durch den menschgewordenen Sohn Gottes ist der Mensch innig mit der Gestalt der Liebe verbunden. Die Liebe trägt den gläubigen Menschen in die Vollendung und Fülle des Lebens im Kreisen der Ewigkeit.
Sr. Hiltrud Gutjahr OSB