Benediktinische Aktualisierung von Psalm 1, 2 und 3

Weg nach Innen.

Ora et labora, so lautet die bekannte Kurzformel, mit der benediktinisches Ordensleben gerne zusammengefasst wird: bete und arbeite. Doch es fehlt der Losung mit ungeklärter Herkunft das dritte Standbein, die Tora. Ora et labora et lege – bete, arbeite und lies, so müsste es vollständig heißen.

In seiner Regel gliedert der Ordensvater Benedikt das Kalenderjahr in drei Zeitfenster, denen er ein unterschiedliches Maß an Arbeit, Gebet und Lesungszeit zuordnet. Zugleich reserviert er für das Studium der hl. Schrift, der sogenannten Lectio Divina (RB 48,1), einen besonderen Zeit- und Schutzraum: Die Mönche sollen zu bestimmten Stunden frei sein für die Lesung. Siebenmal gebraucht er innerhalb weniger Verse dafür das Wort vacare, um auf die Notwendigkeit der Spannungseinheit und deren qualitative Prägung hinzuweisen: frei sein (vacent lectionibus), um sich eifrig und aufmerksam der Meditation der hl. Schrift (intentus lectioni) widmen zu können. Kurz: Die Benediktusregel, komprimiert in dem Dreisatz ora et labora et lege, erweist sich als eine Bauidee mit Elastizität. Sie bietet einen hermeneutischen Rahmen und zugleich die Freiheit für Adaptionen und Reinkarnationen. Die Lectio Divina soll den, der sich in die Schrift vertieft und sie verinnerlicht, befähigen, sich auf das Wort Gottes, das buchstäblich in Anspruch nimmt, einzulassen, es existentiell zu erschließen und im Leben zu verwirklichen. Das verbindende „et“ zählt nicht ein minutiös getaktetes Nebeneinander auf. Es geht vielmehr um die innere Verbindung dreier Grundhaltungen und die Konjunktion des gesamten Lebens unter der Führung der göttlichen Weisung: „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat“ (RB Prol. 1).

Das Erkannte soll im Tun sichtbar werden.
Prolog der Benediktusregel und Proömium des Psalters stellen gleichermaßen das Porträt eines glückseligen Menschen vor, der aus dem lebendigen Kontakt mit dem Wort Gottes lebt und der seine „Freude hat an der Weisung des Herrn“ (V.2). Er hält sich nicht auf, wo er sich nicht aufhalten soll (V.1); er begibt sich nicht auf das abschüssige Gefälle vom Gehen, über das Stehen, bis hin zum sich niederlassen und festsetzen auf der „cathedra pestilentiae“ (Abstraktum der Vulgata).

Drei Verben der Bewegung führen über eine Antiklimax zum Stillstand: gehen, stehen, sitzen. Von den drei negativen Darstellungen einer sich zunehmend verengenden Sicht- und Handlungsweise (auch die Cathedra der Pestilenz folgt einer logischen Sukzession: vom weiten Rat, über den schmalen Weg bis zum kleinen Kreis), hebt sich die Freiheit des selig zu preisenden Mannes ab. Dieser verortet sich ganz in der Tora, in der Weisung des Herrn, und sinnt über sie nach bei Tag und bei Nacht (in lege Domini meditabitur die ac nocte, V.2). Er versenkt sich in das Wort – und hält im wahrsten Sinn Lectio Divina, „damit wir uns das, was wir murmelnd immerfort wiederholen, im Glauben zu eigen machen“ (Liber Horesi 51). Die monastische Tradition nennt das ruminatio – wiederkäuen, und umschreibt damit eine mystisch-aszetische Grundhaltung beständiger Meditation. Der Gerechte (Zaddik, V.5f.) schluckt nicht einfach das Gesetz, er kaut es wortwörtlich durch. Und wie sich bei der Nahrungsaufnahme Energie und Nährstoffe erst durch bedächtiges Kauen freisetzten, so verhält es sich auch hier mit der stetigen Wiederholung der Worte der Tora. Die Lust am Gesetz, das unerschöpfliche und schöpferische Nachsinnen eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Vertiefung, des Verstehens und der Identifikation: „Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt“. Wurzeln schlagen, um sich entfalten zu können: „Alles was er tut, wird im gelingen“ (V.3). Mehr noch, er ist sogar dem natürlichen Kreislauf der Vergänglichkeit enthoben. Das Laub bleibt paradiesisch immergrün, seine Blätter „welken nicht“ (V.3).

Was im 12. Jahrhundert zum klassischen Vierschritt der Lectio Divina wird (Guigo II., Scala claustralium), finden wir hier bereits in nur einem Vers vorgebildet:

1. lectio – die beständige Wässerung des Baumes (V.3a) – wachsame Lesung der hl. Schrift
2. meditatio – der langsame Reifungsprozess der Frucht (V.3b), die dann zur rechten Zeit ihren Saft und Geschmack abgibt – ständige Wiederholung und einübende Verinnerlichung des Gelesenen
3. oratio – die belebende Wiederholung und Erneuerung der Grünkraft (V.3c), damit die Erkenntnis nicht welkt – Antwort auf die Anrede Gottes
4. contemplatio – der neue Gesichtspunkt des Handelns (V.3d) – Verweilen in der Gegenwart Gottes

Gegenbild dazu ist die Unstetigkeit der Frevler, die wie der nutzlose und unfruchtbare Überrest des Getreides (Spreustaub = der letzte Dreck) vom Wind verweht werden (V.4). Ihnen fehlen Beständigkeit und Ausdauer, etwas durchzustehen. Weder im Gericht noch in der Gemeinde der Gerechten haben sie einen Standort. Mangelnde Zugehörigkeit, die in Isolation und Dissoziation führt. Dass der Wind sie zerstreut, erscheint hier jedoch nicht als Strafe. Es steht spiegelbildlich für die Gottlosigkeit, die in den Abgrund des Chaos führt. Flüchtig und ruhelos (vgl. Gen 4,12), wie Kehricht vom Wind gejagt. Doch nicht allein die Existenz der Frevler verliert sich. Das letzte Wort von Psalm 1 weist darauf hin, dass der Irrweg selbst vergehen wird. Damit ist auch eine alphabetische Klammer, ein Wegweiser vom ﬡ (Aschre, V.1) bis zum ﬨ (Tobed, V.6) gesetzt. Der Mensch muss sich je neu entscheiden, positionieren, verorten.

Die Letztbeurteilung der Wegverläufe liegt jedoch bei Gott, der allein die ganze Strecke überblickt und eigene Maßstäbe hat (vgl. Mt 7,13-14). Der Mensch auf der Wegkreuzung aber kann sich bereithalten, um aus der gelebten Gottesbeziehung heraus seine Schritte frei zu setzten: „Denn JHWH kennt den Weg der Gerechten“ (V.6). Dieses „Kennen“ (Jodea) meint eine liebende Zuwendung und spricht zugleich von einer Vertrautheit, die sich einer lebendigen Beziehung verdankt. Der Weg des Gerechten ist ein von JHWH „umsorgter“ (Romano Guardini, Deutscher Psalter). Aus dieser Verwurzelung heraus vermag der Mensch, sich zu allem, was ihm begegnet, ihm entgegentritt oder verleitet, zu verhalten. Verwurzelt zu sein an den Quellbächen der Tora, das Ohr des Herzens zu neigen, das Wort zu schmecken (vgl. Jer 15,16; Ez 3,1-3) und seinen Weg zu gehen – das sind Perspektiven, die zur Grundsituation eines freien, aber immer auch fragilen und fraglichen Lebens gehören.
Anders gewendet: Die Lectio Divina fördert geistige und seelische Beweglichkeit und Ausdauer, um bei gesellschaftlichen Überzeugungen und materiellen Gütern nicht einfach stehen oder gar kleben zu bleiben. Durch beständiges Fragen und Suchen erweist sie sich als Ort „fortschreitender“ Gottesbegegnung, denn mit Gott tritt man nicht auf der Stelle (Dietrich Bonhoeffer).

Am Ziel.

Am Aschermittwoch, dem Beginn der österlichen Bußzeit, intoniert der Gesang zur Kommunion Psalm 1,2: „Qui meditabitur in lege Domini die ac nocte, dabit fructum suum in tempore suo“. Möglich, dass damit der Umkehrweg der Fastenzeit beschrieben werden soll: was in diesen 40 Tagen an guten Vorsätzen und Bußübungen gesät wird, möge am Osterfest reiche Frucht tragen. Die Neumen der Communio legen allerdings einen Betonungsschwerpunkt und eine bewusste Verlangsamung der Melodie auf die Worte „in tempore“ – zu seiner Zeit. Nachlässigkeit im Auskosten der Lectio Divina, lässt auf die Dauer unfruchtbar werden im Guten (Cassian, Inst. 10,2,1). Wer sich die Schriftworte nicht durch beständiges Wiederkäuen einverleibt, verliert mit der Zeit Substanz. Fehlt die äußere Ruhe, geht auch die innere Dynamik verloren. Die Gangart des Schweigens will Distanz gewinnen und zugleich Bewegungsfreiheit bewahren und sich gerade nicht vereinnahmen lassen von Zwängen und Meinungen. Eine Erfahrung, die zwei Altväter pointiert ins Wort bringen: „Altvater Sisoes sagte: Schweigen heißt pilgern!“ (Vitae Patrum 7,32,4). Und Altvater Moses: „Geh, setz dich in deine Zelle, und die Zelle wird dich alles lehren“ (Vitae Patrum 5,2,9).
Die erste Prozession am Aschermittwoch war der Gang zum Empfang des Aschenkreuzes, begleitet von den Worten: „Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst. Kehr um, und glaub an das Evangelium.“ Die zweite Prozession ist der Gang zur Kommunion, begleitet durch das melodische Vor-sich-her-Summen von Psalm 1,2. Fruchtbringen zu dürfen, zu seiner Zeit, entlastet vor falscher Askese und vermeintlich guten Wegen, damit nicht die ichbezogene vana gloria im Weg steht dem „Freisein für Gott“.

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB