Vor 10 Jahren wurde Hildegard von Bingen offiziell heiliggesprochen. In dankbarer Erinnerung daran ein paar Gedanken zu ihrer Botschaft:

Die Original-Texte zur Heiligsprechung sind auf unserer Homepage hier zu finden. Wer sich für die Werke Hildegards interessiert, im Original oder mit Hinführungen und Erklärungen dazu, wird auf der Hildegard-Seite in unserem Online-Shop fündig werden.

Jede Zeit braucht ihre Propheten, heißt es – Menschen, die ansagen, was die Stunde geschlagen hat. Manchmal weisen die Propheten aber auch über ihre Zeit hinaus und haben den Menschen aller Zeiten etwas zu sagen. Benedikt von Nursia und Hildegard von Bingen waren solche Menschen. Sie können auch heute richtungweisend sein – durch ihr Wort und durch ihr Lebensbeispiel. Beide hatten den Mut, gegen den Strom zu schwimmen und die Welt prophetengleich aus wahrhaft ‚ver-rückter‘ Perspektive zu betrachten. Benedikt, der mit seiner Lebensregel die ganze abendländische Kultur geprägt und ihr die entscheidenden Werte vermittelt hat, und Hildegard von Bingen, die in ihrer Zeit im Geist benediktinischer Lebensordnung lebte und ihn in ganz eigenständiger Weise neu geprägt und weitergegeben hat.

Es lohnt sich, diesem Geist und diesen beiden Persönlichkeiten nachzuspüren.

Die Suche nach dem transzendenten DU
Hildegard von Bingen verstand sich als Prophetin. Vor allem anderen sah sie sich berufen, ihre Zeitgenossen aus dem „Schlaf der Gottvergessenheit“ wachzurütteln. In immer neuen Bildern beschreibt sie in ihren Werken, daß solche Gottvergessenheit, wie sie es nennt, ins Chaos führt – ins Chaos der individuellen menschlichen Beziehungen, aber auch zur Zerstörung des Kosmos insgesamt. Ohne Einschränkung verweist sie die Menschen auf Gott als den Schöpfer aller Dinge. Nur in Ihm kann der Mensch den wirklichen und wahren Sinn seines Lebens finden. Spüren nicht auch wir heute immer deutlicher, daß der Mensch sich selbst niemals genug sein kann und nur dann Sinn findet, wenn er über sich selbst hinausschaut?. Kein innerweltliches Glück, weder Erfolg noch Macht, weder Konsum noch Leistung vermögen ihn auf Dauer zu befriedigen – das wußte Hildegard, und das wissen im Grunde auch wir. Seine Ursehnsucht und seine Suche nach Sinn verweisen den Menschen auf das Absolute und auf das Ewige. Das ist eine Wahrheit, die zu allen Zeiten ihren Bestand hatte.

Nicht umsonst steht die Suche nach Gott für Benediktinerinnen und Benediktiner seit jeher im Mittelpunkt ihres Lebens. Auch Hildegard war und blieb immer eine Suchende und Fragende. Gott und seinen Willen suchen in allen Dingen, in den großen Vollzügen des Lebens, aber auch in den scheinbaren Banalitäten des Alltags – das war ihr Lebensprogramm. Dabei blieb sie allerdings stets nüchtern und illusionslos, fest verwurzelt im Glauben und im Vertrauen auf eine immer neue Zukunft in Gott. Die Suche nach dem Transzendenten also – wäre sie nicht auch heute im wahrsten Sinne des Wortes not-wendend für unsere Zeit? Suchen nicht auch wieder zunehmend viele Menschen nach diesem sie selbst übersteigenden Ursprung und Ziel – oft allerdings auch dabei steckenbleibend im Vorletzten? Der personale Gott läßt sich finden, wenn wir ihn suchen. Aber „machen“ können wir dies nicht – nicht durch noch so ausgefeilte Techniken, Meditationsübungen oder Kurse. Das Bild der leeren Hände und offenen Herzen, in die sich die Gnade ergießt, ist dabei keineswegs ein frommer Überbau. Es wird Realität, wenn es uns gelingt, von uns selbst weg auf den ganz Anderen zu schauen.

Ehrfurcht – ein vergessener Wert?
Hildegard verweist ihre Zeitgenossen in einem weiteren Schritt auf die Dankbarkeit. Für sie ist das Leben Geschenk, sie weiß sich verdankt und ruft dazu auf, den Irrglauben einer falschen Autonomie über Bord zu werfen. Wer sich verdankt weiß, erfährt, daß eben nicht alles machbar ist, daß vieles, ja das Wesentliche unseres Lebens, Geschenk ist und nur dankbar staunend angenommen werden kann. Wer sich verdankt weiß, der wird auch mit dem Leben, mit allem Leben, ehrfürchtig und mit Achtung umgehen. Auch hier war Hildegard ganz Benediktinerin, heißt es doch in der Regel des hl. Benedikt: „Die Brüder und Schwestern sollen einander in Ehrfurcht zuvorkommen“, und an anderer Stelle: „sie sollen alles wie heiliges Altargerät behandeln“. Alles – jeden Menschen ohne Ausnahme, jedes Tier und jede Pflanze, auch alle Dinge – in Ehrfurcht betrachten, im Wissen um die Größe und Schönheit allen Lebens und das Wunder Gottes, das uns in allem Geschaffenen begegnet. Hildegard hat gezeigt, daß dies kein Traum bleiben muß. Jeder kann bei sich selbst anfangen, kann der Wegwerfmentalität im eigenen Herzen begegnen. Und vielleicht wird mancher staunen, wie sehr sich auch durch kleine Schritte die Welt verändern kann. Wäre die Wiederentdeckung der Dankbarkeit und der Ehrfurcht nicht ein Schritt zur Wiederherstellung gesunder menschlicher Beziehungen – im Großen wie im Kleinen, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso wie im normalen Alltag?

Das Maß aller Dinge
Auf dem Weg zu einer neuen Ehrfurcht nennt Hildegard von Bingen als wichtiges Hilfsmittel die „Discretio“, die weise Maßhaltung und Unterscheidung, die Benedikt in seiner Regel einst als „Mutter aller Tugenden“ bezeichnet hat. Die Maßlosigkeit war und ist offenbar zu allen Zeiten die Versuchung schlechthin. Liegt ihr Ursprung nicht im Bestreben des Menschen, in allem autark und autonom zu sein, niemanden zu brauchen und alles selbst zu beherrschen? Doch nicht erst wir Heutigen wissen, sondern auch Hildegard wußte bereits, daß solche Art Unmäßigkeit und Maßlosigkeit im wörtlichen Sinne weitreichende Folgen haben kann. Die vielen verschiedenen Formen der Sucht in unserer Zeit – Alkohol, Tabletten-, Drogen-, aber auch Arbeits-, Freizeit-, und Spielsucht – sprechen davon eine beredte Sprache. Sie alle, das wissen wir nur zu gut, sind Fehlformen, die aus ungestillter Sehnsucht nach heilem Leben erwachsen. Ausgewogene und maßvolle Lebensführung dagegen kann solchen „Krankheiten“ vorbeugen und darüberhinaus die Grundlage für eine neue Kultur des Alltags schaffen. „Ordo“ und „Regula“, Schlüsselbegriffe benediktinischen Lebens, weisen den Weg zu einer Lebensordnung, die zu heilen vermag. Das gilt für alle Bereiche des Lebens: für Essen und Trinken, Schlafen und Wachen, Bewegung und Ruhe, Schweigen und Kommunikation, Arbeit und Muße, Einsamkeit und Gemeinschaft. Hildegard, die Zeit ihres Lebens in der Ausgewogenheit des benediktinischen „Ora et Labora“ lebte, hat eine solche im wahrsten Sinne heil-bringende Ordnung immer neu im Bild der Harmonie beschrieben. Sich einfügen in das Ordnungsgefüge der Welt, Mitschwingen in der Harmonie des Kosmos und des Lebens, darum geht es. Und um das rechte Verhältnis der Lebensvollzüge, um das, was man heute Lebenstil nennen würde. Der Mensch braucht die Anstrengung ebenso wie das Zur-Ruhe-Kommen, die Stille ebenso wie die Unterhaltung, die Hinwendung zum Mitmenschen ebenso wie die Hinwendung zu Gott. Mit dem, was manche Zeitgenossen heute als Lustprinzip bezeichnen, hat das nur wenig zu tun. Auch die vielzitierten, sogenannten „Sachzwänge“ würde Hildegard nicht gelten lassen. Denn meist genügt schon ein kleiner Schritt, um die Meßlatte für Sinn, Inhalt und Ausrichtung des alltäglichen Lebens im Sinne der „Discretio“ wieder zurechtzurücken. Allerdings braucht es dazu den konkreten Willen zur Veränderung. Die Möglichkeit der Einsicht dazu hat der Mensch durch seinen Verstand. Er ist eben nicht dem eigenen Sosein hoffnungslos ausgeliefert, sondern kann sein Leben ändern. Er ist in der Lage, in Freiheit das rechte Maß zu finden und das Gute zu tun, denn, so wußte Hildegard von Bingen schon vor 900 Jahren: „O Mensch, du hast das Wissen um das Gute und Rechte in dir selbst. Deshalb kannst du dich durch nichts entschuldigen“. Womit entschuldigen wir uns?

Die armen Reichen und die reichen Armen
Eng verbunden mit der „Discretio“ ist für Hildegard der Wert der Armut im umfassenden Sinne. Armut hat im heutigen Sprachgebrauch einen ausschließlich negativen Klang. Im benediktinischen Sinne geht es bei der Armut nicht um die Idealisierung von Not oder Mangel, sondern um ein konkretes Mehr an Leben, um ein Reicherwerden an Freiheit – im Loslassen der Dinge, die uns binden. Mehr Lebensqualität kann durchaus darin bestehen, sich zu bescheiden und die eigenen Grenzen anzuerkennen, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, großmütig und gern. Gewinn durch Verzicht – wäre das nicht auch heute ein ganz und gar alternatives Lebensmodell? Dabei muß freilich der ganze Mensch in den Blick genommen werden. Zu allen Zeiten strebten die Menschen danach, zu haben, zu besitzen, mehr zu haben und immer mehr zu besitzen – und das nicht nur in materiellem Sinne. Der Mensch kann vieles, ja nahezu alles haben wollen: Begabung, Wissen, Zeit, Ehre, Ansehen, Beruf, Erfolg, Geld, Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Schönheit, Macht, Recht, Liebe, um nur einiges zu nennen. Wer aber alles haben will, der hat am Ende nichts. Wenn Hildegard und lange vor ihr der heilige Benedikt von Armut und Demut – diesem heute so vielfach verkannten Wert – sprechen, dann geht es ihnen darum, von „Menschen des Habens“ zu „Menschen des Seins“ zu werden. In der Freiheit des Loslassen-Könnens, des Verzichts z.B. auf bestimmte Lebensmöglichkeiten, Ausdrucksformen, Ideen und Ideale liegt für sie der eigentliche, oft ungeahnte Reichtum des Lebens. Nur, wer sich selbst loslassen kann, ist auch in der Lage, sich selbst zu überschreiten – hinein in die Unendlichkeit. Ahnen wir eigentlich noch, daß es durchaus möglich sein kann, sich selbst zu verwirklichen, in dem man sich selbst zurücknimmt? Wissen wir noch – oder vielleicht wieder – , daß das Wesentliche des Lebens eben nicht darin besteht, alles zu haben und alles zu tun, was wir tun möchten und tun können? Dies alles hat nichts mit Einschränkung und Minderung zu tun, viel aber mit wahrer Freiheit und mit Verantwortung. Vielleicht brauchen wir heute eine neue Befreiung, eine Emanzipation von der Versklavung an die Selbstsucht – hinein in eine neue Freiheit in Gebundenheit und Verantwortung.

Weltgestaltung in Freiheit und Verantwortung
Die Spannungseinheit von Freiheit und Verantwortung ist vielleicht der für uns heute wichtigste Kerngedanke, den uns Hildegard von Bingen ans Herz legt. Zwar ist der Mensch frei erschaffen, aber diese Freiheit darf keineswegs mit Beliebigkeit oder gar Willkür gleichgesetzt werden. Der Mensch ist Geschöpf und von daher eingebunden in die Schöpfungsordnung. Er ist immer und von jeher Gerufener, Hörender und Antwortender zugleich. Es lohnt sich an dieser Stelle, einen Blick in die Benediktus-Regel zu werfen, aus der Hildegard gelebt und geschöpft hat. Nicht umsonst beginnt dieser auch nach 1400 Jahren noch faszinierende Text mit dem Wort „Höre!“ – „Obsculta o fili, praecepta magistri“ (Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters). Hören setzt Schweigen voraus, ebenso aber die Bereitschaft, dem Anruf in Freiheit zu antworten. Ant-wort und Ver-antwort-ung gehören dabei untrennbar zusammen. Für Hildegard wie für Benedikt ist der Mensch nicht nur „Opus“, freies Geschöpf Gottes, sondern zugleich auch „Operarius“, Mitschöpfer Gottes, der die Weltkräfte kultiviert und sie zum Wohle aller gebraucht. Der Mensch hat einen Auftrag in der Welt und an der Welt und trägt Verantwortung für sich selbst wie für die gesamte Schöpfung. Das gilt für jede und jeden, nicht nur für die Großen und Mächtigen. Hildegard betont dabei immer wieder die Wechselwirkung zwischen dem Handeln des einzelnen und den Auswirkungen dieses Handelns auf das Ganze dieser Welt. Mikro- und Makrokosmos sind wechselseitig Spiegel füreinander. Das gilt im positiven wie im negativen Sinne. Nichts geht verloren oder ist unwichtig. Kein Bemühen ist umsonst. Ist dies nicht ein tröstlicher, aber auch ein ungeheuer herausfordernder Gedanke angesichts des in unserer Zeit oft so entsetzlichen Gefühls der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an anonyme Mächte und Gewalten? Wissen wir überhaupt noch um diese einmalige Würde des Menschen, die ihn befähigt, sich selbst und die ganze Welt sinnvoll zu gestalten? Schaffen wir uns noch Raum für das Schweigen, aus dem erst das Hören geboren werden kann und in einem zweiten Schritt das zielorientierte Handeln möglich wird? Haben wir den Mut zur Veränderung: in Freiheit und Verantwortung?

Liebe und Barmherzigkeit als Heilmittel für eine kranke Welt
Ein Letztes: in Freiheit übernommene Verantwortung für sich selbst und für die ganze Welt ist für Hildegard ein schöpferischer Akt der Liebe. Es ist die liebende Antwort des Menschen auf die unendliche, ganz und gar ungeschuldete, immer schon dagewesene Liebe Gottes zum Menschen. Die Liebe bewegt die ganze Welt, sie sitzt genau in der Mitte der Achse und entscheidet darüber, ob die Welt im Lot bleibt oder aus den Fugen gerät. Das zeigt einmal mehr, daß Liebe im eigentlichen Sinn nicht erstlich eine Sache des Gefühls ist. Hildegard, wie nach ihr der große Thomas von Aquin, versteht die Liebe als eine vernünftige, geordnete, bewußt gewollte und weise Lebenskraft, die schöpferisch wirkt und alles zusammenhält. Daß solche Liebe auch Mühe kostet und Kraft, ja sogar Leiden schaffen kann, ist selbstverständlich. Die Liebe ist für Hildegard „brennende Vernunft“, „rationalitas“, in der Gottes Geist selbst west und immer neu – oft unter Schmerzen – Leben schafft. Liebe hat also mit Vernunft zu tun. Sie muß gewollt sein und erstrebt werden. Wäre nicht auch das für uns heute ein geradezu revolutionärer Gedanke? Wissen wir überhaupt noch um eine solche vernünftige, auch kämpferische Liebe – oder baden wir nur noch in der unverbindlichen Gefühligkeit dessen, was moderne Zeitgenossen uns als wahre Liebe verkaufen wollen? Die Liebe beweist sich in der Standhaftigkeit und Treue und ist deswegen keineswegs immer der leichtere, wohl aber der wahrhaftigere Weg.

Gilt die Liebe allen Menschen – und das wäre das Ziel -, so erweist sie sich vor allem in der Barmherzigkeit, die einer für den anderen aufzubringen bereit ist. Für Hildegard – und auch hier steht sie ganz in der Tradition des hl. Benedikt – ist solche Barmherzigkeit die „magna medicina“, die Medizin für Leib und Seele schlechthin. Wer barmherzig sein kann mit sich und vor allem mit anderen, der weiß um seine eigene Begrenztheit und Schwäche, besitzt aber gleichermaßen eine Ahung dessen, wie Gott sich den Menschen und seine ganze Schöpfung ursprünglich gedacht hat. Er kann Fehler nachsehen, strahlt Güte aus und vor allem Geduld. Uns Heutigen sind solche Haltungen vielfach abhanden gekommen, obwohl wir uns im Grunde unseres Herzens so sehr danach sehnen. Besinnung tut da not, aber auch Neuanfang in kleinen Schritten. Wie befreiend und tröstlich kann es sein, wenn wir Menschen begegnen, die etwas ausstrahlen von dem, was im wahrsten Sinne des Wortes Heil und Leben spendet. Benedikt von Nursia und Hildegard von Bingen waren solche Menschen. Doch auch heute können wir Menschen dieser Art begegnen oder danach streben, solche zu werden. Wir sollten sie nicht vorschnell als weltfremde Utopisten und Träumer abtun. Denn sind sie es nicht eigentlich, die uns hoffen lassen? Hoffen, daß es sich lohnt, zu werden, was wir sind: Menschen?

Sr. Philippa Rath OSB

Im allgemeinen wird die Vita des heiligen Benedikt von vielen immer noch eher ein wenig belächelt und als erbauliche, legendenumrangte Literatur verlegen bei Seite gelegt. Die Benediktusregel allein sei es, so hört man oft, die das benediktinische Leben begleitet, ihm Fundament und Form gibt und die dem Leser, so Gott will, irgendwann auch zum Buch seines eigenen Lebens wird. Die Lebensbeschreibung des hl. Benedikt aus der Feder Papst Gregors des Großen dagegen führt eher ein Schattendasein – und das zu Unrecht, denn sie ein Buch voller Kraft und voller Weisheit. Sie enthält ähnlich wie die Regel des hl. Benedikt, aber in literarisch ganz anderer Form, gelebte Wahrheit und schildert uns das Leben des hl. Benedikt als ein exemplarisches spirituelles Leben. Die Geschichten, die die Vita erzählt, sind wie Ikonen, die das Antlitz des Ordensvaters und im Tiefsten auch das Antlitz Christi und des Vatergottes aufstrahlen lassen. Deshalb kann die meditierende Lektüre der Vita Benedicti zu einem vertieften Verständnis des Glaubens und des benediktinischen Lebens führen. Der Anlass zur Abfassung der Dialoge

Das zweite Buch der Dialoge Gregors des Großen

Wie kaum ein anderes Werk hat das zweite Buch der Dialoge („Dialogorum Libri quattuor de miraculis Patrum Italicorum“) Papst Gregors des Großen (540 – 604), das die Lebensbeschreibung des hl. Benedikt enthält, die Spiritualität des benediktinischen Mönchtums durch die Jahrhunderte geprägt. Dieses Buch gehörte zu den weitest verbreiteten und meist übersetzten Büchern in den Klöstern unseres Ordens und darf deshalb in seiner Bedeutung für die Tradition, aber auch für uns heute, nicht unterschätzt werden. Die Vita Benedicti ist bis heute die einzige Quelle über Leben und Wirken unseres Mönchsvaters. Es gibt keine zeitgenössischen Zeugnisse über das Leben Benedikts.

Das benediktinische Mönchtum hat seine Formung vor allem durch die Benediktusregel gefunden. Die Person des hl. Benedikt trat und tritt immer hinter seinem Werk, d.h. hinter seiner Regel, zurück. Doch schon Papst Gregor wusste zu berichten: “Wer sein [Benedikts] Wesen und sein Leben genauer kennen lernen will, kann in den Weisungen seiner Regel alles finden, was er als Meister vorgelebt hat: denn der heilige Mann konnte gar nicht anders lehren, als er lebte.“ (Vita 36). In diesen letzten Worten leuchtet für mich das auf, was das eigentliche Geheimnis dieser Vita Benedicti und damit auch des hl. Benedikt selbst ausmacht: Leben und Lehre sind zu einer untrennbaren Einheit geworden. Von uns, den Nachfolgenden, wird nicht mehr und nichts anderes erwartet, als unser Vater Benedikt selbst vorgelebt hat. „Der Abt“, so heißt es im 2. Kapitel der Regula (2, 12), „zeige mehr durch sein Beispiel als durch Worte, was gut und heilig ist“. Und wer von uns wüsste nicht, dass das gelebte Beispiel weit mehr überzeugt als jedes noch so gut gemeinte Wort.

Gregor der Große verfasste die Vita Benedicti in den Jahren 593 und 594, also fast 50 Jahre nach dem Tod des hl. Benedikt (ca. 548). Äußerer Anlass war die Bitte zahlreicher Kleriker und Mönche, Beispiele heiligmäßigen Lebens in Italien niederzuschreiben, um die Menschen zu erbauen und im Glauben zu stärken. Im Vordergrund stand also zunächst ein durchaus pastorales und auch spirituelles Anliegen. Betrachtet man allerdings das Vorwort Gregors zu seinen „Vier Büchern der Dialoge“, so wird deutlich, dass auch ein sehr persönliches Interesse hinter diesem Buch stand. Gregor, ursprünglich selbst Mönch im Andreaskloster in Rom, war bereits nach wenigen Klosterjahren Abgesandter des Papstes in Konstantinopel geworden und wurde dann 590 selbst zum Papst gewählt. Die Bürde des Amtes lastete schwer auf ihm – die Verflochtenheit in weltliche Aufgaben ließ ihn in wachsendem Maße hin- und hergerissen sein zwischen den Pflichten seines Papstamtes und der Sehnsucht nach einem kontemplativen, geistlichen Leben im Kloster.

Als Heilmittel gegen seine eigene innere Unruhe setzt Gregor nun die Erinnerung an Beispiele gelungenen, integrierten, ganzen und heilen Lebens. In der Gestalt des hl. Benedikt findet er ein solches Beispiel. In der Erinnerung an ihn gelingt es ihm, die kontemplative Dimension in seinem eigenen Leben zu bewahren und einen neuen Anfang zu setzen. Insofern hat die Niederschrift der Lebensbeschreibung des hl. Benedikt für Papst Gregor neben der pastoralen auch eine „therapeutische“ Funktion. In den Lebensgeschichten der Väter erfährt er Ansporn, Trost und Stärkung und findet das, was er sich tief in seinem Herzen für sein eigenes Leben wünscht: „Viele von ihnen lebten im Verborgenen in Einklang mit dem Schöpfer“ (Prolog der Vita). Papst Gregor versteht seinen Bericht über das Leben Benedikts also nicht erstlich als Geschichtsschreibung, sondern als Schilderung eines exemplarischen spirituellen Lebens. Am Leben des hl. Benedikt will er darlegen, wie der christliche Weg der Verwandlung in das Bild Jesu Christi gelingen kann und welche Stufen auf dem Weg wachsender Gotteserfahrung zu durchschreiten sind.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Vita Benedicti nicht einen wahren und zuverlässigen historischen Kern hat. Papst Gregor lagen Erzählungen und Erzähltraditionen, wie z.B. die vom stehenden Sterben des hl. Benedikt, vor. Solche Erzählfragmente verknüpfte er dann auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Topoi (d.h. Erzähl- und Denkfiguren) aus der altkirchlichen Hagiographie. Dabei spielen die beiden großen Modellviten des alten Mönchtums – die Vita Antonii des Athanasius und die Vita Martini des Sulpicius Severus – eine ganz besondere Rolle. Auf diese Weise entstand ein Bild des Menschen Benedikt, der glaubwürdig und konsequent als Christ und als Mönch lebte. In zweiter Linie dann folgte die Intention einer Darstellung des monastischen Ideals, des Bildes eines vollkommenen Abtes und des vollkommenen Jüngers des Herrn. Wichtig ist dabei der untrennbare Zusammenhang mit der Hl. Schrift und der absolute Vorrang des Wortes Gottes. „Wenn die Mönchsregeln nichts anderes sein wollen als die Einschlagstelle der Hl. Schrift im konkreten Leben der Gemeinschaft, dann zeigen die Mönchsviten diese Einschlagstelle der Hl. Schrift im konkreten Leben eines einzelnen.“ (Einleitung zur Vita, hrsg. von der Salzburger Äbtekonferenz, S.34)

Die literarische Gestalt und Form der Vita Benedicti

Ein Blick auf die literarische Gestalt der Vita zeigt, dass das Leben des hl. Benedikt in einer Art fiktivem Wechselgespräch zwischen dem Verfasser Gregor und seinem Diakon Petrus dargestellt. Näherhin ist diese Form des Dialogs eigentlich die aus den Väterunterweisungen der Wüste bekannte Form der Fragen und Antworten. Der Diakon Petrus gibt sozusagen die Stichworte, damit die Erzählung weitergeht, oder stellt eine Frage, die es dem Erzähler ermöglicht, die Handlung fortzuschreiben oder auch einen kleinen homiletischen Exkurs über ein konkretes Thema einzuschieben (insgesamt 10 solcher Einschübe z.B. 35,5-7 gibt es)

Vir Dei Benedictus

Betrachten wir zunächst die Bezeichnung Benedikts als „Vir Dei Benedictus“. Schon diese Namensgebung weist auf die besondere Stellung des gesegneten Gottesmannes hin. Bedeutende Gestalten der Patriarchen- und Prophetenzeit führten als Ehrenbezeichnung den Titel „Mann Gottes“: Moses (Dt 33,1), Samuel (1 Sam 9,6), David (2 Chr 8,14), Elja und Elischa (1 Kön 17,18 und 3 Kön 19,16). Was zeichnet einen Vir Dei, einen Mann Gottes aus? Er ist zunächst und vor allem Zeuge für Gottes Heilshandeln in der Geschichte und an uns Menschen. Er lebt selbst ganz aus und in Gott, und versucht, allein Gottes Willen zu verwirklichen. Sodann ist er Prophet, d.h. gesandt, das Heil Gottes in eine bestimmte Situation hinein zu verkünden. Und schließlich steht der Vir Dei in der Nachfolge der Apostel, weniger um missionarisch tätig zu sein – dies kann eher eine indirekte Frucht sein – als vielmehr in dem Anspruch, die gleiche Vollkommenheit zu erreichen, wie diejenigen, die ganz in der Nähe des Herrn lebten.

Schließlich der Name „Benedictus“ in seiner doppelten Bedeutung: der von Gott Gesegnete, der selbst ein Segen für viele wird. Hier ist der Anklang an Abraham deutlich und sicher auch bewusst gewählt: „Du sollst ein Segen sein…“ . Schon für den Verfasser der Vita war der hl. Benedikt ein Gesegneter im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich denke, er ist es geblieben – durch inzwischen fast 1500 Jahre hindurch und auch für uns.

Grundthemen der Vita Benedicti

Wie oben schon gesagt, berichtet Papst Gregor im 36. Kapitel der Vita von der Niederschrift einer „Regel für Mönche“ und von dem untrennbaren Zusammenhang dieser Regel mit dem Leben des hl. Benedikt. Folgerichtig greift die Vita an vielen Stellen in der Form von Geschichten und Episoden aus dem Leben des Heiligen immer wieder die Grundthemen der Regel auf: den Vorrang des Gebetes als dem Zentrum des monastischen Lebens (Dialoge II 4,1-3 – RB 43,8-9), die Beständigkeit (Dialoge II, 25 – RB 4,78; 58,9; 61,5), der Gehorsam (Dialoge II, 7,1-3 – RB 5,1), der Eigenbesitz (Dialoge 19,2 – RB 33,1) und schließlich auch das weite Herz (Dialoge II 35,7 – RB, Prol 49).

Die Wunder

Entscheidender Bestandteil altkirchlicher Vitenliteratur sind die Wunderberichte – so auch in der Vita Benedicti. Gerade diese Wundergeschichten haben viele an der Seriösität der Vita zweifeln lassen. Doch gilt auch hier: wir müssen tiefer sehen und den Kern dieser Wunderberichte verstehen lernen. Die Wunder, so fasst Gregor selbst den Sinn dieser Berichte zusammen, sind das „bonae vitae testimonium“ (Dialoge I,12,6) das Zeugnis eines gottgefälligen Lebens. Sie stellen die Heiligen in eine Reihe mit den Aposteln und Propheten. Viele der geschilderten Wunder Benedikts sind übrigens Früchte einer Art monastischen Pädagogik und insofern Anschauungsmaterial für unser tägliches klösterliches Leben (Dialoge II, 9: Der Stein in der Mitte; Dialoge II,10: Das Scheinfeuer in der Küche). Meist ist es das Gebet des hl. Mönchsvaters, das das Wunder bewirkt – und dies kann uns helfen, an die heilende und verwandelnde Kraft des Gebetes zu glauben.

Gefährdungen und Versuchungen

Ein Grundthema der Nachfolge sind die Gefährdungen und Versuchungen, ist der Kampf mit dem alten Feind, wie es die Mönchsväter nennen. Kein Leben in der Nachfolge kann ohne Anfechtungen bleiben, das weiß jeder von uns aus eigener Erfahrung. Evagrius Pontikus und in seiner Tradition Johannes Cassian sprachen von den logismoi, den Gedanken, die vom Weg und vom Eigentlichen abbringen und die es immer neu zu bekämpfen gilt. Diese konkretisieren sich in der Vita in verschiedenen Begegnungen des hl. Benedikt mit dem alten Feind und finden ihren Höhepunkt schließlich in dem Wort: „Der Ort änderte sich, nicht aber der Feind“ (Dialoge II, 8,10). In heutige Sprache übersetzt würden wir sagen: so oft wir den Ort auch wechseln, wir nehmen uns immer mit …

Begleiter auf dem Weg

Ein wichtiges Thema der Vita Benedicti sind auch die begleitenden Gestalten auf dem Weg. Der hl. Mönchsvater war keine einsame Gestalt, sondern traf und fand von Anfang an Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiteten: den Mönch Romanus, der ihm das Gewand des klösterlichen Lebens gab und ihn in der Höhle mit Brot speiste (Dialoge II, 1,4); der Osterbote, der mit seinem Besuch in der Höhle eine Wende in das eremitische Leben Benedikts bringt und ihn auf die kirchliche und gemeindliche Dimension des mönchischen Lebens hinweist (Dialoge II, 1,7); der Mönch Theoprobus, mit dem Benedikt seine prophetische Schau der Zerstörung Montecassinos teilt und vor dem der Heilige nicht einmal seine Tränen verbirgt (Dialoge II, 17); seine Schwester Scholastica, von der uns Gregor berichtet, dass sie mehr vermochte, weil sie mehr liebte (Dialoge II, 33,5); schließlich der Diakon Servandus, mit dem Benedikt auf dem Höhepunkt seines geistlichen Lebens seine große kosmische Vision und die überwältigende Erfahrung des göttlichen Lichtes teilt (Dialoge II, 35,4). Alle diese Wegbegleiter stehen als Symbol für die Wirklichkeit brüderlich-schwesterlicher Gemeinschaft und können Mut machen, unseren je persönlichen Weg nicht alleine zu gehen, sondern im vertrauensvollen Austausch mit anderen an unserer Seite.

Geistliches Leben als Weg

Als letztes, aber keineswegs als letztrangiges Grundmotiv der Vita des hl. Benedikt ist der Weg zu nennen. Geistliches Leben, Leben überhaupt ist ein Weg, den wir gehen und den wir geführt werden. Dem Weg Benedikts geht ein Neuanfang voraus, nämlich seine Bekehrung zum Mönchtum. In diesem Sinne kann der hl. Benedikt ein guter Wegbegleiter sein, denn er war ganz ein Mann des Anfangs.

Benedikt verlässt seine Heimatstadt Rom und er verlässt seine Familie. Er verlässt sein Vaterhaus und seinen Besitz. Er verlässt die Welt und kurz darauf auch seine geliebte Amme. Er findet Aufnahme in einer Gemeinschaft von Männern, die ein asketisches Leben führen, und verlässt die Gemeinschaft von Effide schon bald, um neu zu beginnen in radikaler Einsamkeit. Seine Wüste wird nun „eine ganz enge Höhle“ (Dialoge II 1,4) und er beginnt den Weg zurück zu sich selbst – „reditus in semetipsum“, wie die Väter diesen ersten Schritt auf dem Weg der Gotteserfahrung nennen. Auch später, nach dem Scheitern in Vicovaro wird Benedikt noch einmal an „die Stätte der geliebten Einsamkeit zurück-kehren“ (Dialoge II, 3,5) um dort ganz in der Gegenwart Gottes, was Papst Gregor mit dem berühmten Wort vom „habitare secum“ (Dialoge II, 3,5) beschreibt, zu leben.

In einem weiteren Schritt verlässt Benedikt die Höhle und begibt sich „auf die Erde“ in Subiaco. Er fängt neu an, sammelt die ersten Schüler um sich und gründet 12 Klöster. Die Grundzüge zönobitischen, d.h. gemeinschaftlichen Lebens bilden sich heraus. Der Neid eines feindlichen Priesters veranlasst Benedikt schließlich noch einmal zu einem Ortswechsel und Neuanfang. Der Montecassino symbolisiert nun die letzte Station seines Lebens und wird zum Ort seiner geistlichen Vollendung. Wie sehr der Berg der eigentliche Ort der Gottesbegegnung ist, sagt uns die Hl. Schrift an vielen Stellen, angefangen vom Berg Horeb über den Berg Tabor bis hin zum Ölberg. Auf dem Montecassino wird der hl. Benedikt zum eigentlichen Vir Dei, zum guten Hirten und zum geistlichen Vater seiner Mönche. Hier beginnt er mit der Niederschrift seiner Regel und hier vollendet sich auch sein Leben.

Noch einmal führt Papst Gregor den hl. Benedikt weiter hinauf – an die höchste Stelle, auf den Turm, den nichts mehr zu überragen vermag. In einer nächtlichen Vision erfährt er nun den eigentlichen geistlichen Höhepunkt seines Lebens. Er ist zur Vollendung gelangt und darf bereits das jenseitige Licht der Transzendenz schauen. Ähnlich wie Augustinus einst mit seiner Mutter Monika kurz vor deren Tod am Fenster in Ostia stand (Confessiones IX, 23), so erlebt Benedikt hier bereits seinen Hinübergang in das ewige Licht. Es ist seine Ostererfahrung schlechthin, die ihre liturgische Parallele im Exsultet der Osternacht findet, die mit nahezu denselben Worten das Licht der Auferstehung inmitten der Nacht preist. In diesem Licht darf Benedikt wie einst Moses auf dem Berg Nebo (Deut 34,1-5) das gelobte Land in seiner Ganzheit und in seiner vollen Schönheit schauen. Benedikts Tod ist dann nur noch ein Hinübergang, ein transitus im eigentlichen Sinne. Ein letztes Mal nimmt Papst Gregor hier an dieser Stelle das Wegmotiv des geistlichen Aufstiegs in den Blick. Auf unnachahmliche Weise verwendet er eine Terminologie, die an die Himmelfahrtsperikope erinnert: „Haec est via, qua dilectus Domino caelum Benedictus ascendit“ – Dies ist der Weg, auf dem Benedikt, den der Herr liebt, zum Himmel emporstieg“ (Dialoge 37, 3).

Sr. Philippa Rath OSB

BENEDIKT XVI.
GENERALAUDIENZ Mittwoch, 9. April 2008

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über den hl. Benedikt, den Begründer des abendländischen Mönchtums und Schutzpatron meines Pontifikats, sprechen. Ich beginne mit einem Wort des hl. Gregor des Großen, der über den hl. Benedikt schreibt: »Nicht nur die zahlreichen Wunder des Gottesmannes wurden in der Welt berühmt, sondern auch das Wort seiner Lehre strahlte hell auf« (II Dial., 36). Diese Worte schrieb der große Papst im Jahr 592; der heilige Mönch war kaum fünfzig Jahre zuvor gestorben und noch in der Erinnerung der Menschen und vor allem in dem von ihm gegründeten blühenden Orden lebendig. Der hl. Benedikt von Nursia hat durch sein Leben und Werk einen grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Zivilisation und Kultur ausgeübt. Die wichtigste Quelle über sein Leben ist das zweite Buch der Dialoge des hl. Gregor des Großen. Es handelt sich nicht um eine Biographie im klassischen Sinn. Entsprechend den Vorstellungen seiner Zeit wollte er anhand des Vorbilds eines konkreten Menschen – eben des hl. Benedikt – den Aufstieg zu den Gipfeln der Kontemplation veranschaulichen, der von jedem, der sich Gott hingibt, verwirklicht werden kann. Er bietet uns also ein Modell des menschlichen Lebens als Aufstieg zum Höhepunkt der Vollkommenheit. Der hl. Gregor der Große berichtet in diesem Buch der Dialoge auch von vielen Wundern, die der Heilige vollbracht hat, und auch hier will er nicht einfach etwas Sonderbares erzählen, sondern zeigen, wie Gott mahnend, helfend und auch strafend in die konkreten Lebenssituationen des Menschen eingreift. Er will zeigen, dass Gott nicht eine ferne, an den Ursprung der Welt gestellte Hypothese ist, sondern im Leben des Menschen, eines jeden Menschen, gegenwärtig ist.

Diese Sichtweise des »Biographen« erklärt sich auch im Licht des allgemeinen Kontextes seiner Zeit: An der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert wurde die Welt von einer schrecklichen Krise der Werte und Institutionen erschüttert, die durch den Zusammenbruch des Römischen Reiches, das Eindringen der neuen Völker und den Verfall der Sitten verursacht worden war. Mit der Vorstellung des hl. Benedikt als »leuchtenden Stern« wollte Gregor in dieser furchtbaren Situation gerade hier in dieser Stadt Rom den Ausweg aus der »dunklen Nacht der Geschichte« zeigen (vgl. Johannes Paul II., Insegnamenti, II/1, 1979, S. 1158). In der Tat erwiesen sich das Werk des Heiligen und in besonderer Weise seine »Regel« als Überbringer eines echten geistlichen Sauerteigs, der im Lauf der Jahrhunderte weit über die Grenzen seiner Heimat und seiner Zeit hinaus das Antlitz Europas veränderte, indem er nach dem Zerfall der politischen Einheit, die durch das Römische Reich geschaffen worden war, eine neue geistliche und kulturelle Einheit hervorbrachte, nämlich jene des christlichen Glaubens, den die Völker des Kontinents teilten. Gerade so entstand die Wirklichkeit, die wir »Europa« nennen.

Die Geburt des hl. Benedikt wird um das Jahr 480 datiert. Er stammte, so sagt der hl. Gregor, »ex provincia Nursiae« – aus der Gegend von Nursia. Seine wohlhabenden Eltern schickten ihn für seine Ausbildung zum Studium nach Rom. Er blieb jedoch nicht lange in der Ewigen Stadt. Als durchaus glaubwürdige Erklärung dafür deutet Gregor die Tatsache an, daß der junge Benedikt vom Lebensstil vieler seiner Studiengefährten, die ein ausschweifendes Leben führten, angewidert war und nicht in dieselben Fehler wie sie verfallen wollte. Er wollte allein Gott gefallen, »soli Deo placere desiderans« (II Dial., Prol. 1). So verließ Benedikt noch vor Abschluss seiner Studien Rom und zog sich in die Einsamkeit der Berge östlich von Rom zurück. Nach einem ersten Aufenthalt in dem Dorf Enfide (heute: Affile), wo er sich für eine gewisse Zeit einer »religiösen Gemeinschaft« von Mönchen anschloss, wurde er Einsiedler im nicht weit entfernten Subiaco. Dort lebte er drei Jahre lang völlig einsam in einer Grotte, die seit dem frühen Mittelalter das »Herz« eines Benediktinerklosters bildet, das »Sacro Speco« (Heilige Höhle) genannt wird. Die Zeit in Subiaco, eine Zeit der Einsamkeit mit Gott, war für Benedikt eine Zeit der Reifung. Hier musste er die drei Grundversuchungen jedes Menschen ertragen und überwinden: die Versuchung der Selbstbehauptung und des Wunsches, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, die Versuchung der Sinnlichkeit und schließlich die Versuchung des Zornes und der Rache. Es war nämlich Benedikts Überzeugung, dass er erst nach Überwindung dieser Versuchungen den anderen ein für ihre Notsituationen nützliches Wort würde sagen können. So war er, nachdem er seine Seele befriedet hatte, imstande, die Triebe des Ich gänzlich zu beherrschen, um so ein Friedensstifter in seiner Umgebung zu sein. Erst dann beschloss er, seine ersten Klöster im Tal des Anio in der Nähe von Subiaco zu gründen.

Im Jahr 529 verließ Benedikt Subiaco, um sich in Montecassino niederzulassen. Manche haben diese Übersiedlung als eine Flucht vor den Intrigen eines neidischen örtlichen Kirchenmannes erklärt. Doch dieser Erklärungsversuch hat sich als wenig überzeugend erwiesen, da der plötzliche Tod jenes Mannes Benedikt nicht zur Rückkehr veranlasst hat (vgl. II Dial. 8). In Wirklichkeit drängte sich ihm diese Entscheidung auf, weil er in eine neue Phase seiner inneren Reifung und seiner monastischen Erfahrung eingetreten war. Nach Gregor dem Großen nimmt der Auszug aus dem abgelegenen Tal des Anio zum Monte Cassio – einer Anhöhe, die die ausgedehnte umliegende Ebene beherrscht und von weitem sichtbar ist – einen symbolischen Charakter an: Das monastische Leben in der Verborgenheit hat seine Daseinsberechtigung, aber ein Kloster hat auch seinen öffentlichen Zweck im Leben der Kirche und der Gesellschaft, es muss dem Glauben als Lebenskraft Sichtbarkeit verleihen. Als Benedikt am 21. März 547 sein irdisches Leben abschloss, hinterließ er tatsächlich mit seiner »Regel« und mit der von ihm gegründeten benediktinischen Familie ein Erbe, das in den vergangenen Jahrhunderten in der ganzen Welt Früchte getragen hat und noch immer trägt.

Im gesamten zweiten Buch der Dialoge erläutert Gregor, wie das Leben des hl. Benedikt in eine Atmosphäre des Gebets eingesenkt war, das tragende Fundament seines Daseins. Ohne Gebet gibt es keine Gotteserfahrung. Die Spiritualität Benedikts war aber keine Innerlichkeit außerhalb der Wirklichkeit. In der Unruhe und Verwirrung seiner Zeit lebte er unter dem Blick Gottes und verlor gerade so nie die Pflichten des täglichen Lebens und den Menschen mit seinen konkreten Bedürfnissen aus den Augen. Indem er Gott sah, verstand er die Wirklichkeit des Menschen und seine Sendung. In seiner »Regel« bezeichnet er das monastische Leben als »eine Schule für den Dienst des Herrn« (Prol. 45) und verlangt von seinen Mönchen, dass »dem Gottesdienst [d. h. dem Officium Divinum bzw. dem Stundengebet] nichts vorgezogen werden soll« (43,3). Er hebt jedoch hervor, dass das Gebet in erster Linie ein Akt des Hörens ist (Prol. 9–11), der dann in konkretes Handeln umgesetzt werden muss. »Nach all diesen Worten erwartet der Herr, dass wir jeden Tag auf seine göttlichen Mahnungen mit unserem Tun antworten«, sagt er (Prol. 35). So wird das Leben des Mönchs zu einer fruchtbaren Symbiose zwischen Aktion und Kontemplation, »damit in allem Gott verherrlicht werde« (57,9). Im Gegensatz zu einer heute oft gepriesenen leichten und ichbezogenen Selbstverwirklichung ist die erste und unverzichtbare Pflicht des Schülers des hl. Benedikt die aufrichtige Suche nach Gott (58,7) auf dem vom demütigen und gehorsamen Christus vorgezeichneten Weg (5,13), dessen Liebe er nichts vorziehen darf (4,21; 72,11), und gerade auf diese Weise, im Dienst am anderen, wird er ein Mann des Dienstes und des Friedens. In der Ausübung des Gehorsams, der mit einem von der Liebe beseelten Glauben in die Tat umgesetzt wird (5,2), gewinnt der Mönch die Demut (5,1), der die »Regel« ein ganzes Kapitel widmet (7). Auf diese Weise wird der Mensch immer mehr Christus ähnlich und gelangt zur wahren Selbstverwirklichung als Geschöpf nach dem Bild und Gleichnis Gottes.

Dem Gehorsam des Jüngers muss die Weisheit des Abtes entsprechen, der im Kloster »die Stelle Christi« vertritt (2,2; 63,13). Seine Gestalt, die vor allem im zweiten Kapitel der »Regel« mit einem Profil von geistlicher Schönheit und anspruchsvollem Einsatz umrissen wird, kann als ein Selbstbildnis Benedikts betrachtet werden, da – wie Gregor der Große schreibt – »der heilige Mann gar nicht anders lehren konnte, als er lebte« (II Dial. 36). Der Abt muss gleichzeitig ein liebevoller Vater und ein strenger Meister sein (2,24), ein wahrer Erzieher. Unbeugsam gegenüber den Lastern ist er jedoch dazu berufen, vor allem die Liebe und Güte des Guten Hirten nachzuahmen (27,8), »mehr zu helfen als zu herrschen« (64,8), »alles Gute und Heilige mehr durch sein Leben als durch sein Reden sichtbar zu machen« und »die Weisungen Gottes durch sein Beispiel zu veranschaulichen« (2,12). Um verantwortlich entscheiden zu können, muss auch der Abt ein Mann sein, der »auf den Rat der Brüder hört« (3,2), »weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist« (3,3). Diese Anordnung macht eine vor fast fünfzehn Jahrhunderten geschriebene »Regel« überraschend modern! Ein Mensch mit öffentlicher Verantwortung, auch in kleinen Bereichen, muss immer auch ein Mensch sein, der hinzuhören weiß und aus dem, was er hört, zu lernen vermag.

Benedikt bezeichnet die »Regel« als eine »einfache Regel als Anfang« (73,8); in Wirklichkeit bietet sie jedoch nützliche Anweisungen nicht nur für die Mönche, sondern auch für all jene, die auf ihrem Weg zu Gott eine Anleitung suchen. Durch ihr Maß, ihre Menschlichkeit und ihre nüchterne Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Zweitrangigen im geistlichen Leben konnte sie ihre erhellende Kraft bis heute aufrechterhalten. Als Paul VI. am 24. Oktober 1964 den hl. Benedikt zum Patron Europas erklärte, wollte er damit das wunderbare Werk anerkennen, das von dem Heiligen durch die »Regel« für die Formung der Zivilisation und der europäischen Kultur vollbracht worden ist. Heute ist Europa – das gerade aus einem Jahrhundert gekommen ist, das von zwei Weltkriegen tief verletzt worden ist, und nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien, die sich als tragische Utopien erwiesen haben – auf der Suche nach seiner Identität. Um eine neue und dauerhafte Einheit zu schaffen, sind die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Instrumente sicher wichtig, aber es ist auch notwendig, eine ethische und geistliche Erneuerung zu erwecken, die aus den christlichen Wurzeln des Kontinents schöpft; andernfalls kann man Europa nicht wieder aufbauen. Ohne diesen Lebenssaft bleibt der Mensch der Gefahr ausgesetzt, der alten Versuchung zu erliegen, sich selbst erlösen zu wollen – eine Utopie, die auf verschiedene Weise im Europa des 20. Jahrhunderts, wie Papst Johannes Paul II. festgestellt hat, »einen Rückschritt ohnegleichen in der gequälten Geschichte der Menschheit« verursacht hat (Insegnamenti, XIII/1, 1990, S. 58). Hören wir auf der Suche nach dem wahren Fortschritt auch heute die »Regel« des hl. Benedikt als ein Licht für unseren Weg. Der große Mönch bleibt ein wahrer Lehrmeister, in dessen Schule wir die Kunst lernen können, den wahren Humanismus zu leben. ________________________________________

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Die Regel des heiligen Benedikt (verfasst um 540 in dem von ihm gegründeten Kloster Montecassino) ist nach der Heiligen Schrift für uns Nonnen und Mönche bis heute das wichtigste Buch (übrigens ist es nach der Bibel auch das weitverbreitetste Buch in der ganzen Welt überhaupt). Aus ihr schöpfen wir die Quellen unseres klösterlich-monastischen Lebens, aus ihr leben wir als einzelne und als Gemeinschaft. Wir möchten Ihnen den spirituellen Reichtum dieses Werkes nicht vorenthalten, sondern Sie ermuntern, sich darin zu vertiefen und Wege gelebten Glaubens zu entdecken. Wer sich über die Lektüre hinaus mit der Benediktusregel beschäftigen möchte, dem empfehlen wir den jüngst erschienenen Kommentar zur Benediktusregel, herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Eos-Verlag, St.Ottilien 2002).

Prolog

Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat! So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast. Weiterlesen

Prologus

Obsculta, o fili, praecepta magistri, et inclina aurem cordis tui, et admonitionem pii patris libenter excipe et efficaciter comple,
ut ad eum per oboedientiae laborem redeas, a quo per inoboedientiae desidiam recesseras.
Ad te ergo nunc mihi sermo dirigitur, quisquis abrenuntians propriis voluntatibus, Domino Christo vero regi militaturus, oboedientiae fortissima atque praeclara arma sumis.
In primis, ut quicquid agendum inchoas bonum, ab eo perfici instantissima oratione deposcas,
ut qui nos iam in filiorum dignatus est numero computare non debet aliquando de malis actibus nostris contristari.
Ita enim ei omni tempore de bonis suis in nobis parendum est ut non solum iratus pater suos non aliquando filios exheredet,
sed nec, ut metuendus dominus irritatus a malis nostris, ut nequissimos servos perpetuam tradat ad poenam qui eum sequi noluerint ad gloriam. Weiterlesen


Die Benediktsregel ist für uns Benediktinerinnen und Benediktiner kein „toter Buchstabe“, sondern ein im wahrsten Sinne des Wortes täglich gelesenes Buch des konkreten und alltäglichen Lebens. In allen Klöstern – so auch bei uns – wird von jeher täglich ein Abschnitt aus der Regel bei Tisch laut von der Tischleserin vorgelesen. Deshalb wurde der Regeltext schon früh in einzelne Tagesabschnitte eingeteilt.
Die 72 Kapitel wurden dabei so gegliedert, dass die ganze Regel pro Jahr dreimal gelesen wird – jeweils beginnend mit dem 1. Januar, dem 2. Mai und dem 1. September. Jeder Mönch und jede Nonne hört den Text also viele Male und immer wieder in seinem/ihren Leben, so dass er uns im Laufe der Jahre inwendig vertraut ist und die meisten von uns ihn auch auswendig im Kopf und im Herzen haben. Vielleicht möchten sich manche von Ihnen unserer täglichen Lektüre anschließen. Deshalb bieten wir Ihnen hier neben der „normalen“ Regel-Ausgabe auch die Ausgabe an, die nach der Tageslesung geordnet ist. Wir wünschen Ihnen ein aufmerksames und hörendes Herz – Sie werden sehen, welcher Reichtum an geistlicher Erfahrung und menschlicher Weisheit in diesem Text verborgen ist.

Januar

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Mai

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September

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November

Dezember

 

 

 

 

           

       

Ein persönlicher Weg zum Kennen- und Leben-Lernen der Benediktusregel

Ich möchte Ihnen hier von einem persönlichen Weg berichten, der für mein geistliches Leben prägend geworden ist. Ich tue es gern, denn ich wünsche mir nichts mehr, als dass möglichst viele Geschmack an diesem Weg finden, ihn als Möglichkeit entdecken, unsere Regel kennen-, lieben- und leben-zu lernen. Es ist der Weg eines Tagebuches mit der Benediktsregel. Ich gehe diesen Weg nunmehr seit mehr als 20 Jahren und immer noch entdecke ich Neues und Überraschendes auf diesem Weg.

A: GRUNDLEGUNG

1) „Höre und erfülle“

Die Kenntnis der Benediktsregel gehört für uns, die wir in der Nachfolge des hl. Benedikt stehen zu den unverzichtbaren Grundlagen unseres geistlichen Lebens. Der hl. Benedikt selbst legt uns diese Kenntnis seiner Regel und seiner Weisung gleich an mehreren Stellen nahe.

„Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat.“ (RB, Prolog 1)

Schon im ersten Satz des Prologs lädt uns der hl. Benedikt ein, mit offenem Ohr und geneigtem Herzen auf das Wort der Hl. Schrift und auf die Stimme des göttlichen Vaters zu hören. Gleichzeitig, sozusagen zwischen den Zeilen, lädt er uns aber auch ein, seinem Wort und der Weisung seiner Regel zu lauschen. Offenheit und Bereitschaft sind es, die uns auszeichnen sollen – ein Leben lang. Dass es nicht nur beim Hören bleibt, sondern dass das Hören ins Handeln übergehen und sich im konkreten Lebensvollzug inkarnieren muss, wird ebenfalls bereits in diesem ersten Vers deutlich. Höre und erfülle – obsculta … et efficaciter comple. Damit ist der Rahmen für die geistliche Lesung der Hl. Schrift, aber auch für die geistliche Lesung der Regel abgesteckt.

Im 58. Kapitel über die Aufnahme der Brüder wird es dann ganz praktisch.

„Wenn er [der Novize] – (und da dürfen und sollen sich m.E. auch die Anfänger auf dem Weg zur Oblation angesprochen wissen) – verspricht, beharrlich bei seiner Beständigkeit zu bleiben, lese man ihm nach Ablauf von zwei Monaten diese Regel von Anfang bis Ende vor…(RB 58,9)
Wenn er noch bei seinem Entschluss bleibt, liest man ihm nach vier Monaten dieselbe Regel wieder vor.“ (RB 58, 13)
Nach Ablauf von sechs Monaten lese man ihm die Regel erneut vor: Er soll wissen, was der Eintritt für ihn bedeutet. (RB 58, 12)

Dreimal also – jeweils im Abstand von zwei Monaten – soll dem Novizen die ganze Regel vorgelesen werden. Das Vorlesen der Regel schließt dabei gemäß altkirchlicher und monastischer Tradition ganz selbstverständlich auch die Auslegung des Textes durch den Vorlesenden mit ein.

In RB 66,8 empfiehlt der hl. Benedikt dann allen Mönchen – nicht nur den Novizen – die regelmäßige Lektüre der Regel – mit dem Ziel, diese wirklich und wahrhaftig kennen zu lernen: „Wir wollen, dass diese Regel öfters in der Klostergemeinde vorgelesen wird, damit sich keiner mit Unkenntnis entschuldigen kann.“

Eine letzte Stelle sei in diesem Zusammenhang genannt. Im ersten Vers des letzten Kapitels 73 sagt uns der hl. Benedikt:

„Diese Regel haben wir geschrieben, damit wir durch ihre Beobachtung in unseren Klöstern eine dem Mönchtum einigermaßen entsprechende Lebensweise oder doch einen Anfang im klösterlichen Leben (initium conversationis) bekunden.“ (RB 73,1)

Die Regel ist also für Anfänger geschrieben. Und Anfänger sind und bleiben wir alle, ein Leben lang. Unser Gelübde der Conversatio morum, nach der Weisung des Evangeliums zu leben, gewährt uns eben diesen immer neuen Anfang. Das ist tröstlich und lädt uns Tag für Tag neu zum Aufbruch ein, die Regel durch eine entsprechende Lebensweise lebendig werden zu lassen.

Schon in der Regel selbst ist also, um diese einleitenden Bemerkungen zusammenzufassen, die regelmäßige Lesung und Betrachtung des Regeltextes vorgesehen, ja ausdrücklich empfohlen. Die Regel ist nach der Hl. Schrift das Fundament unseres Lebens. Sie gibt uns Weisung und Orientierung, sie leitet und begleitet uns durch die Fährnisse unseres Lebens und führt uns – wenn wir uns auf diesen Weg einlassen – vielleicht nicht geradewegs, so aber doch kontinuierlich bis ans Ziel, bis hin zu einem immerwährenden Leben in der Gegenwart Gottes.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort aus der Altväterliteratur anfügen. Abbas Poimen sprach: „Die Natur des Wassers ist weich, die des Steines hart – aber der Behälter, der über dem Steine hängt, lässt Tropfen für Tropfen fallen und durchlöchert den Stein. So ist auch das Wort Gottes weich, unser Herz aber hart. Wenn nun aber ein Mensch oft das Wort Gottes hört, dann öffnet sich sein Herz für die Gottesfurcht.“ (Apophtegmata Patrum – Weisung der Väter, 757)

Dasselbe gilt, davon bin ich überzeugt, auch für das Wort, das der hl. Benedikt uns in seiner Regel zugesprochen hat.

2) „Nur der Geist macht lebendig“

Eine zweite grundsätzliche Vorbemerkung: Wie wir wissen, ist die Benediktsregel ganz und gar durchtränkt und durchdrungen von biblischem Geist. Sie ist erwachsen aus einer zutiefst persönlichen, inneren und innigen Vertrautheit mit der Hl. Schrift und will nicht mehr, aber auch nicht weniger sein als eine Inkarnation der großen Werte des Evangeliums. Insofern dürfen wir davon ausgehen, dass die Lesung und Betrachtung der Benediktsregel sowohl inhaltlich als auch methodisch eng verwandt ist mit der Lectio divina, der Geistlichen Schriftlesung (über die wir morgen ja noch ein eigenes Impulsreferat hören werden).

Die Lectio divina möchte uns immer mehr im Geist Jesu Christi formen und prägen. Ebenso möchte uns auch die tägliche Lesung der Benediktsregel immer tiefer hineinziehen in den Geist unseres Ordensvaters Benedikt. Sein Wort und sein Beispiel wollen unser Leben gestalten, sie wollen uns nach und nach verwandeln und so ganz konkret in unserem Leben wirksam werden.

Je tiefer wir dabei – wie bei der Lesung der Hl. Schrift – in die Geheimnisse Gottes und dessen, den er sich zum Werkzeug ernannt hat, eindringen, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Mehr in uns. Wir möchten mehr und mehr erkennen, immer tiefer verstehen und immer hingebungsvoller lieben. Der hl. Benedikt sagt es uns selbst: magis ac magis in Deum proficere – mehr und mehr in Gott hinein schreiten – IHM näherkommen, uns IHM angleichen (RB 62, 4). Das ist das Geheimnis unseres Lebens.

Um diesem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen, müssen wir lernen, hinter dem Buchstaben den Geist zu entdecken – jenen Geist, der uns bewegt und der die Worte zu Worten des Lebens, zu Worten meines ganz persönlichen Lebens macht. Lesen und Leben gehören hier also untrennbar zusammen. Die Regel will vom Lese-Buch zum Lebens-Buch werden. Wenn wir uns auf diesen – zugegebener weise auch oft mühsamen – Weg einlassen, dann werden wir erfahren, dass Gott selbst durch den hl. Benedikt zu uns spricht und dass wir aufgerufen sind, IHM mit unserem Leben zu antworten. Gott öffnet uns gleichsam sein Herz und lädt uns ein, in sein Herz hineinzuwachsen. So kann die Lesung der Regel am Ende zum Gebet werden, zu einer innersten Begegnung zwischen uns, die wir Gott suchen und Gott, der uns immer schon entgegenkommt. Es entsteht dann eine Art Trialog: zwischen Gott und dem hl. Benedikt, zwischen mir und dem hl. Benedikt und letztlich eben auch zwischen mir und Gott. Begegnung geschieht da, lebendiger Austausch, Communio.

Freilich nur dann, wenn die Lesung ganz und gar zweckfrei und absichtslos geschieht und allein darin besteht, die Botschaft zu hören und zu schmecken. Der hl. Bernhard von Clairvaux hat in seinem Kommentar zum Hohenlied über die Liebe gesagt: „Die Liebe sucht ihre Berechtigung nicht außerhalb ihrer selbst… Die Liebe ist ihr eigener Verdienst und ihr eigener Lohn; sie sucht keine Ursache außerhalb ihrer selbst und kein anderes Ziel als die Liebe selbst. Die Frucht der Liebe ist die Liebe.“ (Sup Cant. 83,4)

Genau so könnten wir es von der geistlichen Lesung sagen. Bei ihr geht es immer mehr um ein Verkosten als um Studieren, mehr um Staunen als um Erörtern, mehr um Weisheit als um Wissen. Man sieht nur mit dem Herzen gut – sagte einst Antoine de Saint-Exupéry. Man darf dieses Wort wohl auch abwandeln: man liest nur mit dem Herzen gut. Denn es geht darum, den verborgenen Geist zu schmecken, der den Buchstaben beseelt und der allein lebendig macht. Nur wenn uns das gelingt, finden wir zum Einklang mit dem Gelesenen und mit uns selbst und können Antwort geben auf das Wort – und zwar mit unserem ganzen Leben.

3) „Verstehst du auch, was du da liest“

Eine dritte Vorbemerkung möchte ich mit der Frage des Apostels Philippus an den äthiopischen Kämmerer überschreiben. „Verstehst du auch, was du da liest“, das ist die ‚Gretchenfrage‘ schlechthin – zumal für uns heute, da die Benediktsregel inzwischen 1500 Jahre alt ist und bisweilen meilenweit entfernt zu sein scheint von dem, was unser Leben heute ausmacht und trägt.

Der Dialog der Liebe, den wir in der Regellesung pflegen möchten, gerät für uns also immer wieder auch auf den Prüfstein, vor allem dann, wenn wir eben nicht oder nicht sofort verstehen, was wir da lesen. Unterscheiden wir hier zunächst zwischen dem äußerem und dem inwendigen Verstehen. Das äußere Verstehen, d.h. philologische Fragen, die Quellen, Hintergründe, Zusammenhänge und Zeitbedingtheiten der Texte können uns durch gute Regelkommentare (vor allem auch durch den jetzt erschienenen Quellenband zur Regel) verdeutlicht werden. Es gibt inzwischen viele gute Kommentare, wie wir alle wissen – ich brauche sie hier nicht im einzelnen zu benennen. Sie alle können uns helfen, das Äußere zu verstehen, zu deuten und richtig einzuordnen. Deshalb sind sie wichtig und notwendig und wir alle sollten sie ganz bewusst und regelmäßig zur Hand nehmen.

Doch ein noch so guter Kommentar kann, wie ich meine, das Eigentliche, das Wesentliche nicht ersetzen. Der Kern des Ganzen spielt sich wie oben bereits gesagt auf einer anderen Ebene ab, auf der, die uns existenziell und in unserer ganzen Person erfassen möchte.

Einen wichtigen Schritt näher kommen wir diesem Kern, wenn wir das Glück haben, erfahrenen Meistern des geistlichen Lebens zu begegnen, die uns die Regel vorleben und uns auch ihr eigenes inneres Ringen mit dem Text und seinem Anspruch nicht vorenthalten. Solche geistlichen Mütter und Väter gab es zu allen Zeiten und gibt es Gott sei dank auch heute. Doch sie erwachsen nicht von selbst. Um es mit einem Wort von Heinz Schürmann zu sagen: „Gott lässt begnadete Seelenführer in dem Maße erstehen, wie sie gesucht und gebraucht werden.“ Schon die Altväter der Wüste haben sich nicht selbst zum Lehrer ernannt, sondern wurden gesucht und gezielt um Weisung gebeten. Haben wir also ruhig den Mut, aktiv auf die Suche zu gehen nach einem Menschen, der die Regel zu leben versucht und darin bereits eine gewisse Erfahrung hat. Und haben wir umgekehrt auch den Mut, Zeugnis zu geben von unserem persönlichen geistlichen Weg, wenn andere uns darum bitten. Wir können einander zum Vorbild werden und uns den Weg weisen. Vom Abt sagt der hl. Benedikt: „Er zeige mehr durch sein Beispiel als durch Worte, was gut und heilig ist“ (RB 2, 12). Das gute Beispiel wiegt mehr als tausend Worte. Das wissen wir alle. Und gerade im geistlichen Leben erscheint es mir lebensnotwendig zu sein. (wer weiß, vielleicht hängt die vielbeschworene Krise der geistlichen Berufe mit dem Mangel an guten Vorbildern zusammen).

Schließlich und keineswegs zuletzt sei auf eine, wenn nicht die untrügliche Hilfe zum Verstehen der Hl. Schrift wie auch der Benediktsregel hingewiesen: das Gebet. Schon der große Origines schrieb einst in seinem Brief an Gregor Taumaturgus, 4: „Wer nicht findet, was er sucht, wer den gelesenen Text nicht versteht, muss Gott anrufen und ihn bitten, ihn erkennen zu lassen; so wird die Lesung zum Gebet, denn es ist absolut notwendig zu beten, um die göttlichen Dinge zu verstehen.“ Im Prolog der Regel schreibt uns der hl. Benedikt Ähnliches ins Stammbuch: „Sooft du etwas Gutes zu tun beginnst, bitte zuerst inständig darum, dass er es vollende.“ (RB Prolog 4) Dies gilt sicher für alles, was wir tun, zuerst und vor allem aber für die geistliche Lesung. Nur der Herr selbst kann unsere tauben Ohren öffnen und unsere verhärteten Herzen geschmeidig machen. Nur er selbst kann uns auch im Tiefsten den Sinn und die Bedeutung eines Textes für unser persönliches Leben eröffnen. „Effata“ – öffne dich. Das ist der Ruf, dem wir uns Tag für Tag anschließen sollten, wenn wir mit der Lesung beginnen

B. MEIN WEG MIT DEM PERSÖNLICHEN REGEL-TAGEBUCH

1) Zur Genese

Wie so oft im Leben entstand die Idee, ein Regel-Tagebuch zu führen, aus einer äußeren „Notsituation“ heraus. Noch während des Noviziates ergab sich für mich die Notwendigkeit, ein halbes Jahr als Assistentin unserer Hildegard-Forscherin Sr. Angela übersiedeln zu müssen in die Abtei Maria Laach. Dort, sozusagen auf einsamem Außenposten, weit weg vom Noviziatsbetrieb und den Regelkonferenzen unserer Schwester Magistra, begab ich mich auf die Suche nach einem Geländer, das mir im „Exil“ Halt und Orientierung geben konnte. Schon bald kam ich auf die Idee, zusätzlich zur normalen Lectio Divina am morgen eine abendliche feste Zeit der Lectio Regulae zu etablieren. Angeregt durch den Regelkommentar von Abt Denis Huerre, der zu jeder Tageslesung aus der Regel jeweils kurze, prägnante und zum Teil sehr persönliche Texte enthält, begann ich am 2. Mai 1992 mit meinem Regel-Tagebuch. Traditionsgemäß beginnt am 2. Mai jeden Jahres in unseren Klöstern der zweite Jahreszyklus der Regellesung, so dass ich mit Vers 1 des Prologs beginnen konnte.

Schon nach einigen Wochen bildeten sich ein fester Ablauf und klare methodische Schritte heraus, die ich bis heute weitgehend beibehalten habe. Zunächst suchte ich mir einen Ort, konkret einen Tisch, der nicht mein Schreibtisch war, an dem ich ansonsten zu arbeiten pflegte. Ich erbat mir eine schöne Tagebuch-Kladde und eine Kerze und begann mit meiner ersten Regel-Tagebuch-Lesung.

2) Methodische Schritte

2.1. Zu einer bestimmten immer gleichen Zeit am Tag und an einem bestimmten Ort, den ich mir einmal für immer gewählt habe, zünde ich eine Kerze an und nehme die Regel zur Hand.

2.2. Zuerst spreche ich ein kurzes Gebet oder auch ein Stoßgebet wie das Wort „Effata – öffne dich – Herr, öffne du selbst mein Ohr und mein Herz!“.

2.3. Danach lese ich den jeweiligen Tagesabschnitt der Regel als Ganzes langsam, Wort für Wort, halblaut vor mich hin. Ich betrachte den Text und denke zunächst darüber nach, was der Kerngedanke des hl. Benedikt und die Grundaussage dieses Abschnitts sein könnte.

2.4. Dann lese ich den Text ein zweites Mal – diesmal leise. Ich verkoste den Text in aller Ruhe, betrachte ihn mit weit geöffneten Herzen. Ich stoße meist schon hier auf eine Sequenz, auf ein Wort oder auf einen Gedanken, der mich persönlich in besonderer Weise anspricht oder herausfordert. Dort verweile ich. Dann schreibe ich (mit rotem Stift) den entsprechenden Satz, Teilsatz oder auch nur ein einziges Wort des Regeltextes in mein Tagebuch. Hinzu füge ich das Datum des jeweiligen Tages.

2.5. Nun lasse ich mich von diesem ausgewählten Text tief in meinem Inneren ansprechen. Was bedeutet dieses Wort hier und heute für mein ganz persönliches Leben? Kann ich es einlösen oder steht es in Spannung zu mir? Fühle ich mich bestätigt oder herausgefordert? Was kann und sollte sich ändern in meinem Lebensvollzug, wenn ich dieses Wort ernst nehme?

2.6. Dann schreibe ich auf, was in mir gewachsen oder auch nur hochgekommen ist. Dabei gibt es keine Tabus – ich möchte radikal ehrlich sein vor Gott und vor mir selbst. Manchmal ist es ein Ringen und ein Kämpfen, manchmal eine Ermutigung und ein Trost, manchmal eine Entdeckung oder auch eine ganz neue Erfahrung mit mir selbst.

2.7. Zumeist mündet mein Tagebuch-Eintrag ein in ein Gebet: in Lob oder Dank, Klage, Schrei oder Fürbitte. Auch hier gilt: alles darf sein, alles darf zum Gebet werden. Mit diesem selbst formulierten Gebet oder auch mit einem abschließenden ‚Ehre sei dem Vater‘ endet meine Regel-Lesung. Ich bleibe noch einen Moment in der Stille und wende mich dann nach ca. 20 Minuten ruhig und konzentriert meinem Alltag zu.

Soweit der Ablauf meiner Lectio Regulae in sieben Schritten.

3) Erfahrungen und Früchte

Wenn ich nun ein wenig von meinen Erfahrungen mit dem Regel-Tagebuch berichte, so könnte ich sie in einem Wort zusammenfassen: das Regel-Tagebuch ist für mich zum Lebensatem geworden. Es hilft mir zu leben, ja ist inzwischen untrennbar mit meinem Leben verwoben. Es schenkt mir den Sauerstoff, den ich brauche, um mein geistliches Leben der Christusnachfolge im Geist des hl. Benedikt zu leben. Es gibt meinem Tag Struktur und Halt. Es verleiht mir Kraft, Ausdauer und Ruhe. Es befruchtet mein Herz und meinen Geist und gibt mir immer neue Nahrung für den Alltag. Es hat mir geholfen, dem hl. Benedikt und seinem monastischen Lebens-Entwurf ganz persönlich nahe zu kommen, ihn tiefer zu verstehen und dieses unser benediktinisches Leben zutiefst lieben zu lernen.

Vor allem aber hat mich das Regel-Tagebuch – darauf möchte ich vertrauen – Gott ein Stück näher gebracht. Es hilft mir, täglich neu zu versuchen, in Seiner Gegenwart zu leben, alles aus Seiner Hand entgegen zu nehmen. Vielleicht, so hoffe ich, hat es mich auch ein kleines Stück wahrhaftiger werden lassen und mir Schritt für Schritt ein Gespür dafür vermittelt, wer ich bin vor Gott und andererseits, wer Gott ist für mich.

Das Regel-Tagebuch hat mich auch mir selbst ein Stück nähergebracht. Es hat eigene, längst vergessene Lebenserfahrungen, manchmal auch Lebenswunden, ans Licht gebracht und sie einem langsamen Prozess der Heilung unterzogen. So hat das Regel-Tagebuch mein Leben verändert. Es hat sicher auch mein Verhältnis zu den anderen, zu meinen Mitschwestern, zu meiner Gemeinschaft, zu meinen Freunden und den mir anvertrauten Menschen geprägt.

Dies alles will nicht heißen, dass der Weg nicht oft auch steinig und mühsam war. Aller Anfang ist und war auch bei mir schwer. Nicht selten überkommt einen das Gefühl des Längst-Bekannten, der Langeweile, des Überdrusses – wir alle kennen das berühmt-berüchtigte Laster der Acedia. Dann gab es auch dunkle und schwere Zeiten, Zeiten der Überforderung – Tage und Wochen – da kaum ein Eintrag in mein Tagebuch möglich schien. Auch das darf sein, denke ich. Manch leere Seite oder leere Daten zeugen heute noch davon. In solchen Zeiten war und ist es für mich wichtig, trotz aller inneren Widerstände dennoch irgendwie dabei zu bleiben – die Regellesung nicht aufzugeben, auch wenn das Niederschreiben vielleicht schwer fällt. „Die Treue ist der Preis dafür, dass man zum Wesentlichen durchstößt“, hat Ruth Pfau, die bekannte Ordensfrau und Lepraärztin mir einmal gesagt. Das gilt für das geistliche Leben insgesamt, im Besonderen aber, wie ich meine, für die Lectio divina und die Lectio regulae.

Wenn ich heute mein Bücherregal anschaue, dann finde ich darin viele vollgeschriebene Kladden, hinter denen sich mein geistlicher Lebensweg verbirgt – mit all seinen Kreuzungen, mit seinen Umwegen, mit seinen Stolpersteinen, mit seinen Wüsten und manchmal schier unüberwindlich scheinenden Gebirgen, aber auch mit all seinen Oasen und Höhenerfahrungen, mit Freudenzeiten und unverdienten Glücksmomenten. Den meisten Raum, das sollten wir ganz nüchtern sehen, nimmt das Alltägliche ein. Das hat nichts mit Mittelmäßigkeit zu tun, wohl aber vielleicht mit Mitte und Maß. Auch solche „Discretio“ will immer neu errungen werden, gerade in unserer Zeit, die zum Extremen und zum Ultimativen neigt. Bodenhaftung ist unter Umständen schwerer zu gewinnen als Exstase. Der schmalste Grat ist immer der mittlere Weg, der des Alltags. Aber hat nicht der Herr selbst seinen Jüngern verheißen: „Geht voraus nach Galiläa, dort werdet ihr mich sehen“

Eine weitere Erfahrung mit dem Regel-Tagebuch: Manchmal blättere ich auch zurück, nehme eine alte Kladde zur Hand, um zu schauen, was ich mir zu einer Regelstelle vor zwei Jahren, vor fünf Jahren oder gar vor zehn Jahren notiert habe. Eine lineare Entwicklung findet sich da nicht, wohl aber viele verschiedene Aspekte und Sichtweisen – auch manches Zeitbedingte natürlich. Wichtig aber ist mir, dass auch Regelstellen oder – kapitel, die auf den ersten Blick vielleicht eher marginal zu sein scheinen, mit der Zeit an Leuchtkraft gewinnen. Manche Muscheln öffnen sich eben erst mit der Zeit und lassen ihre Perlen nur langsam sichtbar werden. Wichtig sind auch hier Geduld und Treue und die Offenheit, sich immer wieder neu überraschen zu lassen von diesem Regeltext. „Die Geduld“, so hat Gabriel Marcel einmal gesagt, „ist der Sieg über die Zeit und lässt uns schon hier einen Hauch von Ewigkeit erfahren“. Wenn eine solche Erfahrung die Frucht langen Regel-Tagebuch-Schreibens ist, dann hat es sich meines Erachtens gelohnt.

Eine letzte Erfahrung möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Ich hatte und habe das unverdiente Glück, dass mich mit einer meiner Mitschwestern eine geistliche Freundschaft verbindet. Diese Freundschaft hat mich vieles gelehrt. Wir haben seinerzeit unabhängig voneinander, also parallel mit unserem Regel-Tagebuch begonnen. Eines Tages dann haben wir angefangen, im Abstand von drei Monaten (jeweils nach Ende eines Lesezyklus‘) unsere Tagebücher zu tauschen und in dem jeweils anderen mit den Aufzeichnungen fortzufahren. So hat sich für uns eine weitere Ebene der Begegnung über den oben schon beschriebenen Trialog zwischen Gott, dem hl. Benedikt und mir selbst hinaus ergeben. Hierdurch kamen noch einmal ganz neue Sichtweisen und Erfahrungen ins Spiel. Diese sind für mich eine große Bereicherung. Ein solches „Verfahren“ setzt natürlich Vertrauen voraus. Solche geistliche Freundschaft kann man nicht machen, sie ist Geschenk. Aber ich möchte jeden ermutigen, nach solchen möglichen Freundschaften Ausschau zu halten und vielleicht einen solchen Schritt zu wagen. Am Anfang allerdings sollte der je persönliche Weg mit dem Regel-Tagebuch stehen. Der Weg mit einem anderen gemeinsam kann dann langsam wachsen, wenn Gott es will.

Nachdem ich Ihnen von meinen persönlichen Erfahrungen berichtet habe, möchte ich nun noch eine Mitschwester zu Wort kommen lassen, die ihrerseits von ihren Erfahrungen berichtet. In gewissem Sinne ist in ihren Worten das zusammengefasst, was ich Ihnen zu sagen versucht habe.

„Das Regel-Tagebuch habe ich als Möglichkeit für mich entdeckt, mich besser zu konzentrieren, nicht so leicht abzuschweifen und mich auf einen Text bewusst einzulassen, der mir u.U. beim ersten Lesen gar nichts sagt. Ich bin mir bewusst, dass es eine Methode für Anfänger ist, aber da ich ein Anfänger bin und immer bleiben werde, stört mich dies nicht. Es geht mir nicht in erster Linie darum, recht viel Inspiration und Weisheit aus einem Text zu schöpfen. Ich möchte nichts hineinlesen und auch nichts herauslesen, bevor nicht der Text selbst zu Wort kommt. Kurz gesagt: nicht, was ich mit dem Text mache, ist mir wichtig, sondern was er mit mir macht. Die Gedanken, Fragen, Assoziationen und Erkenntnisse, die der Text in mir wachruft und die ich vielleicht noch nie gedacht habe, sind dann nicht meine Antwort, sondern sein Wort an mich.

Das Aufschreiben ist mir eine Hilfe, dem Text näherzukommen. Eine bestimmte Stelle oder ein bestimmtes Wort, die mir plötzlich neu aufgehen, wecken in mir oft Fragen, die ich dann aufschreibe und aus denen sich neue Fragen oder eine neue Einsicht oder auch ein Widerstand ergeben. Jedesmal erstaunt es mich, dass ein Text – auch bei jahrelanger Regellesung – jung und frisch bleibt und dass mich eigentlich nie Langeweile oder Überdruss befällt. Wenn mich dann doch die auch mir wohlbekannte Acedia überfällt, dann versuche ich, sie zu ertragen, nicht zu viel dagegen zu kämpfen, kein Held zu sein. Oft hilft mit das Regel-Tagebuch dann wieder aus dem Loch heraus. Es gibt so vieles zu entdecken, wenn ich mit neu-geöffnetem Ohr zu hören wage, was Gott mir durch die Regula sagt. Am Ende der Lectio Regulae versuche ich, ein Gebet zu formulieren und dann die Dinge, die mir aus der Lectio bleiben, mit in den Tag zu nehmen. Auch, wenn nichts zum Klingen kommt, versuche ich das anzunehmen und dafür zu danken – im Bewusstsein, dass alles Geschenk ist und auch im Wissen, dass Nicht-Erfahrung auch eine Erfahrung ist.“

Schlussbemerkung

Am Schluss bleibt nun nur noch mein Wunsch an alle Leserinnen und Leser dieses Erfahrungsberichtes, es selbst zu versuchen. Machen Sie sich auf den Weg und lassen Sie sich dabei von Gottes Geist führen. Er wird uns, wie uns verheißen ist, in die ganze Wahrheit einführen. Der hl. Benedikt ist dabei ein guter und verlässlicher Wegbegleiter. Und, was am Ende vielleicht das Entscheidende ist: er bleibt nicht bei sich und seiner Regel stehen. Selbstgenügsamkeit oder gar Selbstbespiegelung sind ihm fremd. Er weist über sich und über die Regula hinaus, er will uns anspornen zum „Weiter“, zum „Darüber hinaus“, zum „Mehr“. Insofern kann und darf auch ein Regel-Tagebuch nur ein Anfang sein. Es ist niemals Selbstzweck, sondern eher ein Ausgangspunkt, ein erster Schritt auf dem lebenslangen Weg hinein in die Tiefen des Geheimnisses Gottes.

Sr. Philippa Rath OSB