Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. (Joh 10, 11-15)

Wären Sie nicht erstaunt, wenn jemand Ihnen sagte, dass der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier Sie persönlich kennt? Oder Thomas Gottschalk?
Sie wären sicher erstaunt, und nicht wenige würden sich geehrt fühlen.
Erstaunlich ist auch, was in der Bibel, im Buch Exodus, Gott zu Mose sagt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid.“ (Ex 3,7) Und etwas weiter: „Das, was du jetzt verlangt hast, will ich tun; denn du hast nun einmal meine Gnade gefunden und ich kenne dich mit Namen. (Ex 33,17)
Stellen Sie sich das einmal vor: Der Schöpfer der Welt, der Herr des Himmels und der Erde, wendet sich dem Menschen zu und sagt ihm: Ich kenne dich, ich kenne deine Not… Und wenn die Bibel vom „kennen“ spricht, meint sie nicht irgendein Wissen oder eine intellektuelle Erkenntnis, sondern das Kennen findet im Innenraum einer Beziehung statt, es ist Ausdruck dieser Beziehung.
Deutlich wird das, wenn wir auf den Text aus dem Johannesevangelium schauen, den wir eben gehört haben. Dort sagt Jesus: Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.
Hören wir einmal genau hin: Jesus sichert uns zu, uns so zu kennen, wie der Vater ihn kennt und er den Vater kennt. Jesus und sein Vater kennen sich ja nicht, wie man halt jemanden so kennt, wenn man von ihm gehört hat. Jesus wurde bei der Taufe und bei der Verklärung von seinem Vater feierlich als sein Sohn anerkannt und bezeugt. Jesus und der Vater kennen sich, wie ein Vater und ein Sohn sich kennen. Und Kennen bedeutet: lieben.
Jesus sagt also: Ich kenne und liebe euch so wie ich den Vater kenne und liebe. Das ist kein Vergleich, sondern eine Gleichsetzung: die innige Beziehung Jesu zum Vater ist die gleiche, wie zu uns: wir sind da hineingenommen, sind Teil davon. Wir dürfen Gott „Abba – lieber Papa“ nennen. Wir sind wirklich und wahrhaftig Töchter und Söhne des Vaters im Himmel, sind wirklich und wahrhaftig Schwestern und Brüder Jesu.
Und Jesus sagt weiter: „Die Meinen kennen mich…“ Die „Meinen“ – das sind wir – aber kennen und lieben wir Jesus, so wie der Vater ihn kennt und liebt? Wenn wir da Zweifel und Fragen haben, stehen wir nicht alleine; auch den Jüngern ging es so. Man kann fast das Seufzen Jesu hören in der Frage: Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus?
Aber wir brauchen nicht verzagen: wir kennen Jesus, weil er selbst uns hilft, ihn kennen zu lernen. Seine Ostergabe an uns ist der Heilige Geist: SEIN Heiliger Geist, der uns alles lehren und in die ganze Wahrheit einführen will. Es ist der Geist der Liebe, die zwischen Vater und Sohn lebendig ist, es ist die Liebe selbst. Wir bräuchten nur offen zu sein, Sehnsucht nach ihm zu haben, „wahrhaft Gott suchen“, wie der Hl. Benedikt es ausdrückt. Das wäre das Entscheidende.
In dieser Zeit zwischen Ostern und Pfingsten werden wir in den Schriftlesungen der Liturgie darauf eingestimmt, den versprochenen Heiligen Geist zu erwarten, ganz sicher mit ihm zu rechnen. Und zugleich zu entdecken, dass er schon tief in uns lebendig ist und wirkt. Schon die Sehnsucht nach Gott ist eine Wirkung des Heiligen Geistes, wie Augustinus uns sagt.
Geben wir dieser Sehnsucht Raum, machen wir uns auf die Suche nach Gott, nach Jesus. Lesen wir in der Heiligen Schrift, um ihn besser kennenzulernen, und entdecken wir seine Spuren in unserem Leben. Wir können uns dabei jederzeit auf die Hilfe, die Stütze und das Feuer des Heiligen Geistes verlassen.
Seien wir uns auch gegenseitig Ermutigung und Stütze auf diesem Weg, und machen wir uns die Worte des Hl. Paulus zu Eigen, der im Philipperbrief schreibt: Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit ihm; sein Tod soll mich prägen (Phil 3,14). Amen.

Von Sr. Petra Knauer OSB

Ort des Lebens – Ort des Segens 

10 Gebote der Gelassenheit – Werkzeuge der geistlichen Kunst
ein Weg durch unseren Alltag
eine Einladung zum Verweilen im Eilen

„Nimm dir nicht zu viel vor. Es genügt die friedliche, ruhige Suche nach dem Guten: an jedem Tag, zu jeder Stunde, ohne Übertreibung, mit Geduld.“ ( hl. Papst Johannes XXIII.)


Leben

„Nur für heute werde ich mich bemühen, einfach den Tag zu erleben, ohne alle Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

02

Herr,
schenke mir Augen, die weiter sehen
schenke mir Ohren, die tiefer lauschen
schenke mir Gedanken, die unaufhörlich nach dir fragen
schenke mir Menschen, die dich mit mir suchen
und wenn wir dich gefunden haben,
dann blüht unser Mauerwerk auf
im Atemwind deines Geistes
wachsen Trost und Segen,
weil du überall auf uns schaust

 

Werkzeug
Fest überzeugt sein, dass Gott überall auf uns schaut. RB 4,49

apertis oculis nostris

ad deificum lumen
adtonitis auribus audiamus
divina cottidie clamans
HODIE

 

Sorgfalt 

„Nur für heute werde ich mit größter Sorgfalt auf mein Auftreten achten. Ich werde niemanden kritisieren, ja ich werde nicht danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern. Nur mich selbst“

03

sed magis benedicere 

Herr Keuner ging in ein Lebensmittelgeschäft, das sich gleich um die Ecke seines Hauses befand. „Gott zum Gruße“, sagte er beim Eintritt, doch man schenkte ihm nur ein müdes Lächeln. Er habe die Perle im Acker gefunden und wolle ein kleines Fest geben, ob die Herrschaften nicht kommen wollen, fragte er, jeder sei willkommen. Doch man

runzelte nur die Stirn und tat zugleich so, als habe man seine Worte nicht gehört. Mönch zu werden, ja, darüber habe er schon häufiger nachgedacht, mehr theoretisch als praktisch, aber plötzlich habe es ihn dann ergriffen und es lasse ihn nicht mehr los; nein, besser: ER lasse ihn nicht mehr los. Ob jemand der Anwesenden auch so eine beglückende Erfahrung gemacht habe, wollte er wissen, doch man schrie ihn an, er möge endlich still sein. Totenstille trat ein – und Herr Keuner trat aus, um schließlich woanders schweigend einzutreten. Die Perle aber, die ließ er im Acker.

Werkzeug
Von der Liebe nicht lassen. Die uns verfluchen, nicht auch verfluchen, sondern – mehr noch – sie segnen. RB 4,26.32

einmalig
unersetzbar
ähnlich und doch verschieden
zum Verbinden und Ergänzen geschaffen
Geduld ist gefragt und Ausdauer
Sorgfalt
mit dir und mit mir
Puzzleteile im Acker unseres Lebens


 Glück 

„Nur für heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich geschaffen bin, glücklich zu sein, nicht nur für die andere, sondern auch schon für diese Welt.“

04

jubelnde Seele
streck deine Hände aus
grab nach der Quelle
hier ist der Garten
Ölberg und Eden
auch deines Lebens Rosen
wollen hier blühen
Dornwald und Wüste
Manna und Tränen
der Mächtige tut Grosses an uns
heute
hier
auch jetzt
und in der Stunde unseres Todes
stell dich in den Segen
lobpreise den Herrn

Werkzeug
Das ewige Leben mit allem geistlichen Verlangen ersehnen.
Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben. RB 4,46f.

Realismus 

„Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass sich die Umstände an meine Wünsche anpassen.“

05

UM-WÖRTER 

In unserem Alltag benutzen wir viele
Wörter, die mit „um“ beginnen.
Manche dieser „Um-Wörter“ wollen eine
Veränderungen andeuten: Um-zug, Um-schwung, Um-wandlung.

Andere „Um-wörter“ verweisen auf
neue Wegstrecken (Um-wege) und längere Prozesse, die mitunter schmerzhaft verlaufen können: um-gehen, um-biegen, um-erziehen, um-pflanzen, um-leiten.

Aber es gibt auch „Um-wörter“, die selbst in scheinbar un-um-stößlichen Situationen neue Perspektiven eröffnen: Um-verteilung, Um-widmung.

Um-orientierung gelingt freilich nur, wenn aus der neuen Um-schreibung nicht sofort wieder ein neuer Um-stand wird, den man lieber gleich um-schiffen würde.

Ist in unserem Leben denn wirklich alles so vergebens und um-sonst?

Nein!

UM-KEHR – conversatio – ist nicht umsonst, aber dafür „gratis“ – eben voll der Gnade.

Jeden Tag neu!

Werkzeug
Nicht murren. RB 4,39

 Lesen 

„Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen. Wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.“

06

 

Wie treffend, dass es von diesem „Gebot“ gleich zwei Varianten gibt: Lesen und Stille.

Beides liegt auch in unserem Kloster nah beieinander: Bibliothek und Oratorium.

Lectio und Oratio.

In das kleine Heftchen dürfen Empfehlungen geschrieben werden: Leseempfehlungen für das Leben der Seele.

Manchmal liest sie sich spannender als das Buch, das man sich gerade ausleihen möchte: die Leihkarte mit den Namen derer, die schon vor einem dieses Buch gelesen haben.

Leseempfehlungen der stillen Art.

Welcher Reichtum liegt hier verborgen.

Werkzeug
Heilige Lesungen gern hören. RB 4,55

Stille 

„Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit der Stille widmen und Gott zuhören. Wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, so ist das Horchen auf Gott in der Stille notwendig für das Leben der Seele.“

07

Werkzeug
Sich oft zum Beten niederwerfen. RB 4,56

Vorübergang des Herrn
tritt einfach ein
bete
und lass die Welt
vorübergehen

simpliciter intret et oret 


Handeln

„Nur für heute werde ich eine gute Tat vollbringen – und ich werde es niemandem erzählen.“

08

keine Schatten
sondern Licht wirfst du in unser Leben
malst bunte Farbe auf grauen Stein
verwandelst finstere Ecken
in helles Leuchten
zart
verspielt
für Achtsame
nur einen Augenblick
wie leises Säuseln
o Schöpfer der Welt
wie staunenswert
ist dein Blick
für uns
ist dein Atem
in uns
ist dein Antlitz
unter uns
Licht ist gesät
schon keimt es
seht ihr es nicht?
nur einen Augenblick
und das Angesicht der Erde
wird neu

Werkzeug
Arme bewirten.
Nackte bekleiden.
Kranke besuchen.
Tote begraben
Bedrängten zu Hilfe kommen.
Trauernde trösten. RB 4,14-19

Überwinden

„Nur für heute werde ich etwas tun, wozu ich keine Lust habe. Sollte ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür sorgen, dass niemand es merkt.“

09

Mittagshore 

erhitzte Gemüter
neigen das Haupt

die Stirn trägt Wunden
dein Wort lässt heilen
was Worte verletzten

zur Ruhe kommen
die Stille finden

Mitten am Tag
notwendig
Not wendend
heilend

die Stille gefunden
zur Ruhe gekommen

vergebende Worte
dein Wort, das vergibt
alle Schuld dieser Welt

als du dein Haupt neigtest
über erhitzte Gemüter

zur Mittagszeit

Werkzeug
Nicht stolz sein,
nicht trunksüchtig,
nicht gefräßig,
nicht schlafsüchtig,
nicht faul sein. RB 4,34-38

contentus sit monachus


Planen

„Nur für heute werde ich mir ein genaues Programm vornehmen. Auch wenn ich mich nicht genau daran halten werde – ich werde den Tag planen. Ich werde mich besonders vor zwei Übeln hüten: vor der Hetze und vor der Unentschlossenheit.“

10

Danke,

Herr, dass du unser Wollen in ein anderes Licht stellst
und voller Sanftmut
einen zarten Strich
durch unsre Pläne machst.

11

 

 

in aller Gelassenheit und im Gehorsam

cum omni mansuetudine et oboedientia

 

 

Werkzeug
Gottes Weisungen täglich durch die Tat erfüllen. RB 4,63

 


Mut

„Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, und mich an allem freuen, was schön ist. Und ich werde an die Güte glauben.“

12

Werkzeug
Vor allem: Gott den Herrn, lieben
mit ganzem Herzen,
mit ganzer Seele
und mit ganzer Kraft.
Ebenso: Den Nächsten lieben wie sich selbst. RB 4,1f.

wie klopfte mir damals das Herz
bei den ersten Schritten
Einsamkeit und Gemeinschaft

„lass dich nicht sofort von Angst verwirren
fliehe nicht vom Weg des Heils
er kann am Anfang nicht anders sein als eng
folge mir nach“

Heimsuchung Gottes
Zeitenwende in seinem Zelt
Hände in Hände gelegt

welch unsagbares Glück:
hier brennt der Dornbusch

und das Herz schlägt mir noch heute


Vertrauen

„Nur für heute werde ich fest daran glauben – selbst wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten – , dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.“

13

 

GEMEINSCHAFT ausbuchstabiert (mit RB 72) 

G ott fürchten

e inander selbstlos

m it glühender Liebe

E igenwillen aufgeben

i m gegenseitigen Gehorsam

n ichts vorziehen

s o gibt es den guten Eifer

c harakterliche Schwächen mit unerschöpflicher Geduld ertragen

H ilfe des Herrn erbitten

a uf die Weisung des Meisters hören

F ührung des Evangeliums

t äglich durch die Tat erfüllen

ecce quam bonum
Wurzel und Stamm
Grundstock für Generationen
im Vertrauen auf Gott
wachsen neue Triebe
getragen und gestützt
habitare in unum

Werkzeug
Seine Hoffnung Gott anvertrauen. RB 4,41

 

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB

 

Der große Bogen des Anfang(en)s in der Heiligen Schrift und in der Benediktsregel

Im ersten Kapitel des ersten Buches der Heiligen Schrift und im letzten Kapitel des letzten Buches der Heiligen Schrift ist vom „Anfang“ die Rede: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so sagt uns das Buch Genesis (Gen 1,1). Und am Schluss, in der Offenbarung des Johannes, spricht Gott selbst direkt zu uns: „Siehe, ich komme bald. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Apk 22, 13). In einem großen, geradezu kosmischen Bogen ist hier die ganze Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Vollendung in diesem einen Wort vom „Anfang“ zusammengefasst – ein grandioses Szenarium eröffnet sich uns da, und unserer bescheidener Anfang miteinander hier und heute wird auf einmal unendlich groß, ist eingebettet in Gottes Ewigkeit.

Unseren Anfang setzen wir uns nicht selbst – wir wurden angefangen sozusagen, hineingeboren in eine Welt, die schon war. Gott selbst hat uns ins Dasein gerufen, hat uns unseren Anfang geschenkt – aus reiner Gnade und aus reiner Liebe. Und dieser Anfang ist kein einmaliges Geschehen – das ist das Großartige an ihm. Es ist ein Prozess, ein ewiges und immer neues Wachsen und Reifen von Anfang zu Anfang.

Der jüdische Schriftsteller Felix Braun hat dies in einem wunderbaren Gedicht mit dem Titel „Ewigkeit“ einst so beschrieben:

„Uralt bin ich – vom Anfang komm ich her –
Nun müd von tausendfältiger Gestalt.
Mein Los ist: jedes Blatt zu sein im Wald.
Mein Los ist: jede Welle sein im Meer.

Ich leb von von Anfang zu Anfang,
von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Nehm stets in anderm Atem Aufenthalt.
So leb ich schwebend: weder hier noch dort.

Und schaudre, dass ich mich so oft verlor
Und immer wieder fand: in diesem Wort.
Von Anfang zu Anfang bis in Ewigkeit.“

Hören Sie die Anklänge an die Doxologie heraus, die wir und die ganze Kirche seit ihren Anfängen Tag für Tag so oft und immer wieder beten: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist – wie es war im Anfang so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.“ Kein geringerer als der dreifaltige Gott selbst ist unser Anfang und unser Ziel, unsere Sehnsucht und unsere Erfüllung, unsere Zeit und unsere Ewigkeit. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, im Anfang auch, so heißt es im Prolog zum Johannesevangelium „Im Anfang war das Wort“, das Leben spendende Wort, das menschgewordene Wort Jesus Christus. Und auch der Heilige Geist, so berichtet uns die Apostelgeschichte im Kap. 11,15 „kam von Anfang an auf uns herab“, so wie einst im Anfang Gottes Geist über den Wassern schwebte (Gen 1,2).

Schauen wir auf den lateinischen Bibeltext, so fällt auf, dass es zwei Begriffe für „Anfang“ gibt: „initium“ und „principium“. Initium ist dabei immer der einmalig gesetzte Anfang – principium aber der Anfang, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Schöpfungs- und Erlösungsgeschichte hindurchzieht, der immer wieder neu zum Aufbruch einlädt, der Gottes Anfang sozusagen zum Seinsprinzip werden lässt: „sicut erat in principio et nunc et semper, et in saecula saeculorum“.

Ebenso wie die Heiligen Schrift so ist auch die Regel des hl. Benedikt vom „Anfangen“ gleichsam umfangen. Im ersten und im letzten Kapitel der Regel ist vom Anfang die Rede. Im Prolog, Vers 4 heißt es: „Sooft du etwas Gutes zu tun beginnst [d.h. anfängst], bitte zuerst inständig darum, dass er [Gott] es vollende“. Hier ist er wieder, der Gedanke, dass wir es aus eigener Kraft eben nicht vermögen, dass allein die Gnade Gottes uns zum Anfangen bewegt und dass nur Er allein es ist, der unser Tun vollenden kann. Wir sind und bleiben auf Gottes vorausgehende Liebe und auf seine Hilfe angewiesen. Die Spannung zwischen der Freiheit des Menschen und seinem Angewiesensein auf die Barmherzigkeit Gottes bleibt immer bestehen.

Ihren ganz und gar authentischen Ausdruck findet diese Spannung in dem Ruf: „O Gott, komm mir zu Hilfe – Herr, eile mir zu helfen. Deus, in adiutorium meum intende; Domine, ad adiuvandum me festina“. Siebenmal am Tag beten wir diesen Flehruf am Anfang jeder Hore. Sie prägt sozusagen den Anfang unseres Betens. Nicht umsonst haben die Mönchs- und Wüstenväter ihren Schülern und damit auch uns diesen Ruf als immerwährendes Gebet empfohlen. Es ist ein Gebetsruf voller Kraft und voller Weisheit, ein Ausdruck wahrer Demut vor der Größe Gottes, ein Wissen um die eigene Begrenztheit, ein vertrauensvolles Sich-Hineinbegeben in die Hände Gottes.

Im letzten, dem 73. Kapitel der Regel sagt der hl. Benedikt: „Diese bescheidene Regel haben wir für Anfänger geschrieben“ (RB 73,8), damit wir durch ihre Beobachtung „einen Anfang im klösterlichen Leben bekunden“ (RB 73,1). Zweimal ist hier am Schluss noch einmal vom Anfangen die Rede, fast so, als solle sich ein geheimnisvoller Kreislauf vollenden. Diesen geheimnisvollen Kreislauf hat Silja Walter einmal in einem kurzen Gedicht ganz wunderbar beschrieben:

ANFANG

Habe ich also die Regel
bis ans Ende gelebt,
dann bin ich ein vollendeter
Anfänger oder endlich ein
Anfänger geworden, endlich
nichts als ein aus dem
Anfang lebender Mensch.“

Im Regelkommentar der Salzburger Äbtekonferenz heißt es zu der eben genannten Stelle aus dem 73. Kapitel der Benediktsregel:

„Mit der Wendung vom Anfang im klösterlichen Leben schwächt der hl. Benedikt seine Regel nicht ab und meint nicht den Anfänger im klösterlichen Leben, sondern den Mönch, der angesichts der Weisung Christi zu Gerechtigkeit und Vollkommenheit immer und ein Leben lang einen Anfang machen muss … Benedikt steht mit dieser Formulierung vor allem in der Tradition der Wüstenväter, wo das Bewusstsein vom Anfangen zu immer neu vollzogener Umkehr führt.“ In diesem Sinne gehört das Immer-neu-anfangen in der Tat ganz eng und unmittelbar zu unserer Berufung. Es ist der Kerngedanke unseres Gelübdes der „Conversatio morum“ – des klösterlichen Lebenswandels, das uns auffordert, jeden tag neu zu beginnen.

Wir sehen also, dass der Gedanke des Anfangs und des Anfangens die ganze Heilige Schrift und auch die ganze Benediktsregel durchzieht. Anfangen wird so zum Leitfaden für ein christliches und auch für ein benediktinisches Leben. Christliches und auch benediktinisches Leben aber ist ganz und gar österliches Leben. Ohne Ostern, ohne den Glauben an die Auferstehung, wäre unser Leben sinnlos. Nur, wenn wir österliche Menschen werden, so werden wir auch wirklich Menschen des Anfangs. Denn Ostern, so sagt Karl Rahner, „Ostern ist der Anfang der Vollendung. Ostern proklamiert einen Anfang, der schon über die fernste Zukunft entschieden hat. Auferstehung sagt: der Anfang der Herrlichkeit hat schon begonnen. Und was so begonnen hat, das ist daran, sich zu vollenden …“

Sie waren auch nur Anfänger: Menschen der Bibel als Leitbilder des Anfangs

Betrachten wir nun in einem zweiten Schritt sieben biblische Gestalten des Anfangs. In den Menschen, die im Alten Testament Jahwe und im Neuen Testament Jesus begegnen, bricht etwas auf. Die Begegnung mit dem lebendigen Gott fordert sie heraus, öffnet sie für ein neues Leben, ja macht sie zu neuen Menschen. Der Anfang, den die Begegnung mit Gott und mit Jesus Christus, seinem Sohn, in Menschen bewirkt, ist immer zugleich Scheidung und Entscheidung. Eine ganze Spannweite von Reaktionen – von der Hingabe und Nachfolge bis zum Zweifel und zur völligen Ablehnung – findet sich in der Heiligen Schrift. Es gibt viele Möglichkeiten anzufangen – oder auch, den Anfang zu verpassen. In der ein oder anderen Gestalt des Anfängers können wir uns selbst, unsere Eigenart und Eigen-heiten vielleicht wiederfinden. Vielleicht können wir von diesen Menschen, die vor uns anfingen, auch lernen, können uns Mut zusprechen lassen, den Aufbruch immer neu zu wagen.

Abraham – „Sein Glaube wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet“ (Röm 4,9)

Zu den ganz großen Gestalten des Anfangs gehört Abraham. „Zieh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen. Du sollst ein Segen sein… Da zog Abraham fort, wie ihm Jahwe befohlen hatte. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Haran wegzog. Abraham nahm seine Frau Sarai, seinen Neffen Lot und all ihre Habe, die sie besaßen. Dann brachen sie auf, um in das Land Kanaan zu ziehen (Gen 12,1-4).

Ein eindeutiger und unkomplizierter Anfang: dem Ruf Gottes folgt die Tat, ohne Zögern und Zaudern. Solches Hören und Gehorchen hatte der hl. Benedikt wohl vor Augen, als er sein Kapitel über den Gehorsam niederschrieb: „Die höchste Stufe der Demut ist der Gehorsam ohne Zögern … Wie in einem einzigen Augenblick folgt in der Schnelligkeit der Gottesfurcht beides sofort aufeinander: der ergangene Befehl des Meisters und die ausgeführte Tat des Jüngers.“ (RB 5,1 und 9).

Abraham glaubte dem Anruf Gottes und glaubte der Verheißung, die an ihn erging. Und er machte sich auf den Weg – obwohl er bereits 75 Jahre alt war. Wer weiß: vielleicht hat er wie später nach ihm der greise Simeon oder die alte Witwe Hanna sein Leben lang auf diesen Anruf gewartet. Und heute und jetzt ist er bereit, sich auf den Weg zu machen und alle Sicherungen des Lebens hinter sich zu lassen. Zum Anfangen gehört das Loslassen, das Hinter-sich-lassen. Wer einmal die Hand an den Pflug gelegt hat, soll nicht zurückschauen – oder wie es beim hl. Benedikt in Kap. 58,24 heißt: „Der Novize soll nichts für sich zurückbehalten – nihil sibi reservans ex omnibus“.

Jeremia – „Ach Herr, ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“ (Jer 1,6)

Der Anfang des Propheten Jeremia könnte fast eine Art Gegenbild zu dem des Abraham sein. Jahwes Wort und Ruf erging an Jeremia – und dieser hat Angst: „Ach, Herr, ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“. Er traut es sich nicht zu, er zögert und er verhandelt mit Jahwe, seinem Gott. Zweimal muss Jahwe ihm sagen: „Hab keine Angst, fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir.“ (Jer 1,8; 1,17). Erst danach begreift Jeremia, was an ihm geschehen ist und lässt sich in Dienst nehmen. Ein Prophet wider willen, könnte man sagen – ein Anfänger, dem zuerst einmal das Wörtchen „Aber“ über die Lippen kommt, weil er ob seines jugendlichen Alters unsicher, vielleicht auch schüchtern ist und wenig Selbstbewusstsein hat. Vielen von uns mag Jeremia mit seinen Zweifeln zunächst näher liegen als Abraham, der so unzweideutig und souverän den neuen Anfang gewagt hat.

Für den hl. Benedikt spielte das Alter für die Berufung zum Neuanfang – wie wir wissen – ebenso wenig eine Rolle wie einst für Jahwe. „Nirgendwo im Kloster darf das natürliche Alter die Rangordnung bestimmen oder beeinflussen. Haben doch Samuel und Daniel, obgleich sie noch jung waren, über Alte Gericht gehalten.“ (RB 63,5.6) Und im Abtskapitel 64,2 heißt es: “Man soll aber den wählen und einsetzen, der verdienstvolles Leben und Lehrweisheit verbindet, wenn er auch in der Rangordnung der Klostergemeinde der Letzte wäre.“ Nicht das Alter ist entscheidend, sondern der Ruf des Herrn, der jedem Anfang vorausgeht. Wen Gott ruft, dem gibt er auch die Kraft zum Anfangen – gegen alle Angst und gegen alle inneren Widerstände.

Der reiche Jüngling – „Und er ging traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen“ (Mk 10,22)

Gott gibt die Kraft zum Anfangen, aber er übt keinen Zwang aus. Unsere menschliche Freiheit reicht so weit, dass wir auch Nein sagen und den Anfang verweigern können. Dafür ist der reiche Jüngling ein sprechendes Beispiel. Was Jesus vom reichen Jüngling erwartet, ist nicht nur viel, sondern alles: “Geh, verkaufe alles, was du hast … dann komm und folge mir nach“. „Er hatte ein großes Vermögen“, heißt es dann. Und dieses Vermögen war sicher nicht nur Geld. Besitzen können wir ja unendlich vieles: Einfluss, Ansehen, Macht, bestimmte Fähigkeiten, Beziehungen, eine soziale Stellung. Dies alles aufzugeben und neu anzufangen ist unendlich schwer. Auch dann, wenn wir wirklich auf der Suche sind. Der reiche Jüngling war ein Suchender, der im Grunde genommen kurz vor dem Durchbruch stand. Das hat Jesus ganz sicher gewusst. Denn nicht umsonst heißt es ja: „Da sah Jesus ihn an, und weil er ihn liebte, sagte er: eines fehlt dir noch…“ Echte Liebe fordert Ganzhingabe. Sie kann sich nicht mit Halbheiten zufrieden geben. Der reiche Jüngling geht traurig weg. Er will neu werden, kann aber vom Alten nicht lassen. So verpasst er den Kairos, den Anfang eines neuen Lebens. Fragen wir uns einmal, was wohl das eine ist, das uns noch fehlt. Wenn wir wirklich anfangen wollen, dann müssen wir dieses Eine heraus-finden und uns Stück für Stück von ihm zu lösen versuchen.

Im 33. Kapitel der Benediktusregel ist ebenfalls vom Loslassen von Eigentum die Rede – und auch hier ist keineswegs nur der materielle Besitz gemeint. Hier in diesem Kapitel wird der hl. Benedikt im wahrsten Sinne des Wortes radikal: „hoc vitium radicitus amputandum est“. Er nennt den Eigenbesitz ein Laster, das radikal, d.h. mit der Wurzel ausgerissen werden muss. Erst dann werden wir frei – frei für Gott und frei für die Gemeinschaft: „Alles sei allen gemeinsam, so dass niemand etwas sein Eigentum nennt oder es als solches beansprucht“. (RB 33,6). Und vom Novizen wird vor der Profess verlangt:“ Wenn er Vermögen hat, soll er es vorher an die Armen verteilen oder es in einer feierlichen Schenkung dem Kloster vermachen.“(RB 58,24)

Petrus – „Er bekam Angst und begann unterzugehen“ (Mt 14,30)

Petrus ist in vieler Hinsicht eine typische Anfangs-Gestalt. Schon bei seiner Berufung am See von Galiläa hat er gezeigt, dass er ein Mann der schnellen Entschlüsse war. Jesus ruft sie, und Petrus und sein Bruder Andreas lassen buchstäblich alles stehen und liegen und folgen dem Herrn. Menschen, die spontan Ja sagen und sich bereitwillig engagieren, sind herzerfrischend. Manche mögen sich fragen: ist solch ein Anfang überhaupt verantwortbar? Doch täuschen wir uns nicht: nicht jeder schnelle Entschluss und spontane Anfang wird später bereut – dafür gibt es in unserer Gemeinschaft durchaus eindrucksvolle Beispiele.

Auch Petrus hat seinen Anfang in Galiläa nie bereut. Aber er hat im Laufe seines Weges der Nachfolge den ein oder anderen „Dämpfer“ erhalten. So bei seinem nächtlichen Gang über den See. Voller Begeisterung stieg er da aus dem Boot und wollte seinem Herrn und Meister auf dem Wasser entgegengehen. „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen“. Übermut und Leichtsinn hatten ihn gepackt, er hatte sich zuviel zugetraut. Dem Sturm, womöglich dem Gegenwind, war er nicht mehr gewachsen. Und dann kam die Angst, und die Hochgemutheit des Anfangs war wie weggeblasen. Warum habe ich das alles nur angefangen, mag er sich gefragt haben. Wer einen Anfang macht, muss auch den Mut haben, Schluss zu machen, wenn er erkennt, dass er sich geirrt oder verrannt hat. Petrus hatte diesen Mut und war auch nicht zu stolz, seinen Herrn um Hilfe anzuflehen. „Jesus streckte sofort die Hand aus und ergriff ihn“ – ist das nicht ein wunderbar tröstlicher Gedanke? Gott rettet uns, wenn wir uns verrannt haben – wir müssen ihn nur darum bitten.

In der Vita des hl. Benedikt (Kap. 7) gibt es die bekannte Geschichte von Maurus, der auf Geheiß seines Meisters Benedikt über das Wasser geht und den kleinen Placidus vor dem Ertrinken rettet. Diese Geschichte ist der Matthäus-Perikope vom Gang des Petrus über den See nachempfunden. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie entdecken, dass es zwischen beiden Erzählungen einen kleinen, aber sehr bedeutsamen Unterschied gibt. Während Petrus vom Herrn selbst gerettet wird, schickt der hl. Benedikt seinen Schüler Maurus. Dieser, so heißt es „erbat und empfing den Segen und lief auf Befehl seines Abtes“, um den kleinen Placidus zu retten. Hier kommt – wie wir sehen – der Gedanke der Stellvertretung in den Blick. Der Segen des Abtes Benedikt bewirkt das Wunder – nicht das eigene Vermögen des Maurus. Wir können also auch einander wunderbare Start-Helfer sein und zum Retter werden, wenn der Anfang auch einmal misslingt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir an die Vollmacht Gottes glauben und uns von ihm wie ein Werkzeug in Dienst nehmen lassen.

Der jüngere Sohn des barmherzigen Vaters – „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen“ (Lk 15,18)

Ein unübertrefflicher Neuanfang ist in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn bzw. vom barmherzigen Vater beschrieben. Aus jugendlichem Freiheitsdrang heraus hat der Sohn die als zu eng empfundene Heimat verlassen. Er ist ausgebrochen aus alten Konventionen und und scheinbar fesselnden Bindungen. In der Fremde will er ganz von vorne anfangen. Doch er kann keine neuen Wurzeln schlagen, sondern bleibt ein Fremder in einem fernen Land. „Es ging ihm sehr schlecht“, schreibt der Evangelist nüchtern und schonungslos. Diese neue und unerwartete Erfahrung bringt ihn dazu, sich zu erinnern und an das zu denken, was er leichtfertig verlassen hat. Aus dem wehmütigen Blick zurück entstehen in einem zweiten Schritt Einsicht und Reue. Da ging er in sich, wörtlich: da kehrte er zu sich selbst zurück. Dann die Entscheidung: “Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen“. Der Aufbruch des Sohnes ist Rückkehr und Heimkehr. Zu einem echten Neuanfang aber kommt es erst durch die Aufnahme und Annahme des Vaters:“ Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20). Einen wirklich neuen Anfang, der neues Leben verheißt und Vergebung können wir uns nicht selbst geben. Der Mensch kann umkehren, er kann aufbrechen und neu anfangen. Ob er aber ankommt und angenommen wird, das steht nicht in seiner Macht. Ein solcher Anfang kann ihm nur vom liebenden und barmherzigen Vater geschenkt werden.

Die Benediktusregel sieht im Abt u.a. auch ein Abbild dieses barmherzigen Vaters. Im 27. Kapitel (für mich eines der schönsten der ganzen Regel) ist beschrieben, wie der Abt mit einem sich verfehlenden Bruder umgehen soll. „Er hatte solches Mitleid mit dessen Schwäche, dass er ihn huldvoll auf seine heiligen Schultern nahm und so zur Herde zurücktrug“ (RB 27,9) Der barmherzige Vater, der zugleich der gute Hirte ist, gewährt dem Sünder immer wieder die Möglichkeit zur Umkehr und zum Neuanfang. Einsicht und Reue werden dabei als selbstverständlich vorausgesetzt. Denn nur so können auch Buße und Strafe als heilsam verstanden werden. Denn letztlich geht es immer um das Heil des Menschen. Deshalb lauten auch die letzten Worte der sogenannten Strafkapitel 23-30: „Ut sanentur – damit sie geheilt werden“.

Maria – „Mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38)

Als letzte möchte ich Ihnen die Gottesmutter Maria als Leitgestalt des Anfangs vor Augen stellen. In dem Wort „Mir geschehe“ sind Marias Anfang und ihr weiterer Lebensweg als Erfüllung dieses Anfangs eingeschlossen. Gott ist es, der den Anfang macht, der Maria erwählt und für würdig erfunden hat, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Maria wird von Gott direkt angesprochen und ganz – mit Leib und Seele – eingefordert. Die Verheißung des Engels aber bedarf des „Fiat“, der Zustimmung, des Vertrauens und der Annahme dieses neuen Anfangs. Maria hat die Größe und die Demut zugleich, sich dem Unglaublichen zu öffnen und ihre menschliche Freiheit in den Dienst des göttlichen Heilsplanes zu stellen. So wird Gott in ihr Mensch – und sie selbst wird damit die neue Eva, der erste neue Mensch. Darin liegt ihre einzigartige Würde. Darin liegt aber auch die Zusage, dass jedes von einem Menschen, d.h. auch von uns, gesprochene „Fiat“ einen neuen und ewigen Anfang eröffnet, der uns die Erfüllung all unserer Sehnsucht verheißt.

Die Gottesmutter kann uns ein wirkliches Vorbild sein. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, den neuen Anfang immer dann zu entdecken, wenn es uns gelingt, die eigene Lebensplanung los zu lassen und einzuwilligen in den Lebensplan Gottes mit uns. Dies ist eine lebenslange Aufgabe. Es ist der immer neue Anfang, den es immer wieder neu gilt, in die kleine Münze des Alltags umzusetzen.

Haben Sie sich wiedererkannt in einem dieser Anfänger, vielleicht sogar in mehreren? Die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen der Bibel und uns heutigen Menschen sind manchmal frappierend. Wahrscheinlich war das zu allen Zeiten so, denn die Bibel will ja im jeweiligen Heute gelesen und verstanden werden. Sie hält uns den Spiegel Gottes vor, der uns weiter kommen lässt auf unserem Weg der Menschwerdung.

3) Das Bleiben als Brücke zwischen Anfang und Ziel

Kehren wir nun noch einmal zu unseren grundsätzlichen Überlegungen am Anfang. zurück. „Ostern“, so hörten wir aus dem Mund Karl Rahners, „Ostern ist der Anfang der Vollendung“. Ein guter Anfang ist wichtig. Aber es gilt eben auch: Kein Anfang ohne Ende, kein Aufbruch ohne Vollendung. Seinen Sinn erhält der Anfang durch das Ziel, der Heimkehr zu Gott. Unser ganzes Leben und Streben, so sagt uns der hl. Benedikt, ist dieser Weg der Heimkehr zum Vater.

Der hl. Benedikt weist auch auf die Grundhaltungen hin, die notwendig sind, um vom guten Anfang zum Ziel zu gelangen. Allen voran nennt er das Bleiben, die Treue, das Standhalten, die Beständigkeit. Der Weg, so sagt er ganz nüchtern, „kann am Anfang nicht anders als eng sein“ (Prolog 48). Beliebiges Aufhören, immer wieder nach Neuem Ausschau-Halten verhindert den Durchbruch zum Ziel. So ist für Benedikt das Bleiben der Garant des Anfangens. Urbild des Bleibens ist dabei die Treue Gottes zu seiner Schöpfung, zu seinem auserwählten Volk: “Jahwe, dein Gott, ist der Gott; er ist der treue Gott; noch nach tausend Generationen achtet er auf den Bund und erweist denen seine Huld, die ihn lieben und auf seine Gebote achten (Dtn 7,8-9). Und Paulus bekräftigt im zweiten Timotheusbrief: “Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2 Tim 2,13).

Die Heilige Schrift ist voll von Geschichten über Menschen, die treu geblieben sind und ausgeharrt haben. An ihnen wird deutlich, was das Bleiben als Brücke zwischen dem Anfangen und dem Ziel bedeutet. Im Alten Testament etwa die Gestalt der Rut, die ihrer Schwiegermutter zusagt: „Wohin du gehst, dahin gehe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ (Rut 1,16). Im Neuen Testament dann der große Bleibende, der hl. Joseph, der treu blieb, auch als er nicht verstand. Dann natürlich Maria, die geblieben ist und zusammen mit den anderen Frauen ihrem Sohn folgte bis unter das Kreuz. Sie alle können uns Vorbild und Ansporn sein auf dem Weg vom Anfang zum Ziel. Dem Bleibenden gilt am Ende Jesu Verheißung: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Joh 15,4-9).

Es gibt einen schönen Text von Dom Helder Camâra, der das Beginnen und das Bleiben wunderbar zusammenfasst:

„Es ist eine göttliche Gnade,
gut zu beginnen.
Es ist eine größere Gnade
auf dem Weg zu bleiben
und den Rhythmus nicht zu verlieren.
Aber die Gnade aller Gnaden ist es
sich nicht zu beugen und,
ob zerbrochen und erschöpft,
vorwärts zu gehen bis zum Ziel.“

Anfang und Ende stehen nicht in unserer Macht, sie sind Gnadengeschenk dessen, der allein Anfang und Ende, Alpha und Omega ist und der in uns vollendet, was er selbst begonnen hat. In diesem Sinne wollen wir uns gemeinsam auf den Weg machen und zu Menschen werden, die täglich neu anfangen.

Sr. Philippa Rath OSB

Die Aufforderung zum Hören ist das Signalwort der Regula Benedicti (RB). Es eröffnet und strukturiert den gesamten Regelprolog und bringt programmatisch zum Ausdruck, wie der Mönch die Heilige Schrift lesen und lernen soll: als lauschender Hörer des Wortes, der das Ohr seines Herzens neigt (obsculta et inclina aurem cordis tui, RB Prol. 1). Überblickt man die Struktur des Regelprologs, so gruppieren sich um dessen Sinnmitte zwei Psalmenerklärungen: der Weg zum Leben (Psalm 34) und der Weg zum Wohnen im Zelt (Psalm 15).

Im Prolog der Regel steht Psalm 34 an exponierter Stelle und gibt dem eigentlichen Berufungsdialog (RB Prol. 9-18), der ganz und gar vom Hören geprägt ist, allein in diesem Abschnitt wird siebenmal das Wort audire/hören genannt, seine besondere Gestalt. Der Ordensvater Benedikt will ein flüchtiges Lesen verhindern und stellt darum an den Anfang seines Psalmenkommentars ein klangmalerisches Signal. Er mahnt dazu, mit „angedonnerten Ohren“ (adtonitis auribus, RB Prol. 9) auf die laut rufende Stimme Gottes zu hören und fügt subito piano nachforschend hinzu: „Und was sagt er?“. Die Frage „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ (34, 13), wird in der Benediktusregel zu einer persönlichen Motivationsfrage, die vitale Bedürfnisse anspricht, die tieferen Beweggründe hinterfragt und herausfordernd ergänzt: „Wenn du wirkliches und ewiges Leben haben willst, dann …“ (RB Prol. 17). Der Mensch wird hier als homo viator vorgestellt, dem Psalm 34 als Kompass auf dem Lebensweg dient: „Ecce pietate sua demonstrat nobis dominus viam vitae“ (RB Prol. 20). Vor jeder menschlichen Initiative steht die Erfahrung, dass Gott es ist, der zuerst gesucht, angesprochen und herausgerufen hat. Zwischen Berufung und Zumutung liegt nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Lust und die Last der Freiheit, sich dieser unausweichlichen Grundentscheidung zu stellen, und sie persönlich zu beantworten.

Beachtenswert ist besonders der letzte Vers des Psalmenkommentars der Benediktusregel, der sinngemäß der Nukleus des Prologs ist: „Gürten wir uns [a] also mit Glauben und Treue [b] im Guten [c], und gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege [d], damit wir gewürdigt werden [c‘], ihn, der uns in sein Reich gerufen hat [b‘], zu schauen [a‘]“ (RB Prol. 21). Dieser kunstvoll gestaltete Vers, den man als kleinen Chiasmus darstellen kann, fasst Psalm 34 prägnant zusammen: Am Anfang steht der Aufbruch, das sich Gürten (34, 5). Am Ende das Ziel, das Sehen (34, 9). Der Glaube kommt aus dem Hören, dem Ruf und der Berufung (34, 3.12) und konkretisiert sich in der Übung guter Werke (34, 14f). Im Zentrum steht der homo viator, der der Führung und Schulung bedarf. Die Ausgangsfrage (34, 13) wird im Regelprolog mit dem Hinweis beantwortet, sich der Unterweisung der gesamten heiligen Schrift, die hier personifiziert wird, anzuvertrauen. Der Weg des Gehorsams, der Demut, der Gottesfurcht, des Lobpreisens, des Schweigens, des Leidens und der Liebe erweist sich als Weg konkreter Nachfolge. Im Kontext der Benediktusregel ist Christus selbst der Lehrer, der hier ruft und mahnt, und der sich unter der Chiffre des Weges an die Seite des Armen und Suchenden stellt. Vers 21 des Prologs veranschaulicht in nur einem Satz die zeitliche und existenzielle Erstreckung dieser lebenslangen Pilgerschaft: Vergangenheit: vocavit (er hat uns gerufen), Gegenwart: pergamus (lasst uns gehen), Zukunft: ut mereamur videre (damit wir gewürdigt werden, zu sehen).

Der kleine Psalmenkommentar der Benediktusregel zu Psalm 34 skizziert die Voraussetzungen, um das in Aussicht gestellte Ziel auch erreichen zu können. Er appelliert und ermutigt aber zugleich, möglichen Widerwertigkeiten zum Trotz, in dieser Schule (dominici scola servitii, RB Prol. 45) auszuharren und auf dem Weg der Gebote Gottes (viam salutis, RB Prol. 48) mutig voranzuschreiten; wissend, dass sich dadurch zwar nicht die Wegstrecke, wohl aber das Herz weitet. Die dialogische Dimension (Frage-Antwort, Anruf-Aufnahme) verdeutlicht zudem, dass ein persönliches Bekenntnis ein Ich und ein Du voraussetzt, das sich in einem Wir, in einer Gemeinschaft, erschliesst. Psalm 34 erschöpft sich nicht in Belehrungen und Entscheidungshilfen; die Weisung des Psalms ermöglicht ein Hineinleben in eine gesättigte Lebenserfahrung und Lebensform. Die persönliche Antwort vollzieht sich als ein Einstimmen, ein Aufnehmen und Aufgenommenwerden in die Entscheidung, die bereits als Gabe vorgegeben ist. In der Mitte des Psalms und im Zentrum des Regelprologs wird deutlich, dass dies ein immerwährender Lernprozess ist. Und mehr noch: Das Mitlernen und Mitfragen mit dem suchenden Menschen übersteigt jeden bloß organisatorischen Rahmen. Aus Paränese (I) und Theorie (II) will ein achtsamer, gereifter und lebendiger (Mit-)Vollzug werden.

Hüte deine Zunge!

Der Psalm dreht sich buchstäblich um den Spruch: Hüte deine Zunge! (Nezor LeSchoncha). Zum Lohn dafür verspricht David langes Leben und gute Tage. An diese erstaunliche Unverhältnismäßigkeit von Tun oder vielmehr Unterlassen und Ergehen hat einer der Tora-Riesen unserer Zeit, Rabbi Israel Meir HaKohen Kagan (1883-1933) aus Radin in Polen, mit einem umfassenden Regelwerk angeknüpft, das er nach Psalm 34, 13 unter dem Titel Sefer Chofez Chajim, Buch des Lebenbegehrenden veröffentlichte. Da Tora-Meister gewöhnlich nach ihrem Hauptwerk genannt werden, ruft man den Verfasser eines der bedeutendsten zeitgenössischen rabbinischen Kodizes (Mischna Brurah) allgemein Chofetz Chajim, Lebenbegehrender. Die Regel des heiligen Benedikt zählt 73 Kapitel, das 6. Kapitel befasst sich mit der Schweigsamkeit (De taciturnitate). Der Chofez Chajim widmet allein diesem Punkt 19 Prinzipien (Klalim) und 180 Regeln. In seinem Buch vom Zungenhüten (Sefer Schmirat HaLaschon) begründet er jene Disproportion von Imperativ und Sanktion mit drei moraltheologischen Überlegungen. Erstens ist die scheinbar lässliche Sünde der bösen Zunge (Laschon HaRa) ein folgenschwerer Anfangsfehler, der mehr als jede andere Sünde einen Rattenschwanz von weiteren Sünden nach sich zieht. Wer umgekehrt seine Zunge im Zaum hält, wird sich daran gewöhnen, nicht nur den Ruf, sondern auch das Eigentum und das Leben des Nächsten zu respektieren, so dass er sich mit der Zeit überhaupt keine Pflichtverletzungen mehr gegen ihn zuschulden kommen lassen wird (Tor der Erinnerung 1). Die Gesetze gegen üble Nachrede, Verleumdung, Beleidigung, Verhetzung, Anzeigen, Anklagen und dgl. erfüllen also auch einen wichtigen erzieherischen Zweck: sie lehren die Unantastbarkeit des Anderen. Der zweite Grund dafür, dass die Zunge das Organ der schlimmsten Sünde wie der größten Tugend sein kann, schöpft der Chofez Chajim aus der Lehre der Elemente. Betrachtet man nämlich die vier Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer), dann erkennt man sofort, wie sehr die spirituellen Elemente die materiellen überwiegen, so dass die Letzteren geradezu als quantité negligeable erscheinen. Naturgemäß überwiegen deshalb auch Gebote und Strafen, die mit Wort und Geist zu tun haben, bei weitem sämtliche Gebote und Strafen, die mit dem Körper verbunden sind (ebd.). Der dritte Grund rührt aus den schweren Folgen, die auch gerechte Urteile haben können. Um es kurz und, anders als der Chofez Chajim, ohne kabbalistische Umschweife zu sagen: Urteile vergiften auch dann, wenn sie zu Recht fallen die Atmosphäre. Sie fallen keineswegs nur auf ihre Urheber zurück, sie setzen vielmehr Strafverfolgungen in Gang, die letztendlich allen Schaden zufügen und ein Gemeinwesen zerstören können. Es ist eigenartig, diesen strengen Rabbiner dem Übersehen der Fehler und Sünden, der Versöhnung und dem Frieden das Wort reden zu hören (Tor der Erinnerung 2). Aber gerade damit wird er unserem Psalm gerecht: „Suche den Frieden und jage ihm nach!“

Martyrium

Während Psalm 34 im Officium per annum eher selten vorkommt, einzig Vers 9 als wohl ältester Kommuniongesang, wird er in der Liturgie für die Gedenktage der Märtyrer auffallend häufig vertont. Zum Introitus (Eingangsgesang) und als Graduale (Antwortgesang auf die erste Schriftlesung) deuten ausgewählte Verse und zentrale Begriffe den Zusammenhang von Bekenntnis und Verfolgung: beständiger Lobpreis (2), Gottesfurcht (10), Gottsuche (11), Errettung aus Ängsten (18), Leiden des Gerechten (20), Schutz (21).

Die Taufspiritualität der Alten Kirche greift diese Dynamik auf und deutet Psalm 34 in vielen Taufkatechesen für Taufbewerber und Neugetaufte als Lehrstück für ein entschiedenes Christsein. Die beständige Gottsuche (V. 5.11), die auch im benediktinischen Mönchtum fortwährendes Kriterium für die Echtheit einer Berufung bleibt (vgl. RB 58,7), wird Lernziel und Lerninhalt der Unterweisung. Der Aufruf zur Umkehr, zu der jeder Getaufte seiner Taufwürde entsprechend bleibend aufgefordert ist, verwirklicht sich in dem persönlichen Bekenntnis der Glaubenszusage und in der entschiedenen Passion für Gott: Leidenschaft und Leidensbereitschaft gehen Hand in Hand. Die mystagogischen Katechesen sehen daher eine Analogie zwischen Taufe, Mönchsprofess und Martyrium. Tauf- und Professriten tragen zunehmend einen personalen Sendungscharakter. So beginnt der Professdialog mit dem zentralen Vers 12 „Venite filii audite me timorem Domini docebo vos“, worauf der Profitent seine brennende Taufkerze zur Hand nimmt und mit einem Vers aus dem Buch Daniel antwortet: „Nun folge ich dir aus ganzem Herzen. Ich fürchte dich und suche dein Antlitz zu schauen. Herr, verlass mich nicht, sondern handle an mir nach deiner Güte und nach deinem großen Erbarmen“ (Dan 3,41f.). Der Wandel vom blutigen Martyrium der ersten Jahrhunderte zum sogenannten „weißen Martyrium“ des Mönchtums, führt damit zu einer neuen Lesart der Taufmotivation und auch der Psalmen. Der Lebensweg der entschlossenen Hingabe erschließt sich nun als beständige Ausrichtung des Lebens coram Deo: in lobpreisender Nachfolge und in einer konkreten Gemeinschaft (vgl. Ps 34, 1-11). So wird das Zeugnis (Griechisch: martyrion) auf Dauer gestellt, und die Gottsuche zur lebenslangen Aufgabe.

Psalm 34 prägt als Leitmotiv die Gesänge der Märtyrerfeste und verbindet Nachfolge und Hingabe des Einzelnen mit der Indienstnahme für alle. Wer ein glückliches Leben sucht (13), wird dies in der Gottesfurcht finden. Nicht fern aller Bedrängnis, sondern durch sie hindurch (20) ist die Güte des Herrn mit allen Sinnen zu erfahren (kostet, seht, 9). Die Gottesfurcht hat nichts mit krankhafter Ängstlichkeit zu tun. Sie kennzeichnet vielmehr das Leben in Gottes Gegenwart als beständige Suche und Hinwendung des Herzens. Da die Herzensbildung grundlegend für ein geistliches Leben ist, erscheint sie in der Benediktusregel als erste Stufe der zwölfstufigen Demutsleiter: „Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich, Gott je zu vergessen.“ (RB 7,10). Wer nicht schon auf der ersten Sprosse ins Straucheln geraten will, darf diese nicht voreilig und allzu zielstrebig überspringen wollen. Als indica, als Wegweiser und Zeichen, markiert die Gottesfurcht den Anfang und die Fortdauer jedweder Unterweisung, die zum Leben führt (Ps 34, 12).

Schabbat

Das Gebet des Vorbeters David in der Höhle ist zum festen Bestandteil der Gebete der Synagoge und der Kirche geworden. In der Synagoge gehört er zu den Psalmen des Morgengottesdienstes am Schabbat (Psuke DeSimra). Dort figuriert er in den meisten Gebetsordnungen an zweiter Stelle nach Psalm 19. Man kann sich fragen, was der Psalm 34 mit dem Schabbat zu tun hat. Anders als in Psalm 92 fällt das Wort Schabbat nicht und auch das Schöpfungslob des Ps 19 fehlt. Andererseits deutet vielleicht der obstinate Siebener-Rhythmus, der die drei Teile des Psalms durchzieht auf den Schabbat. Versteht man unter Schabbat nicht nur den 7. Wochentag, sondern einen Daseinszustand, eine alternative Lebensform, dann zeugt die Wahl des Psalms für die Schabbat-Liturgie von einem tieferen Verständnis. Die Veränderung (LeSchanot) des Verstandes, die die Überschrift von David berichtet, ist in einem gewissen Sinn auch am Schabbat erforderlich, eine Umstellung der profanen Denkungsart, ähnlich wie die bei frommen Juden zu beobachtenden Umschaltung der Gangart von presto auf lento, der sogennante „Schabbesgang“. Ja, das gleiche Wort, Schnui, ist ein Begriff des Schabbat-Gesetzes, der besagt, dass eine verbotene Arbeit nicht strafbar ist, wenn sie am Schabbat anders, gleichsam mit der „Rückhand“ (Kilachar Jad) ausgeführt wird. Es stimmt, der Psalm enthält keine schöpfungstheologischen Anknüpfungspunkte, wohl aber befreiungstheologische. Man darf nicht vergessen, dass der Schabbat, wenigstens nach der zweiten Version der 10 Gebote eine Fiesta de la libertad ist, die den Auszug aus dem Sklavenhaus kommemoriert und allen Hausgenossen, vom Hausherrn bis zum Vieh Frei gibt (Deut 5, 14-15). In dieser sozialrevolutionären Hinsicht entspricht das Haus der Freiheit, der Höhle Davids, sie sind Reservate des Gebets, des Lernens, der Ruhe und des Glaubens.

Lebensprogramm

In den Apophtegmata Patrum, den Vätersprüchen des frühen Wüstenmönchtums, findet sich folgende Erzählung: „Die Brüder bringen zu Abbas Abraham Pergament und bitten ihn, einen langen Text zu schreiben. Aber er schreibt nur den Vers Psalm 34, 15: ,Meide das Böse, und tu das Gute, suche den Frieden, und jage ihm nach.‘ Die Brüder sagen ihm: ,Schreibe uns doch den vollen Psalm.‘ Doch er antwortet: ,Wenn ihr euer ganzes Leben dem Programm dieses einen Verses angepasst habt, dann werde ich euch einen anderen Text schreiben“ (Coll. Arm. X, 67).
Programmatische und pointierte Worte: Wer wissen will, wie gläubiges Leben gelingen kann, der benötigt, so legt es Abbas Abraham nahe, nicht umfassende Information, sondern ein „Lehrstück“, das sich durch den Vollzug erklärt und das die Reifung des Erfahrenden ermöglicht. Teilgabe an einer lebendigen Tradition will performative Lehre sein. Denn ein Lebensprogramm, das nur gedacht, aber nicht vollzogen wird, wäre nur die halbe Wahrheit und bliebe auf halber Strecke stehen. Daher gilt: meide, tue, suche, jage nach (34, 15). Ein solch zunehmend verständiges Sich-Einüben buchstabiert Psalm 34 von A bis Z durch.

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB

Für das Kloster Montecassino baute Benedikt zwei Kirchen. So erzählt es Papst Gregor. Eine für die Mönche zu Ehren des heiligen Martin und eine zweite zu Ehren des heiligen Johannes für die Bevölkerung der Umgebung. Die Kirchen seien ihm wichtig gewesen für die Bekämpfung des Heidentums und für seine Bemühung, die Menschen „zum Glauben zu rufen“. So ist es nicht verwunderlich, dass er auch in der Regel auf das Oratorium zu sprechen kommt, im Kapitel 52. „Das Oratorium sei, was sein Name besagt, ein Haus des Gebetes. Nichts anderes werde dort getan oder aufbewahrt.“ Nun könnte man erwarten, dass Benedikt nach dieser grundsätzlichen Feststellung etwas über die Einrichtung und die Gestaltung der Kirche sagt. Stattdessen spricht er über den Bruder, der vielleicht für sich allein dort beten möchte. Ein solcher Bruder soll nicht gestört werden; dazu ermahnt er nachdrücklich. Das Gebet des Einzelnen ist ihm also sehr wichtig. Dazu ermutigt er: „Wenn ein Bruder still für sich beten will, trete er einfach ein und bete.“ Lateinisch heißt es ebenso schlicht: simpliciter intret et oret.

Der Einzelne zählt

Das lenkt unseren Blick auf das persönliche Beten. Es war damals eine fast allgemeine Überzeugung der Seelsorger, dass das persönliche Beten die Grundlage dafür sei, in rechter Weise am gemeinsamen Beten, also am Gottesdienst der Gemeinde und an der Feier der Sakramente, teilzunehmen. Es war eine Erfahrung, dass ohne dieses Tun des einzelnen die Gefahr besteht, dass das gemeinsame Sprechen und Singen zu einem ausgetrockneten Ritual wird.

Im Kapitel 58 über die Aufnahme neuer Brüder lässt Benedikt nicht prüfen, ob der Neue den richtigen Glauben hat und ob er sich am Leben seiner Heimatgemeinde und an deren Gottesdiensten eifrig beteiligt hat, sondern er sagt: „Man achte sorgfältig darauf, ob der Neue wirklich Gott sucht.“ Damit meint er, ob der oder die Neue ein Mensch ist, der betet. Wer Gott wirklich sucht, der betet. Benedikt kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob jemand bereit ist, über Gott zu sprechen, sondern ob er sich schon persönlich Gott zugewandt hat. Diese Haltung des einzelnen ist für ihn eine Voraussetzung dafür, dass der oder die Neue sich in die Gemeinschaft des Klosters einleben kann.

Weil Benedikt offensichtlich das persönliche Beten so wichtig ist, setzt er auch den Raum der Kirche dafür ein: Das Oratorium als Bauwerk soll eine Einladung zum persönlichen Beten sein.

Beten und Raum

Es lohnt sich vielleicht, etwas über den Zusammenhang zwischen Raum und Gebet nachzudenken. Überall kann jemand beten; das ist richtig. Benedikt sagt dazu: „Überall ist Gott gegenwärtig.“ Doch fügt er hinzu: „Das wollen wir ohne Zweifel ganz besonders glauben, wenn wir Gottesdienst feiern“ (Kapitel 19). Diese verdichtete Gegenwart des Herrn haftet bildlich gesprochen am Raum. So ist der Raum einer Kirche eine Erinnerung an Gott. Das gilt bei guter Architektur auch für das Bauwerk von außen betrachtet, selbst in unseren Lebensverhältnissen.

Man könnte die Anregung Benedikts, „er trete einfach ein …“, in unterschiedlicher Weise aufgreifen. Wem zum Beispiel das persönliche Beten abhandengekommen ist, kann damit beginnen, dass er an einen Ort des Gebetes geht. So etwas Körperliches bindet die Aufmerksamkeit. Man könnte von Zeit zu Zeit eine bestimmte Kirche aufsuchen, ohne dass dort ein Gottesdienst stattfindet. Wenn man sich dann hinsetzt und sein gegenwärtiges Empfinden von sich selbst wahrnimmt und dies Gott anvertraut, ist das Beten, auch wenn das alles ohne Worte geschieht.

Für die Verbindung von Beten und Raum gibt es noch weitere Gelegenheiten. Auf Reisen besichtigt zum Beispiel jemand eine Kirche. Er könnte als erstes sich hinsetzen, ruhig werden und seine Gedanken auf Gott ausrichten; denn davon spricht der Raum.

„Kulträume öffnen sich für Touristen“, liest man in einschlägigen Magazinen. Bei touristischen Kirchenführungen könnte man den, der die Erklärungen gibt, bitten: „Könnten wir bitte erst einen kurzen Moment der Stille halten?“ Dieses Zeichen der Ehrerbietung ist wie ein kurzes Gebet.

Einfach beten

Benedikt gibt wenig Hinweise zur Art und Weise des persönlichen Betens. Er steht da selbst in einer damals lebendigen Tradition. Lautes Beten und viele Worte hat er nicht gern. Es kommt ihm auf die Regungen des Herzens an. Er bete „mit wacher Aufmerksamkeit des Herzens“ (lateinisch intentio cordis, wörtlich übersetzt: Zuwendung des Herzens). Außerdem weist er auf die Demut hin. Dafür verwendet er den Ausdruck „unter Tränen“, das heißt: im Bewusstsein der eigenen Schwäche, wie der Zöllner im Evangelium.

Fünf Dinge sind für das persönliche Beten wichtig.

  1. Beten ist sich Zeit nehmen.

Man kann überall beten, aber wenn man richtig als ganzer Mensch mit Jesus in Kontakt kommen möchte, muss man innehalten und die Verpflichtungen und Tätigkeiten des Alltags abschalten.

  1. Beten ist ganz Da-sein.

Hinschauen auf das eigene Leben – mit allem, was vorkommt. Die Gedanken zur Ruhe kommen lassen. Einfach da sein.

  1. Beten ist hören.

Sich auf Jesus ausrichten, einfach an ihn denken. Auf die innere Stimme im Herzen Hören, durch die Jesus sprechen kann.

  1. Beten ist sprechen.

Zu Jesus sprechen in der Überzeugung, dass er hört. Danken oder bitten oder gerade das sagen, was jetzt wichtig ist.

  1. Beten ist wissen.

Beim Beten sehe ich mein Lebens anders: Es wird mir bewusst, was wichtig ist und was zweitrangig ist. Es wird mir immer deutlicher, worauf es im Leben ankommt.

Es ermutigt uns Mönche und Nonnen, wenn wir sehen, dass immer wieder einzelne Besucher in die Kirche unserer Klöster gehen und dort verweilen. Sie besichtigen die Kirche nicht, sondern sind einfach ruhig da. Anscheinend gibt es einen Kontakt zwischen dem Raum mit seiner Botschaft und ihrer Seele.

 

Von Athanasius Polag OSB, Trier/Huysburg

Ohne Gott ist ein Kloster nicht denkbar. Gott ist die Grundlage und das Ziel christlich geprägten klösterlichen Lebens. Der christliche Gott, in der Tradition des Abendlandes bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch weithin bekannt, ist heute nur noch wenigen geläufig oder gar vertraut.

Aus diesem Grunde möchten wir ihn hier kurz vorstellen. Kenntnis haben wir von ihm durch die Bibel, das bisher am häufigsten verlegte, übersetzte und verkaufte Buch der Welt. Die christliche Bibel gliedert sich in zwei Teile, das Alte und das Neue Testament.
Das Alte Testament verbindet die christliche Religion mit dem Judentum und dem Islam. Wesentliche Teile dieser Texte sind für alle drei Religionen gemeinsam grundlegend, vor allem die Aussage, daß es nur einen einzigen Gott gibt.
Das Neue Testament knüpft an die Existenz von Jesus von Nazareth an. Die sogenannten vier Evangelien, nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes, beschreiben dessen Lebensweg, wie er bis dahin erzählt worden ist. Allerdings handelt es sich in keinem Fall um eine Dokumentation im heutigen Sinne. Vielmehr wird deutlich, daß mit Jesus etwas Neues anbricht, ein neues Verhältnis Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Gott. Das Alte Testament ist voll von Hinweisen darauf, daß diese Erneuerung notwendig ist, weil der Mensch seine Beziehung zu Gott aufgekündigt hat. So begründet sich die Erwartung des jüdischen Volkes auf den so genannten Gesalbten, den Christus, den Messias.
Diejenigen Juden, die der Auffassung sind, bei Jesus handele es sich um den erwarteten Messias, werden seither Christen genannt. So beschreibt es die Apostelgeschichte, der nächste Text im Neuen Testament. In ihm wird außerdem erzählt, daß nunmehr nicht ausschließlich die Juden das im Alten Testament so genannte Volk Gottes bilden, daß also nicht mehr die Abstammung ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes ist, sondern die Einstellung zu Jesus von Nazareth. Wenn man ihn für den vom jüdischen Volk erwarteten Messias hält, zählt man zu den Christen. Die Gemeinschaft der Christen wird schon sehr früh „Kirche“ genannt.
Die Gemeinschaft der Christen, die Kirche, war es auch, die Ende des 4.Jahrhunderts verbindlich und abschließend festgelegt hat, welche der vielen Texte über Jesus Christus und die Gemeinschaft der Christen, die im ersten und zweiten Jahrhundert entstanden waren, zur Bibel gehören sollen. Seither gilt die Bibel als Grundlage für christliches Leben.
Gleichwohl handelt es sich beim Christentum nicht um eine Buchreligion, sondern gründet sich auf Personen, erstlich auf die persönliche Beziehung des einzelnen Christen zu Jesus Christus.

Von ihm wird in der Bibel erzählt, daß seine Anhänger nicht nur seinen Tod am Kreuz miterlebt haben, sondern schon kurze Zeit später, in den Texten ist vom „dritten Tag“ die Rede, zum Teil unabhängig voneinander bemerkt und erfahren haben, daß er nicht mehr tot war, sondern lebt. Die zentrale christliche Botschaft lautet denn auch: „Jesus Christus hat den Tod am Kreuz erlitten und ist begraben worden. Er ist auferstanden am dritten Tag und den Jüngern erschienen.“ Seither ist er bis in unsere Zeit wirksam in der Gemeinschaft der Christen, der Kirche.

Die Christen haben im Nachsinnen über Gott und Jesus Christus dessen Wesen als „Gott gleich“ beschrieben. So entstand nach und nach die Vorstellung vom dreipersonalen Gott, von dem einen Gott, der sich in drei Personen entfaltet: Gott, der Vater, Gott, der Sohn, und Gott der Heilige Geist, als Verbindung zwischen Vater und Sohn.
Gott, der Vater, wird dabei erstlich als der Schöpfer der Welt und des Lebens angesehen.
Von Gott, dem Sohn, also von Jesus Christus, wird gesagt, er habe die Schöpfung, die sich verselbständigt hat, durch seinen Tod und seine Auferstehung wieder in die ursprüngliche Heilssituation gebracht.
Der Heilige Geist, gleichfalls eigenständige Person, gilt als Verbindung zwischen Vater und Sohn. Die Verbindung zwischen den göttlichen Personen wird für so wichtig gehalten, daß sie ebenfalls als Person dargestellt wird. Die Verbindung vollzieht sich im Gespräch zwischen Vater und Sohn. Von daher kommt dem Wort im Christentum besondere Bedeutung zu. Schon im Johannesevangelium wird Jesus Christus selbst „Wort Gottes“ genannt, durch das Gott die Schöpfung, die Welt, ins Werk setzt.

Im gemeinsamen Nachdenken der Christen über die Bibeltexte hat sich ergeben, daß das Thema des innergöttlichen Gespräches die Welt und das Wohlergehen der Menschen ist.
Abzulesen ist das vor allem an der immer wiederkehrenden Aufforderung der Bibel an die Menschen, Frieden zu ermöglichen und zu bewahren und das menschliche Zusammenleben von der Liebe zueinander bestimmen zu lassen.
Das kann allerdings niemals durch die Verdrängung von Problemen und Konflikten geschehen, sondern durch das gemeinsame Bemühen, die Konflikte auszutragen und die Probleme zu lösen. Der „unerledigte Rest“, den jede Bewältigung von Schwierigkeiten nach sich zieht, ist durch Wahrhaftigkeit und Rücksichtnahme zu entschärfen.
Dieses Existenzmodell liegt nicht nur der christlichen Kirche sondern darüberhinaus der ganzen abendländischen Gesellschaft zugrunde und bestimmt auch mehr und mehr die Arbeit der Politiker, unabhängig davon, ob sie sich zu den Christen zählen oder nicht.

So wird der christliche Gott als ein menschenliebender Gott beschrieben, der in Jesus Christus den Menschen so nahe kommt, daß er, obwohl er Gott ist, selbst Mensch wird. Im Heiligen Geist hinterläßt er den Menschen Anteil am göttlichen Leben und versetzt sie grundsätzlich in die Lage, gut miteinander zu leben. Der Blick ins eigene Leben und der Blick auf die Kirchengeschichte erweisen allerdings, daß dieses Ziel noch längst nicht zuverlässig und auf Dauer erreicht ist.
Die christliche Kirche stellt aber eine Möglichkeit dar, sich ihm manchmal zu nähern.

Sr. Scholastica Steinle OSB

Weg nach Innen.

Ora et labora, so lautet die bekannte Kurzformel, mit der benediktinisches Ordensleben gerne zusammengefasst wird: bete und arbeite. Doch es fehlt der Losung mit ungeklärter Herkunft das dritte Standbein, die Tora. Ora et labora et lege – bete, arbeite und lies, so müsste es vollständig heißen.

In seiner Regel gliedert der Ordensvater Benedikt das Kalenderjahr in drei Zeitfenster, denen er ein unterschiedliches Maß an Arbeit, Gebet und Lesungszeit zuordnet. Zugleich reserviert er für das Studium der hl. Schrift, der sogenannten Lectio Divina (RB 48,1), einen besonderen Zeit- und Schutzraum: Die Mönche sollen zu bestimmten Stunden frei sein für die Lesung. Siebenmal gebraucht er innerhalb weniger Verse dafür das Wort vacare, um auf die Notwendigkeit der Spannungseinheit und deren qualitative Prägung hinzuweisen: frei sein (vacent lectionibus), um sich eifrig und aufmerksam der Meditation der hl. Schrift (intentus lectioni) widmen zu können. Kurz: Die Benediktusregel, komprimiert in dem Dreisatz ora et labora et lege, erweist sich als eine Bauidee mit Elastizität. Sie bietet einen hermeneutischen Rahmen und zugleich die Freiheit für Adaptionen und Reinkarnationen. Die Lectio Divina soll den, der sich in die Schrift vertieft und sie verinnerlicht, befähigen, sich auf das Wort Gottes, das buchstäblich in Anspruch nimmt, einzulassen, es existentiell zu erschließen und im Leben zu verwirklichen. Das verbindende „et“ zählt nicht ein minutiös getaktetes Nebeneinander auf. Es geht vielmehr um die innere Verbindung dreier Grundhaltungen und die Konjunktion des gesamten Lebens unter der Führung der göttlichen Weisung: „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat“ (RB Prol. 1).

Das Erkannte soll im Tun sichtbar werden.
Prolog der Benediktusregel und Proömium des Psalters stellen gleichermaßen das Porträt eines glückseligen Menschen vor, der aus dem lebendigen Kontakt mit dem Wort Gottes lebt und der seine „Freude hat an der Weisung des Herrn“ (V.2). Er hält sich nicht auf, wo er sich nicht aufhalten soll (V.1); er begibt sich nicht auf das abschüssige Gefälle vom Gehen, über das Stehen, bis hin zum sich niederlassen und festsetzen auf der „cathedra pestilentiae“ (Abstraktum der Vulgata).

Drei Verben der Bewegung führen über eine Antiklimax zum Stillstand: gehen, stehen, sitzen. Von den drei negativen Darstellungen einer sich zunehmend verengenden Sicht- und Handlungsweise (auch die Cathedra der Pestilenz folgt einer logischen Sukzession: vom weiten Rat, über den schmalen Weg bis zum kleinen Kreis), hebt sich die Freiheit des selig zu preisenden Mannes ab. Dieser verortet sich ganz in der Tora, in der Weisung des Herrn, und sinnt über sie nach bei Tag und bei Nacht (in lege Domini meditabitur die ac nocte, V.2). Er versenkt sich in das Wort – und hält im wahrsten Sinn Lectio Divina, „damit wir uns das, was wir murmelnd immerfort wiederholen, im Glauben zu eigen machen“ (Liber Horesi 51). Die monastische Tradition nennt das ruminatio – wiederkäuen, und umschreibt damit eine mystisch-aszetische Grundhaltung beständiger Meditation. Der Gerechte (Zaddik, V.5f.) schluckt nicht einfach das Gesetz, er kaut es wortwörtlich durch. Und wie sich bei der Nahrungsaufnahme Energie und Nährstoffe erst durch bedächtiges Kauen freisetzten, so verhält es sich auch hier mit der stetigen Wiederholung der Worte der Tora. Die Lust am Gesetz, das unerschöpfliche und schöpferische Nachsinnen eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Vertiefung, des Verstehens und der Identifikation: „Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt“. Wurzeln schlagen, um sich entfalten zu können: „Alles was er tut, wird im gelingen“ (V.3). Mehr noch, er ist sogar dem natürlichen Kreislauf der Vergänglichkeit enthoben. Das Laub bleibt paradiesisch immergrün, seine Blätter „welken nicht“ (V.3).

Was im 12. Jahrhundert zum klassischen Vierschritt der Lectio Divina wird (Guigo II., Scala claustralium), finden wir hier bereits in nur einem Vers vorgebildet:

1. lectio – die beständige Wässerung des Baumes (V.3a) – wachsame Lesung der hl. Schrift
2. meditatio – der langsame Reifungsprozess der Frucht (V.3b), die dann zur rechten Zeit ihren Saft und Geschmack abgibt – ständige Wiederholung und einübende Verinnerlichung des Gelesenen
3. oratio – die belebende Wiederholung und Erneuerung der Grünkraft (V.3c), damit die Erkenntnis nicht welkt – Antwort auf die Anrede Gottes
4. contemplatio – der neue Gesichtspunkt des Handelns (V.3d) – Verweilen in der Gegenwart Gottes

Gegenbild dazu ist die Unstetigkeit der Frevler, die wie der nutzlose und unfruchtbare Überrest des Getreides (Spreustaub = der letzte Dreck) vom Wind verweht werden (V.4). Ihnen fehlen Beständigkeit und Ausdauer, etwas durchzustehen. Weder im Gericht noch in der Gemeinde der Gerechten haben sie einen Standort. Mangelnde Zugehörigkeit, die in Isolation und Dissoziation führt. Dass der Wind sie zerstreut, erscheint hier jedoch nicht als Strafe. Es steht spiegelbildlich für die Gottlosigkeit, die in den Abgrund des Chaos führt. Flüchtig und ruhelos (vgl. Gen 4,12), wie Kehricht vom Wind gejagt. Doch nicht allein die Existenz der Frevler verliert sich. Das letzte Wort von Psalm 1 weist darauf hin, dass der Irrweg selbst vergehen wird. Damit ist auch eine alphabetische Klammer, ein Wegweiser vom ﬡ (Aschre, V.1) bis zum ﬨ (Tobed, V.6) gesetzt. Der Mensch muss sich je neu entscheiden, positionieren, verorten.

Die Letztbeurteilung der Wegverläufe liegt jedoch bei Gott, der allein die ganze Strecke überblickt und eigene Maßstäbe hat (vgl. Mt 7,13-14). Der Mensch auf der Wegkreuzung aber kann sich bereithalten, um aus der gelebten Gottesbeziehung heraus seine Schritte frei zu setzten: „Denn JHWH kennt den Weg der Gerechten“ (V.6). Dieses „Kennen“ (Jodea) meint eine liebende Zuwendung und spricht zugleich von einer Vertrautheit, die sich einer lebendigen Beziehung verdankt. Der Weg des Gerechten ist ein von JHWH „umsorgter“ (Romano Guardini, Deutscher Psalter). Aus dieser Verwurzelung heraus vermag der Mensch, sich zu allem, was ihm begegnet, ihm entgegentritt oder verleitet, zu verhalten. Verwurzelt zu sein an den Quellbächen der Tora, das Ohr des Herzens zu neigen, das Wort zu schmecken (vgl. Jer 15,16; Ez 3,1-3) und seinen Weg zu gehen – das sind Perspektiven, die zur Grundsituation eines freien, aber immer auch fragilen und fraglichen Lebens gehören.
Anders gewendet: Die Lectio Divina fördert geistige und seelische Beweglichkeit und Ausdauer, um bei gesellschaftlichen Überzeugungen und materiellen Gütern nicht einfach stehen oder gar kleben zu bleiben. Durch beständiges Fragen und Suchen erweist sie sich als Ort „fortschreitender“ Gottesbegegnung, denn mit Gott tritt man nicht auf der Stelle (Dietrich Bonhoeffer).

Am Ziel.

Am Aschermittwoch, dem Beginn der österlichen Bußzeit, intoniert der Gesang zur Kommunion Psalm 1,2: „Qui meditabitur in lege Domini die ac nocte, dabit fructum suum in tempore suo“. Möglich, dass damit der Umkehrweg der Fastenzeit beschrieben werden soll: was in diesen 40 Tagen an guten Vorsätzen und Bußübungen gesät wird, möge am Osterfest reiche Frucht tragen. Die Neumen der Communio legen allerdings einen Betonungsschwerpunkt und eine bewusste Verlangsamung der Melodie auf die Worte „in tempore“ – zu seiner Zeit. Nachlässigkeit im Auskosten der Lectio Divina, lässt auf die Dauer unfruchtbar werden im Guten (Cassian, Inst. 10,2,1). Wer sich die Schriftworte nicht durch beständiges Wiederkäuen einverleibt, verliert mit der Zeit Substanz. Fehlt die äußere Ruhe, geht auch die innere Dynamik verloren. Die Gangart des Schweigens will Distanz gewinnen und zugleich Bewegungsfreiheit bewahren und sich gerade nicht vereinnahmen lassen von Zwängen und Meinungen. Eine Erfahrung, die zwei Altväter pointiert ins Wort bringen: „Altvater Sisoes sagte: Schweigen heißt pilgern!“ (Vitae Patrum 7,32,4). Und Altvater Moses: „Geh, setz dich in deine Zelle, und die Zelle wird dich alles lehren“ (Vitae Patrum 5,2,9).
Die erste Prozession am Aschermittwoch war der Gang zum Empfang des Aschenkreuzes, begleitet von den Worten: „Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst. Kehr um, und glaub an das Evangelium.“ Die zweite Prozession ist der Gang zur Kommunion, begleitet durch das melodische Vor-sich-her-Summen von Psalm 1,2. Fruchtbringen zu dürfen, zu seiner Zeit, entlastet vor falscher Askese und vermeintlich guten Wegen, damit nicht die ichbezogene vana gloria im Weg steht dem „Freisein für Gott“.

Von Sr. Raphaela Brüggenthies OSB

Freude und Schmerz schließen sich nicht aus, sondern gehören eng zueinander. Diese Erfahrung machen wir nur allzu oft in unserem Leben. Papst Benedikt XVI. hat in einer Meditation auf diesen Zusammenhang eindringlich hingewiesen. Er sagte:

„Die Weisung ‚gaudete’ – freut euch – kommt in den Briefen des hl. Paulus sehr häufig vor, ja man könnte sagen, dass sie gleichsam der ‚cantus firmus’ seines Denkens ist. Im so mühseligen Leben des Paulus, einem Leben mit Verfolgungen, Hunger, Leiden aller Art, ist dennoch das Schlüsselwort ‚gaudete’ immer gegenwärtig.

Hier erhebt sich die Frage: ist es möglich, die Freude gleichsam anzuordnen? Die Freude, möchten wir sagen, kommt oder kommt nicht, sie kann nicht auferlegt werden wie eine Pflicht. Und hier hilft es uns, wenn wir an den bekannten Text über die Freude in den Paulusbriefen denken, das heißt an den des Sonntags ‚gaudete’ mitten in der Liturgie des Advent. ‚Gaudete, iterum dico gaudete, quia Dominus prope est’ [Freut euch, wiederum sage ich, freut euch – denn der Herr ist nahe].

Wenn mir der Geliebte, die Liebe, das größte Geschenk meines Lebens, nahe ist, wenn ich sicher sein kann, dass er, der mich liebt, mir auch in schwierigen Situationen nahe ist, dann empfinde ich im Grunde meines Herzens eine Freude, die größer als alles Leiden ist. Der Apostel kann sagen: ’gaudete’, denn der Herr ist jedem von uns nahe. Deshalb ist diese Weisung in Wirklichkeit eine Einladung, dass wir uns der Gegenwart des Herrn, der uns nahe ist, bewusst werden. Sie ist eine Sensibilisierung für die Gegenwart des Herrn. Der hl. Paulus will uns aufmerksam machen auf diese verborgene Präsenz Christi, der jedem von uns nahe ist. Für jeden von uns gelten die Worte aus der Offenbarung: Ich klopfe an deine Tür. Höre mich, öffne mir. Es ist also auch eine Einladung, für diese Gegenwart des Herrn, der an meine Tür klopft, empfänglich zu sein. Ihm gegenüber nicht taub zu sein, weil die Ohren unseres Herzens so erfüllt sind von den vielen Geräuschen der Welt … Prüfen wir, ob wir bereit sind, die Türen unseres Herzens zu öffnen … Er klopft an die Tür, er ist uns nahe, und damit ist uns die wahre Freude nahe, die stärker ist als alle Traurigkeit der Welt und unseres Lebens.“

Soweit die Worte unseres Hl. Vaters Benedikt XVI. Greifen wir ein paar Gedanken des Papstes etwas konkreter auf.

Der Apostel Paulus fordert uns in seinen Briefen an die Philipper und an die Thessalonicher ganz bewusst und sehr eindringlich zur Freude auf. Wenn er dies so auffallend hervorhebt, dann muss es sich hier offenbar um eine ganz besondere Freude handeln. Es geht hier nicht um eine Freude, wie sie uns sonst in unserem Alltag widerfährt, wir können diese Freude auch nicht selbst machen. Die Freude, die der hl. Paulus meint, ist ganz und gar Geschenk, ist reine Gnade und Geschenk des Hl. Geistes. Sie ist die Freude im Herrn, der Mensch geworden ist und uns damit auf wunderbare Weise nahe gekommen ist. Es ist die Freude am Herrn, der unser Leben teilt und uns erlöst hat durch sein Blut.

„Freut euch im Herrn allezeit, noch einmal sage ich euch: freuet euch“ – wir alle sind hier angesprochen, jede und jeder einzelne. Alle, die wir unseren Lebensort im Herrn haben, die wir uns ihm verbunden wissen, in ihm verankert sind und aus der Erfahrung seiner Liebe, seines Erbarmens und seiner Hingabe heraus zu leben versuchen. Er allein ist der Grund unserer Freude. Gerade deshalb ist diese Freude unabhängig davon, ob uns Gutes widerfährt, ob wir gerade glücklich sind, ob unser Leben gelingt und erfüllt ist. Der Herr ist da – ecce adsum – nicht nur in Tagen, die uns freudig erscheinen und willkommen sind, sondern gerade auch in Zeiten, in denen wir schwere Lasten zu tragen haben, in Zeiten, die vielleicht leer und einsam sind. Die Freude am Herrn vergeht nicht in Not und Leid, sondern kann gerade in solchen Prüfungen tragen, weil der Herr uns gerade dann besonders nahe ist.

Die nächste Nähe des Herrn erfahren wir in der Eucharistie, in den Zeichen von Brot und Wein. Was kann uns scheiden von der Liebe des Herrn, sagt Paulus im Römerbrief (8,35-37). Weder Bedrängnis noch Ängste, weder Verfolgung noch Gefahr, weder Hunger noch Kälte. Nichts kann uns scheiden von seiner Liebe, die uns umgibt, die uns trägt und die uns hält. Solche Liebe schenkt wahre Freude und inneren Frieden, eine Freude, die uns niemand nehmen kann, nur wir selbst.

Ja, wir selbst können der Freude im Wege stehen. Warum? Gewöhnlich empfinden wir unser Leben eher als glanzlos. Wir schleppen uns allzu oft nur so dahin, sind zermürbt von vielen kleinen und großen Ängsten und Sorgen, von Krankheit und Einsamkeit, von zuviel Arbeit und Überforderung. Der Engel der Weihnacht aber hat gerade in diesen unseren Alltag hinein sein Wort gesprochen: „Ich verkünde euch eine große Freude!“ Und die Hirten haben sich aufgemacht, mitten in der Nacht. Freude verlangt manchmal auch Anstrengung und Mut, möchte man sagen. Unglücklich sein kann jeder. Fragen wir uns ruhig einmal, wie es wäre, wenn der Engel der Weihnacht heute zu uns käme. Würden wir ihm antworten, würden wir uns auf den Weg machen, würden wir auch lieb gewordenes Unglück hinter uns lassen und der Freude entgegeneilen? Die alten Mönchsväter sahen eine bestimmte, oft auch heute nur allzu beliebte Form von Traurigkeit als Laster an, das es zu bekämpfen gelte. Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob sie nicht manchmal recht haben. Freude verlangt auch Anstrengung. Freude kann also Arbeit sein, vor allem Arbeit an uns selbst. Sie muss wie die Liebe gewollt, manchmal auch erkämpft werden. In der Vätertradition wurde die Freude immer als die Schwester der Liebe betrachtet. Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8). Und darum ist Gott auch der Ursprung der Freude. Nicht umsonst war die erste Kunde von Jesus, dem Gott unter uns, die Freude. „Ich verkünde euch eine große Freude“.

In der Benediktsregel gibt es nur drei Stellen, an denen die Freude erwähnt wird. Doch diese drei Stellen haben es in sich. Da heißt es zum ersten im Kap. 5,16 über den Gehorsam: „Gott liebt einen freudigen Geber“. Freude, so kann man daraus schließen, entsteht in der Selbstlosigkeit und in der selbstlosen Hingabe. Freude wird mir nicht für mich selbst geschenkt, sondern ist dazu da, weitergegeben und geteilt zu werden. Sie bleibt nicht in sich, sondern sie strahlt aus. Christus selbst ist uns hierin das Vorbild schlechthin. In der Loslösung von sich selbst hat sich Weihnacht ereignet, Menschwerdung Gottes. In seiner Selbsthingabe sind wir erlöst worden. Wäre unsere Antwort auf dieses Geschenk der Erlösung nicht eine freudige Gelöstheit in allen Situationen, auch den schweren, unseres Lebens? „All das“, so sagt der hl. Benedikt in Kap. 9,39 „überwinden wir freudigen Herzens durch den, der uns geliebt hat“. Im festen Glauben an die Liebe und an die Nähe des Herrn dürfen wir und sollen wir uns freuen.

Die dritte Stelle (Kap. 49,6), an der der hl. Benedikt die Freude erwähnt, fasst beide genannten Motive noch einmal wie in einem Brennglas zusammen: „Ein jeder soll also von sich aus…in der Freude des Hl. Geistes etwas als Opfer darbringen…und harre in Freude und Sehnsucht des Geistes dem heiligen Osterfest entgegen.“ Sich selbst darbringen –dieses Opfer will eingelöst werden, jeden Tag neu und zumeist in ganz kleinen Dingen. Versuchen wir das, was uns bedrückt, was uns müde macht, was uns fern hält von der Freude des Herzens, auf den Altar Gottes zu legen oder ans Kreuz Christi zu heften.

Wie können wir das konkret tun? Schauen wir einmal auf das, was der Apostel Paulus den Thessalonichern kurz und bündig ins Stammbuch schreibt: „Freut euch zu jeder Zeit. Betet ohne nachzulassen. Dankt für alles.“

Versuchen wir, dankbare Menschen zu werden, denn in der Dankbarkeit wird uns die Freude mitgeschenkt. Wir haben so viel Grund zur Dankbarkeit, im Kleinen wie im Großen. Fragen wir uns am Ende eines jeden Tages im Gebet, wofür wir heute Grund zum danken haben. So werden wir wirklich frohe Menschen, die Freude ausstrahlen und die auch den anderen freundlich und geduldig begegnen.

Blaise Pascal, der große Mathematiker und überzeugte Christ, hinterließ das schöne Wort: „Der Mensch ist für die Freude geboren“. Und Paul Claudel fügte dem in einem Bittgebet hinzu: „Herr, lehre die Christen, dass sie keine andere Aufgabe haben als die Freude.“

Sr. Philippa Rath OSB

„Wenn ich rufe, erhöre mich, Gott, du mein Retter!
Du hast mir Raum geschaffen als mir Angst war.
Sei mir gnädig und erhöre mein Flehen.“ Ps 4, 2

Der menschliche Akt, den wir „Gebet“ nennen, das Sprechen des Menschen zu Gott und die empfängliche und manchmal wortlose Offenheit für Gottes Wort an uns, hat viele Aspekte:
Menschliche Aspekte, die sich nach Gesetzmäßigkeiten des Menschseins vollziehen, und die man mittels der Humanwissenschaften wie der Anthropologie und Psychologie betrachten kann, aber auch Aspekte, die den Menschen übersteigen. Sie haben mit dem Gesprächspartner Gott zu tun und sind ein Mysterium, dem wir uns nur in ehrfürchtiger Scheu nähern können. Immer aber werden wir vor einem Geheimnis stehen, das größer ist als wir.

Das Gebet ist ein menschlicher Akt, vor allem aber eine Gabe Gottes, ein gnadenvolles Geschehen, eine Erschließung des Mysteriums von Gottes Nähe. Das Gebet ist das Herz einer jeden Religion. Jeder wirkliche Gottesdienst kennt und übt das Gebet, hat eine Gebetserfahrung, hat auch eine Gebetstradition, die einen Menschen lehrt, wie er zu Gott beten soll, wie er sich für die Welt Gottes öffnen und wie er sich voll Vertrauen auf den Weg zu einer Begegnung mit Gott machen kann.
Gebet ist – genau genommen – bewusste Offenheit für das Geheimnis der Nähe Gottes. Ein Leben, das gezeichnet und „durchatmet“ von Gebet ist, nennt die Schrift „Wandel vor dem Angesicht Gottes“. Dem alten Mönchtum war die „Memoria Dei“ wichtig: mit dem Herzen in allem Tun und Lassen bei Gott sein. Es gibt nämlich ein sehr enges Band zwischen dem Gebet und dem Alltagsleben: beides ist miteinander verwoben, existiert nicht nebeneinander. Wenn das Tun nicht den Charakter einer gottesdienstlichen Handlung hat, wenn es nicht „Tora“ ist, ein Handeln nach dem Willen Gottes, hat das Gebet keinen Nährboden, um zu gedeihen, dann sind die Worte unwahr und man betrügt sich selbst. Vor allem das Judentum hat immer vom Gebet verlangt, dass es im Leben verwurzelt sein muss, in der Wahrhaftigkeit des Lebens, wenn es selbst wahrhaftig sein soll. Jesus spricht dies an, wenn er sagt: „Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.“

Gebet, in dem sich nicht das Leben des Alltags widerspiegelt, läuft Gefahr, in Scheinheiligkeit zu versanden. Und andererseits ist aufrichtiges gottesdienstliches Handeln auch ein Gebet in Form einer Tat. Gebet hat zu tun mit einer Weise, zu leben, ist selbst auch eine Weise des Lebens: es ist, die Welt in Gottes Licht sehen, sich Gottes Gesichtspunkt zu eigen machen. Es ist Leben auf einer Ebene, auf der man Gespür für die Tiefendimension aller Dinge bekommt und entdeckt, dass alles mit Gott zu tun hat. Es geht darum, den Sinn für Gottes Anwesenheit zu wecken, in allem, was der Geist in unserem Leben zulässt.
In dem Buch „Der Mensch fragt nach Gott“, sagt Abraham Heschel: „Religion ist nicht, was ein Mensch in seiner Einsamkeit tut. Religion ist, was der Mensch mit der Gegenwart Gottes tut. Und der Geist Gottes ist gegenwärtig, wann immer wir bereit sind, ihn zu empfangen.“

Wenn es ums Gebet geht, so ist es gut und heilsam, sich gelegentlich bei den großen Betern aus dem Kreis der ersten Mönche Rat zu holen. Sie wissen, dass das Gebet eine harte Mühe ist, die Energie und Zähigkeit erfordert. Denn der Weg nach innen ist ein langer und sehr mühevoller Weg, auf dem es Augenblicke des Lichts geben kann, auf dem aber nur Gott selbst wachsendes Licht schenken kann.
Das Gebetsleben, das im Grunde mit der Einwohnung des Hl. Geistes in unseren Herzen zu tun hat, ist im letzten ein Mysterium des hervorbrechenden Lichts. Auch in dem Sinn, dass uns ein Licht über uns selbst aufgeht, weil wir unser Tun und Lassen immer wieder im Licht Gottes sehen und dabei zu bestürzenden Erkenntnissen über uns selbst gelangen können. Ein Altvater sagt: „Das Gebet ist für den Menschen ein Spiegel.“ Das Licht Gottes aber kann – die Mystiker sprechen oft davon – die Gestalt des Dunkels annehmen. So ist auch die Dunkelheit Offenbarung Gottes.

„Beten verändert“, es verändert uns selbst und unsere Sicht der Welt. Die großen Beter haben erfahren, dass wahrhaftiges Beten unseren Blick für Menschen, Dinge und Ereignisse schärft: wir sehen die Dinge und Ereignisse mehr im Licht Gottes. Nicht, dass das Licht vorher nicht da gewesen wäre, aber unser Auge wird empfindsamer und empfänglicher für das, was das Licht uns offenbart. Isaak der Syrer sagt: „Wer betet, erschaut die Flamme in allen Dingen.“ Das heißt, er dringt durch bis zum göttlichen Kern in allem: Gottes Gegenwart offenbart sich. Gebet ist Erfahrung der Nähe Gottes – oder Sehnsucht nach dieser Nähe. Ein Leben des Gebets macht sie mehr und mehr bewusst und erlebbar. Und plötzlich sieht man auch die Umwelt in neuem Licht.
Gebet ist, wie unvollkommen auch immer, eine winzige Vorwegnahme des Himmels. Die Altväter wissen, dass ein wachsendes Gespür für die Nähe Gottes eine Gabe des Hl. Geistes ist. Mit seinem Licht reinigt Er unser inneres Augen, so dass er in allem Sein Licht sehen kann.

Beter sind Menschen, die eine Begegnung suchen; wenn sie Christen sind, suchen sie die Anwesenheit Christi in ihrem Dasein. Der hl. Benedikt sieht die Gottsuche als das wichtigste Kriterium für eine Berufung zum monastischen Leben an. Und auch für uns bleibt die Frage, ob wir wahrhaft Gott suchen, ein Leben lang gültig und entscheidend, diese Suche kann so etwas wie ein Lebensklima werden.

In einem Vortrag: „Die Askese der Gottsuche“ formulierte es Edward Schillebeeckx es so:
„Immer auf der Suche bleiben nach dem verborgenen Gott und obwohl wir ihn nirgends auf frischer Tat ertappen können, niemals aufgeben, ihn zu suchen. Wir müssen uns weigern, diese Verborgenheit, diese Nicht- Einholbarkeit Gottes als einen Anruf zu erklären, um allein den sichtbaren Menschen zu suchen.“
Das Ideal, dass das ganze Leben wie Sauerteig durchdringt und getragen wird vom Gebet, nannten die alten Mönche das „immerwährende Gebet“.
1 Thess 5, 17 „Betet alle Zeit.“ Die Leser waren nüchtern genug, sich zu sagen, dass dies nicht bedeuten konnte, unausgesetzt Gebete zu sprechen. Sie wussten aus der Erfahrung selbst ihres Alltags, dass man seine Aufmerksamkeit auch auf anderes richten musste, dass es Beschäftigungen gab, die ein Beten unmöglich machten.
Um den Aufruf der Schrift treu nachzukommen, suchten sie die Lösung in der inneren Haltung des Herzens, die so beschaffen sein muss, dass sie sich so oft wie möglich zu ausdrücklichem Gebet kristallisiert.
„Wenn du mit jemandem sprichst und keine Möglichkeit zum Beten hast, bete dann, indem du dem Gefühl des Mangels in dir Raum gibst“, sagt ein Altvater. Und Augustinus sagt eigentlich dasselbe: „Wo du nicht ausdrücklich beten kannst, bete im Herzen durch deine Sehnsucht.
Die „memoria Dei“ der Alten, dieses mit dem Herzen bei Gott sein, ist so eine Spiritualität der Sehnsucht und des Verlangens nach einer Begegnung mit Gott, die das Herz erfüllt.
Die „memoria Dei“ ist weniger eine Aufmerksamkeit des Intellekts, als Bereitschaft und Anwesenheit des Herzens, dieser innersten Mitte unseres Wesens. Der Weg zum Gebet steht allen offen. Es ist ein langer Weg, ein Weg der Einübung, der Läuterung, der vom Hl. Geist gelenkten Askese; er führt zur Reinheit des Herzens, die identisch ist mit der zum Vollmaß gewachsenen Liebe. Das Gebet aber soll das ganze Leben durchsetzen und somit zum Atem des Lebens werden.

Je mehr man auf dem Weg des Gebets vorausschreitet, je mehr wird man sich bewusst, dass das Gebet Gnade ist, lautere Gabe Gottes. Nur der Hl. Geist vermag alles bis zum tiefsten Grund durchsichtig machen. So ist das Schriftwort auch zu verstehen, dass der Geist in unserem Herzen betet. Weil das Gebet Geistesgabe ist, Begnadigung, ist es etwas, das einem eher widerfährt, als dass man es tut.

Einer der wichtigsten Texte zur biblischen Lehre über das Gebet finden wir im Römerbrief 8, 22 – 27 (Übersetzung von Fridolin Stier):
„21 Deshalb wir auch sie – die Schöpfung – freigelassen aus der Knechtschaft des Verderbens, um zur Freiheit der Kinder – Gottes – Herrlichkeit zu gelangen. 22 Wir wissen ja, dass die ganze Schöpfung allzumal stöhnt und allzumal in Wehen leidet bis zum Jetzt. 23 Aber nicht nur sie! Nein, auch wir, welche die Erstlingsfrucht des Geistes innehaben – auch wir selber stöhnen zuinnerst, auf die Sohnschaft wartend: den Loskauf unseres Leibes. 24 Denn nur auf Hoffnung hin wurden wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man erblickt, ist keine Hoffnung. Denn: Was einer erblickt – was hofft er noch? 25 Wenn wir aber erhoffen, was wir nicht erblicken, so warten wir im Ausharren.
26 Dementsprechend aber nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn: Wie wir bitten sollen um das, was uns Not tut, das wissen wir nicht, der Geist selbst jedoch springt dafür ein – in wortlosem Seufzen. 27 Der Erforscher der Herzen aber weiß, was das Sinnen des Geistes ist, weil er Gott gemäß für die Heiligen einspringt.

Paulus erkennt den Zusammenhang zwischen dem Seufzen des menschlichen Herzens und dem Seufzen der ganzen Schöpfung nach erlösender Vollendung und dem Gebet aus dem Geist. Er, der uns durch die Taufe ins Herz gegeben ist, seufzt in uns nach dem Augenblick , in dem Er uns vollkommen erfüllt. Jedes geistgewirkte Gebet ist ein Gebet um Vollendung, eine Bitte um das Kommen des Reiches, also eine Bitte um das volle Leben des Geistes.
Das Seufzen der Schöpfung durchzieht auch das Gebetssingen des Menschen, und in diesem Seufzen und Sehnen spricht und ruft der Geist. Er leiht allem, das sich in uns nach Vollendung sehnt, seine Stimme.
Jedes aufrichtige Verlangen des Menschen , jede Sehnsucht trägt die Möglichkeit in sich, Gebet zu werden; denn in ihr kann der Geist wirken. Er muß uns helfen, zum tiefsten Kern unserer menschlichen Sehnsucht vorzustoßen, zum Hungern nach Gott. Dieses Hungern nach Gott muß uns bewusst werden, dann wird jeder Hunger in uns zum Gebet, jede Unruhe zu einer Hinwendung zu Gott, zum Auf unseres Abgrunds nach Gottes Abgrund, der allein die Erfüllung bringen kann.
Wir sind nun dann wirklich Menschen des Gebetes , wenn der Geist Gottes unsere ganzes menschliches Verlangen und Begehren zum Gebet macht zu einem Ruf nach dem Absoluten. Das Verlangen wird dann zur Stimme des Geistes.
Der Weg des Gebetes, der ein langer, mühseliger Weg sein kann, ist die wachsende Sensibilität für das Mysterium der Nähe Gottes. Denn es ist die wirkliche Begegnung mit Gott, auf die ein jeder hofft, der den Weg des Gebetes einschlägt.
Wann das sein wir? Es ist Gottes Stunde, es ist Gottes Gabe: seine Gnade, heilende Nähe, ein Nähe, die Er uns erfahrbar macht.
Noch einmal Abraham Heschel:
„Im Gebete öffnen wir uns dem Geistgebet als ein Weg der Erkenntnis, nicht als eine Weise, zu sprechen. Gebet rettet uns vielleicht nicht, macht uns aber wert, gerettete zu werden. Bei allem geheiligten Tun steht das Gebete an erster Stelle“

und Augustinus:
Denn das immerwährende Gebet ist das nie nachlassende Verlangen. Das Verlangen betet immer, auch wenn die Zunge schweig t… Wann schläft unser Gebet? Nur, wenn unsere Sehnsucht sich abkühlt.“

Die Benediktsregel bringt keine systematische Abhandlung über das Gebet. Sie gibt einige Anweisungen, sehr schlicht und sehr nüchtern, und weist auf die inneren Haltungen hin, die Verfassung des Herzens.
Der Traktat über die Ordnung des gemeinsamen Gebetes, der die Kapitel 8 – 18 umfasst, findet eine sehr zurückhaltende spirituelle Deutung in dem nur sieben kurze Verse umfassenden 19. Kapitel der Regel.
Wir glauben, dass Gott überall zugegen ist und die Augen des Herrn an jedem Ort auf die Guten und Bösen schauen…“ Der erste Satz von Kap. 19 stellt unmittelbar die Verbindung zur 1. Stufe der Demut her, die die Grundlage des monastischen Lebens ist. Es ist die Grundlage des Glaubens.

a) Das liturgische Leben, so kann man erstens daraus schließen, kann vom übrigen Leben nicht getrennt werden. In ihm lebt eine Kommunität, die das Verlangen hat, sich dem Wirken Gottes zu öffnen. Die Kommunität selbst ist „Opus Dei“, Werk Gottes, das sich an diesem bestimmten Ort verwirklicht.
In der Liturgie manifestiert sich unsere Gemeinschaft und drückt sich im gemeinsamen Glaubensbekenntnis aus. Gemeinsam erkennen wir in Dankbarkeit die Liebe Gottes, die immer zuerst da ist, die Gegenstand des tiefsten, unbegrenzten Verlangens für jeden Einzelnen und für alle in der Nachfolge Christi ist.
Die Liturgie ist Opus Dei, weil sie das offenbart, was im Herzen eines jeden und aller lebendig ist.

b) Die Liturgie, so kann man weiter schließen, ist Ausdruck des Lebens der Kommunität – und zwar mit ihren Höhen und Tiefen, ihren Momenten des Elans und der Müdigkeit. Nach einem Tag harter Arbeit ist vielleicht im Chorgebet Unlust, Ermüdung oder Gereiztheit zu spüren. Das ist unsere Wahrheit, die manchmal schwer zu ertragen ist – aber sie ist ein Teil unseres Weges, den das 7. Kapitel der Benediktsregel beschreibt. Das zu wissen, ist heilsam. Wir kommen dann nicht in Versuchung, die Schuld auf den Kantor, den Organisten oder sonst andere zu schieben.

c) Die Liturgie ist im ganzen Leben verankert und wird durch das ganze Leben vorbereitet.
Es ist wichtig, dass wir uns in unserem Tageslauf um eine gewisse Ausgewogenheit bemühen, dass neben dem Raum, der der Liturgie gewährt wird, auch Raum für die anderen, das Glaubensleben nährenden Werte gegeben ist: lectio divina, persönliches Gebet, Meditation, Zeiten des Schweigens, das Bemühen, sich nicht zu verzetteln.
Diese Ausgewogenheit ist vielleicht wichtiger als alle liturgischen Neuerungen oder Änderungen, die für sich allein oft nicht viel bewirken.

Die Teilnahme an der Liturgie erfordert eine bestimmte innere Haltung, sagt uns das 19. Kapitel der Benediktsregel. Das Bemühen um Aufmerksamkeit, das ein bewusster Glaubensakt ist.
Wenn die Liturgie Ausdruck des Glaubens der Kommunität ist, so ist die Liturgie ihrerseits der Ort, an dem die Kommunität genährt und geformt wird.
Teilnahme am Stundengebet ist Teilhabe am Wirken des Hl. Geistes, der sich in der Kommunität vernehmen lässt. Das ist nicht einfach ersetzbar durch „privates“ Beten, auch wenn das manchmal unumgänglich ist. Aber der Ort des Hl. Geistes ist die betende und feiernde Gemeinschaft.

Was für jedes Werk gilt, gilt auch für die Liturgie: sie erfordert eine Vorbereitung – und zwar eine „entferntere“ durch das Studium der Hl. Schrift, der Psalmen, durch die lectio divina – und sie verlangt auch eine unmittelbare und persönliche: das Vorbereiten der Bücher, Schweigen, Sammlung.
Kap 19 schließt mit dem bekannten Satz: „Stehen wir so beim Psalmensingen, dass unser Geist in Einklang ist mit unserer Stimme.“
Das heißt nicht, dass wir nicht während des Chorgebets von Tausend Gedanken, Plänen und Sorgen geplagt sein können, aber unser Herz muss sich engagieren. Wir müssen uns einlassen auf das Mysterium, das jenseits der Worte auf uns wartet. Davon soll unsere Leben im innersten geprägt sein.
Es ist nicht leicht, mehrmals am Tag die Arbeit einfach aus der Hand zu legen. Manchmal wird es auch nicht gehen. Die Regel sieht vor, dass am Ende jeder Hore der Abwesenden gedacht wird, dass sie dadurch mit hineingenommen werden.
Aber es ist unbestritten, dass das Stundengebet für den hl. Benedikt der Ort und der Raum schlechthin ist, in dem die Gemeinschaft sich als Einheit erfährt.
Gemeinsames Gebet und persönliches Gebet bedingen und ergänzen einander. In der Regel folgen die Kapitel 19 und 20 unmittelbar aufeinander
So kurz Kapitel 20 auch ist, es ist doch Träger einer ganzen spirituellen Tradition. Es verweist in seinem ersten Satz ebenfalls auf die 1. Stufe der Demut. Es sieht den Ort des Gebetes nicht auf der Ebene des Denkens, sondern auf einer inneren Haltung. Beten heißt: vor Gott sein in der Aufrichtigkeit des Herzens. Beim Beten wird das Herz rein. Rein ist nicht gleich fehlerfrei: das reine Herz wird fähig, die Liebe in ihrer Fülle aufzunehmen.

Das Gebet, wie es im 20. Kapitel der Benediktsregel beschrieben ist, ist das Gebet des „Armen“. Es ist Bittgebet, flehentliches Gebet, das seine eigene Armut kennt und sich an den wendet, der Ursprung und Quelle von allem ist. Nicht in vielen Worten ergießt sich das Gebet, sondern im Warten und im Vertrauen.

Das persönliche Gebet muss also wahr sein. Es darf daher auch kurz sein. Aber es muss in Treue vollzogen werden und immer wieder neue Hinwendung zu Gott sein.

Die Treue zum Gebet in aller Einfachheit und Schlichtheit ist Schlüssel zur Treue im monastischen Leben.

Sr. Simone Weinkopf OSB

Ihr habt erfahren, wie gütig der Herr ist.
Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geisterfüllten Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen.
Denn es heißt in der Schrift: Seht her, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre. Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an dem man sich anstößt, und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt. Sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Wort nicht gehorchen; doch dazu sind sie bestimmt.
Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.
(1 Petr 2,3-9)

Wissen Sie, was ein Eckstein ist? Wenn man durch alte Städte geht, sieht man sie an Häusern. Manche sind einfach in die Ecke eines Hauses eingemauert. Andere ragen unten an der Ecke eines Hauses in den Gehsteig hinein, und wenn man nicht aufpasst, stolpert man über sie. Sie stabilisieren aber das ganze Haus, so dass es nicht so leicht einstürzt. Jesus war und ist so ein Eckstein. Diesen Eckstein Jesus hat Gott von den Toten auferweckt und damit gütig an uns gehandelt.
Ihr habt erfahren, wie gütig der Herr ist. Konnten Sie das erfahren? Haben Sie in Ihrem Alltag kleine Auferstehungen erlebt? Haben wir erfahren, dass Er, dieser Eckstein bei uns ist, auch wenn wir ihn nicht sehen?

Zu ihm geht hin – so geht die Lesung weiter. Dieses Gehen zu ihm auf unserem je eigenen Glaubensweg, ein Leben lang, immer wieder mit neuem Anlauf, darauf kommt es an. Die geheime Triebfeder der Menschen zu diesem Gehen und unterwegs sein ist das Ergriffensein von Jesus Christus. Gehen zu ihm im Gebet, im stillen Verweilen, im Suchen seines Antlitzes in jeder Situation und Begegnung den Tag hindurch.
Zu ihm, dem lebendigen Stein. Hier werden Gegensätze verbunden. Einmal ist vom Gehen die Rede gewesen, von Dynamik, nun kommt das Bild des Steins. Jesus Christus ist lebendiges, pulsierendes Leben, Liebe, voll des lebendig machenden Geistes. Gleichzeitig das Bild des harten Felsens, der Fels in der Brandung meines Lebens, die starke Treue und ewige Wahrheit. Dieser Stein lebt nicht nur, er kann auch andere beleben. Er kann uns Christen zu ähnlichen lebendigen Steinen machen, wenn wir ihm vertrauen, wenn wir in unserem Leben auf ihn bauen. Zu lebendigen Steinen, die sich, jede und jeden in seiner Originalität, einfügen lassen in sein Haus. In diesem Haus wohnt Gottes Geist, es ist ein Haus voller Geist und Leben! Wo Leben ist, wo Beziehungen gelebt werden, gehört es dazu, dass man auch anstößt. Wo Glaube gesucht und lebendig gelebt wird, wird es unterschiedliche Meinungen geben. Wer wirklich lebendig ist, eckt auch an, wird wie Jesus auch manchmal zum Stein des Anstoßes. Es kann aber auch selbstverschuldete Trümmer und Einstürze geben. Der lebendige Eckstein hilft uns, auch unsere eigenen Trümmer neu zu ordnen. Er gibt neue Stabilität. Dann aber entsteht ein Haus aus lebendigen Steinen. Ein Haus, das Gott gefällt und in dem Menschen gerne wohnen. Ein Haus, das eine Keimzelle sein kann für Berufungen jeder Art. Ein Haus, in dem alle auf ihre Weise die großen Taten dessen verkünden, der alle Menschen aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.

Von Sr. Francesca Redelberger OSB