Wir stehen am Beginn der großen, der „Heiligen“ Woche. Wir gehen ab heute mit Jesus die letzte Wegstrecke seiner irdischen Wanderung in Richtung Jerusalem „durch Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung“, in das „himmlische Jerusalem“. Exemplarisch umschreibt das heutige Tagesgebet die Stationen des Weges Jesu: Gott wurde Mensch, er nahm Fleisch an und hat sich als Erlöser, als Heilbringer, als Salvator, dem Kreuz unterworfen. Darin gab er uns ein Beispiel der Demut, des Mutes anderen zu dienen. Auf diesen Weg der Nachfolge sind wir alle – durch Taufe und Firmung – berufen worden. Er führt durch Leiden zur Auferstehung. Allein schon dieses Tagesgebet gibt uns reiche Anregungen, über unseren eigenen Weg nachzudenken. Deswegen fragen wir uns am Palmsonntag auf:

Wie, in welcher Einstellung, mit welcher Erwartung gehe ich in diese Heilige Woche hinein?
Betrachte ich den Gang zum Kreuz nur als eine geschichtlich grausame Tatsache von damals, oder bemühe ich mich, nüchtern und ehrlich nach dem Ort des Kreuzes in meinem Leben Ausschau zu halten?
Welche Rolle spielt das Kreuz in meinem Leben? Wo begegne ich ihm? Wo begegnet es mir? Wo wird das theoretische Wissen um das Kreuz in meinem Leben greifbare Wirklichkeit? Wir sollten wissen: die Hoffnung auf das heilsvermittelnde Kreuz ist das, was uns als Christen von anderen unterscheidet. Das heißt aber keineswegs, dass wir lebensmüde sind, nur im Dunkel unseren Lebensweg durchschreiten. Im Gegenteil: Als Christen schreiten wir mit Christus in eine größere Freiheit hinein, in ein höheres Leben jenseits des Kreuzes. Das eigentliche Ziel, für das es sich lohnt zu leben und zu sterben, ist ein Angebot Gottes, das Angebot seiner Liebe. Würden wir dieses Liebesangebot verweigern, würden wir unseren Glauben verraten. Nichts wäre in unseren Tagen schlimmer als das.

Den Weg durch die Karwoche und in die Mitte unseres Glaubens möchte ich in fünf Schritte erwandern.

1. Schritt: sich rufen lassen

Am Dienstag wird der Bischof die Chrisam-Messe feiern und die heiligen Öle weihen für die Taufe, für die Firmung, für die Weihe von Bischöfen, Priestern, für die Salbung von Katechumenen und Kranken, für die Weihe von Kirchen und Altären. Schauen wir in die Hl. Schrift, so ist das Öl Symbol der Freude, der Gesundheit an Leib und Seele und eines vom Glück erfüllten Lebens. Der eigentlich Gesalbte ist Christus selbst. Werden wir in der Taufe, in der Firmung, in der Krankensalbung gesalbt, oder ein Priester am Tag seiner Weihe, so ruft uns Christus zu: „Mein Geist ruht auf dir. Ich gebe dir ein neues Herz und einen neuen Geist. Sei wie ich Zeuge meines Vaters im Himmel. Ich gebe dir Anteil an meiner Gotteskind-schaft.“ So zeigt uns diese erste Station, dass wir dem ewigen Ostern entgegengehen, wenn wir unsere Herzen öffnen für dieses Geschenk, wenn wir uns von Christus mit seinem Geist beschenken und immer neu in seinen Dienst nehmen lassen. Wie sich dieser Dienst konkretisiert, sagt uns das Evangelium zur Chrisam-Messe, in dem berichtet wird, wie Jesus in der Synagoge das Wort des Propheten Jesaja hört und darin seine Berufung erkennt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt , damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Jes 61,1) Wir alle sind gesandt, auf diese Weise Zeugen zu sein. Christsein heißt: glaubhafte Nachfolger Christi zu sein, sich von seiner Gnade beschenken lassen, seinen Weg mitgehen und sich von ihm in den Dienst nehmen lassen in guten und in schweren Tagen. Unser Altbischof Franz Kamphaus hat einmal in einem Brief an die Gemeinden zur österlichen Bußzeit jeden und jede von uns aufgerufen, „unserer Berufung getreu“ überzeugend zu leben und in diesem Sinn zu den Mitmenschen von heute aufzubrechen. Schon Paulus spricht seine Gemeinde in Korinth auf die Berufung an: „Jeder soll so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat. Das ist meine Weisung an alle Gemeinden.“ (1 Kor 7, 17)

2. Schritt: annehmen

Der Gründonnerstag ist einer der großen Tage im Kirchenjahr, der auf allen Ebenen Gottes Liebe zu uns in Jesus Christus verkündet. Im Hochgebet der Hl. Messe wird er in der lateinischen Urfassung dies traditionis, Tag der Tradition, der Überlieferung genannt. Tradition heißt wörtlich: Jemand gibt etwas weg, aus seiner Hand fort in eine andere. Alles übergibt er in dieser Weggabe einem neuen Besitzer. Gründonnerstag ist der Tag, an dem Gott sich in Christus uns Menschen übergibt. Wir sind beschenkt, wenn wir diese Gabe der Liebe Gottes annehmen. Wie sich die Liebe Gottes ausbuchstabiert, das erfahren wir in zwei Zeichen des Wirkens Jesu an seinen Jüngern, an jedem und jeder von uns. Das erste ist: Jesus nimmt uns auf in seine Mahlgemeinschaft, holt uns an den himmlischen Tisch, wo er mit dem Vater und dem Heiligen Geist in Mahl der Liebe verbunden ist. Der russische Ikonenmaler Rubljew hat dies in seiner weltweit bekannten Dreifaltigkeitsikone unnachahmlich dargestellt: Vater, Sohn und Heiliger Geist sitzen in Gestalt von drei Engeln zusammen an einem Tisch. Das ist der Tisch, die himmlische Heimat, die Christus täglich neu schenken will. Nehmen wir das Geschenk seiner Mahlgemeinschaft an, dann finden wir auch schon in dieser irdischen Welt Heimat in ihm.
Das zweite Geschenk des Gründonnerstags ist uns im Johannesevangelium überliefert: „Jesus stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen.“ In dieser Geste erweist sich Jesus ganz und gar als Diener, als einer, der sich mit den Geringen, den Armen und Armseligen, den Machtlosen solidarisiert. Und gerade darin offenbart sich seine Liebe. Gertrud von le Fort umschreibt diesen liebenden Christus in den Hymnen an die Kirche so: „Ich bin unverbittert Liebe, ich bin unerbittlich Liebe, ich bin bittende Liebe… Liebt mich wieder, liebt euch alle – und verstummt.“ Nehmen wir in diesen Tagen doch Gottes Liebe in Jesus Christus neu an. Stimmen wir mit ein in den Lobgesang der Liebe und setzten wir ihn um in unseren Alltag: Ubi caritas et amor, Deus ibi est – Wo die Güte und die Liebe, da ist Gott.

3. Schritt: loslassen

Bevor wir am Karfreitag des Leidens und Sterbens Jesu Christi gedenken, müssen wir noch auf die Nacht schauen, die seinem Tod vorausging. Er erkannte, dass er verraten und verleugnet würde, sogar von seinen Jüngern, von Menschen seines Vertrauens. In seiner Not zieht er sich auf dem Ölberg zurück, sucht eine Ruhestätte des Gebetes, um ins Gespräch mit Gott, seinem Vater, zu kommen. An diesem Ort lernt er, das „Vater unser“, das er seine Jünger gelehrt hatte, in seine eigene Existenz umzusetzen, sein Ja zum Kreuz zu finden mit den Worten. „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“ Wenn wir am Karfreitag des Kreuzestodes Jesu gedenken und uns in der Kreuzverehrung anbetend vor ihm verneigen, uns so solidarisch mit seiner Mutter und Johannes unter sein Kreuz stellen, gerade in der schweren Stunde zu ihm stehen, ihm die Treue bewahren, dann übergeben wir uns mit ihm in die Hände seines, unseres Vaters im Himmel. Zudem haben wir in den großen Fürbitten die Chance, alle Nöte und Sorgen der ganzen Menschheit in seine Hände zu übergeben. Damit lassen wir alles los, was unserem Willen entspricht und übergeben es wie Jesus Christus ganz in die Hände des Vaters. Nur im Loslassen können wir dann einstimmen in den Gesang während der Kreuzverehrung und aus dem Herzen beten: „Denn siehe, durch das Holz des Kreuzes kam Freude in alle Welt.“ Wie kann man denn sagen, das Kreuz sei Ursache der Freude? Wie kann ein Mensch überhaupt zum Kreuz, zu Leid, Schmerz, Krankheit, Armut und Verzweiflung Ja sagen und das noch als Ursache von Freude benennen? Es gibt keinen anderen Weg, als uns und unser Leid mit der Passion Jesu Christi zu verbinden. Zu welchem Heilsweg dieser Glaubenssprung führen kann, ist uns z.B. unvergesslich von Gläubigen überliefert, die in schwerer Not davon Zeugnis gegeben haben.

4. Schritt: sich übergeben

Der Karsamstag ist ein Tag des Schweigens. Zwar ist er noch von Klage und Trauer verdunkelt, dennoch strahlt in aller Dunkelheit schon ein zartes Hoffnungslicht auf. Eine verklärte Ruhe liegt über dem Tag, die uns eine Vorausschau dessen schenkt, was in einem Hymnus des Morgengebetes der Fastenzeit, mit dem wir uns ganz intensiv auf das Osterfest vorbereiteten, so ausgedrückt wird: „Der Tag kommt wieder, ja dein Tag, da alle Schöpfung neu erblüht; wir wollen uns seiner freuen, durch ihn zu deiner Gnade heimgeführt.“ Der Karsamstag ist ein Tag des Vorfrühlings. Schon zu seiner irdischen Lebenszeit hatte Jesus seinen Jüngern prophezeit: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein“ (Joh 12, 24), und ich füge hinzu: nur dann kann etwas aufblühen und reiche Frucht bringen. Als Christuszugehörige warten wir am Karsamstag mit ihm dem Tag, an dem alles neu erblüht, dem Auferstehungstag entgegen. Das heißt jedoch nicht, dass Trauer und Schmerz am Grab verdrängt werden dürfen. Im Stundengebet der Kirche, wie wir es in unserer Abtei St. Hildegard beten, hören wir deshalb in den Tenebrae, in der Stunde da wir der Dunkelheit, der Finsternis, der Trübnis dieses Tages gedenken, Teile aus den Klageliedern des Alten Testaments. Das Elend in Jerusalem und darüber hinaus aus der ganzen Kirche und Welt wird darin vor Gott getragen. Überraschenderweise werden darin auch Ströme von Tränen zu Quellen der Hoffnung. Leiderfüllte Beter nähern sich mehr und mehr dem Lobpreis der Barmherzigkeit Gottes. In der ersten Lesung hören wir: „Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu und groß ist an jedem Morgen deine Treue. Mein Anteil ist der Herr, darum harre ich auf ihn. Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn.“ (Klgl 3, 22 – 26) Karsamstag ist demnach der Tag, an dem wir uns neu – mit Worten des Apostels Paulus – dem Glauben als „Hoffnung gegen alle Hoffnung“ (Röm 4, 18) übergeben.

5. Schritt: aufstehen

Endlich wird der Tag kommen, der im Glauben von einer Posaune der Freude, vom Halleluja umjubelt, von Strahlen herrlichen Lichtes, vom Christuslicht verklärt ist. Flammt das Osterfeuer auf, wird die Osterkerze entzündet, erschallt endlich das Exsultet, das Osterlob: „Frohlocket…, preiset…, singet…, freut euch… O wahrhaft selige Nacht, die Himmel und Erde versöhnt, die Gott und Menschen verbindet“, dann ist Christus, unsere Hoffnung, unser Licht, das alle Finsternis erleuchtet, wieder ganz in unserer Mitte. Und wir antworten ihm mit einer Dankeshymne an Gott, den Vater. Die Osternacht verkündet uns: Wir sind für die Freude geschaffen, Christ ist, wer froh und frei ist. Auch der graueste Alltag wird erhellt von einem Schimmer dieser Freude, die uns in Fülle verheißen ist.

Geben wir von dieser Frohbotschaft in unserer Zeit noch glaubwürdig Zeugnis? Immer wieder hört man von Umfrageergebnissen, die vom Schwinden des Glaubens der Christen an die Auferstehung Jesu und der Toten sprechen. Wenn das so ist, dann sollten wir uns neu besinnen auf die Worte des Apostel Paulus, der im 1. Brief an die Korinther schreibt: „Wenn Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube sinnlos.“ (1 Kor 15) Wenn wir in die heilige Woche hineingehen, aber nicht mehr an die Auferstehung glauben, dann verraten wir unseren Glauben. So müsste sich jeder und jede von uns fragen: Wo stehe ich? Bin ich bereit, im Glauben mit Christus neu aufzustehen? Ist der Auferstehungsglaube in mir wirklich lebendig? Gebe ich im Alltag glaubwürdig Zeugnis für eine hoffnungsvolle Zukunft? Bin ich wirklich ein österlicher Mensch? Lasse ich das Licht der Osterkerze in mein Herz hineinleuchten? Gebe ich der Freude in mir Raum? Bin ich mir bewusst, dass ich in Familie und Beruf, in Gemeinschaft und in Gesellschaft verantwortlich bin für die Freude, verantwortlich vor Gott, der uns in Christus die Erlösung zugesagt hat? Glaube ich wirklich, dass mit Ostern für uns und unser Leben etwas Neues angebrochen ist? Lasse ich mich von der österlichen Aufbruchstimmung in den Verwandlungsprozess aufnehmen? Wir haben in der Osternacht die besondere Gelegenheit, die Bereitschaft zum neuen Aufbruch zu besiegeln. Das ist der Sinn der Tauferneuerung. Je offener, entschiedener, großherziger jeder und jede von uns diesen Schritt der Erneuerung geht, um so mehr wird die große Freude und Freiheit von Ostern in der Weltkirche wachsen.

Sagen wir gemeinsam Ja zum Gekreuzigten und Auferstandenen, seien wir ein lebendiges Alleluia, leben wir aus der österlichen Freude und geben wir so Zeugnis für den Christus der Herrlichkeit, rufen wir gemeinsam: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bist du kommst in Herrlichkeit.“ Dann wird ER gemeinsam mit uns das Angesicht der Erde erneuern!

Sr. Christiane Rath OSB

OSTERNACHT

Feier der Passion und der Auferstehung Jesu Christi. Mit dem gestrigen Karfreitagsgottesdienst wurden die Tiefen der Passion berührt, – jetzt stehen wir vor der Osternacht, die uns hinübergeleitet in das Fest der Auferstehung. Jemand hat einmal gesagt: „Auferstehung ist das Geheimnis aus dem wir leben, aber es ist unsäglich schwer, es in Worte zu fassen. Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen, es gibt allerdings auch Unaussprechliches, – es ist das Geheimnisvoll-Mystische . .“ Wir sind in diesen Tagen schon öfter darauf gestoßen. Das Geheimnis, so Guardini; ist ein Übermaß an Wahrheit, – eine Wahrheit, die meine Fassungskraft übersteigt. Und weil sich Worte hier so schwer tun, birgt die Osternacht eine Fülle von Bildern, die zum Sprechen kommen sollen. – Weiterlesen

„Novi diluculo multa est fides tua – jeden Morgen neu, Herr, ist deine Treue“. Wohl kaum ein Wort aus dem Stundengebet ist so charakteristisch für den Karsamstag wie dieser Vers aus den Klageliedern des Propheten Jeremia. Novi diluculo – das ist Hoffnung wider alle Hoffnung, verhalten aufschimmerndes Licht am Ende eines langen Tunnels. Der Karsamstag ist ein geheimnisvoller, scheinbar schwebender Tag, ein Tag des Übergangs, des „Zwischen“, ein Brückentag zwischen Tod und Leben, zwischen abgrundtiefer Dunkelheit und langsam aufstrahlendem neuen Licht.

Vor allem anderen aber ist der Karsamstag der Tag der totalen Gottesfinsternis, des „Todes“ Gottes. Es ist der Tag der Grabesruhe, des Schweigens, der Leere und des Nichts. Die Jünger haben alle ihre Hoffnungen mit Jesus begraben. Sie sind enttäuscht und verzweifelt. Nichts ist ihnen geblieben außer ihren Erinnerungen. Ihre Träume und Hoffnungen sind zerbrochen. Was ihnen Halt gab, ist nicht mehr. War es überhaupt Wirklichkeit oder war es nur ein Wunschtraum? Sie zweifeln, sie klagen und sie weinen. Sie ziehen sich resigniert zurück und wenden sich irgendwann wieder ihren Alltagsgeschäften zu. Weiterlesen

GRÜNDONNERSTAG

Nachdem uns mit dem Palmsonntag die „große Woche“ aufgenommen hat, treten wir mit dem Abendmahlsamt des Gründonnertags wie durch ein hohes Tor in die Feier des Leidens und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus ein. Wir „feiern“ also das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu. Ebenso bezeugen wir ja auch bei jeder Eucharistiefeier, dass wir den Tod und die Auferstehung des Herrn „verkünden“, – dem haftet auch etwas Feierliches an. Zu Beginn des Abendmahlsamtes im Eingangslied heißt es ja: „Wir rühmen uns im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus . .“, ja, wir können und dürfen nicht anders, – es ist unerlässlich – opportet, so heißt es – wir müssen uns rühmen im Kreuz, – im Zeichen der Schwäche, des Scheiterns, des Untergangs, des Todes. Ist hier das Wort – „rühmen“ – im Zusammenhang mit Leiden und Tod nicht zu großartig? Ja, es ist großartig und muss es sein, weil Pascha Hindurchgang, Hinübergang ist, vom Dunkel und Leid ins Licht und in die Auferstehung. Weiterlesen

 
  „Wenn wir wirklich Christen sein wollen, muss, müsste die Karwoche eine Zeit sein, in der wir in besonderer Weise teilnehmen an der Passion Jesu. Dies geschieht nicht in erster Linie in frommen Gefühlen, sondern in der schlichten, nüchternen Tapferkeit ohne Aufsehen, mit der wir uns und die Mühsal unseres Lebens annehmen und durchtragen. Gerade dies steht in einem glaubenden Bezug zur Passion des Herrn, indem wir verstehen, dass unser Leben Teilnahme an seinem Schicksal ist.“

Diese Worte des berühmten, lange Zeit fast vergessenen Theologen Karl Rahner sind mir in diesem Jahr 2021 ganz besonders ins Herz gedrungen. Sie rütteln mich auf, fordern mich heraus und lassen mich diese außergewöhnliche vorösterliche Corona-Fastenzeit tiefer verstehen und, so hoffe ich, aus dem Glauben heraus auch besser bestehen. Da ist keine Rede von erhabenen Gefühlen oder von großen Festen und feierlicher Liturgie, da steht vielmehr der Alltag, unser ganz konkretes Leben heute und jetzt, im Vordergrund. Hier entscheidet sich unser christliches Leben, derzeit besonders. Die Passion, das Kreuz Christi, kommen uns dabei auf einmal ganz nah. Denn viele von uns empfinden unser Leben derzeit als durchkreuztes Leben. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Unsere Pläne, unsere Gewissheiten, all unsere bisherigen Erfahrungen werden durchkreuzt. Das Virus stellt alle bisherigen Ordnungen und Gewohnheiten auf den Kopf, es bremst uns aus und führt uns an den Rand unserer Möglichkeiten. Manchmal auch darüber hinaus. Es nagelt uns buchstäblich fest und lässt uns ohnmächtig die Zerbrechlichkeit unseres Lebens spüren. All das macht Angst. Diese Angst hat sich inzwischen vieler bemächtigt, auch vieler gläubiger Christen und derer, die unseren Glauben in der Kirche von Amts wegen lebendig bezeugen und vorleben möchten.

Wenn Sicherheiten zerbrechen, wenn wir nicht mehr Angst haben, sondern wenn die Angst uns im Griff hat, dann ist es gut, innezuhalten und sich zu fragen, auf wen wir noch bauen und was uns Sicherheit, Vertrauen und Hoffnung geben kann. Das ist vielleicht der Moment, in dem wir das Kreuz, die Passion Jesu und den Karfreitag, wieder ganz neu entdecken können und, wie Karl Rahner sagt, verstehen lernen können, dass „unser Leben Teilnahme an seinem, an Jesu Schicksal, ist“.

Betrachten wir ausschnitthaft einige Szenen aus dem Passionsgeschehen.

Nach dem Abendmahl hatte Jesus in einer Atmosphäre enger Vertrautheit seinen Jüngerinnen und Jüngern tröstende Abschiedsworte zugesprochen. Zu Beginn steht da die Aufforderung: “Euer Herz lasse sich nicht verwirren“ (Joh 14,1). „Tarassein“, heißt es im Griechischen, wofür es im Deutschen gleich mehrere Begriffe gibt. „Lasst euch nicht ängstigen, nicht erschrecken, nicht verwirren, nicht erschüttern …“ Von solcher Erschütterung berichtet das Evangelium im Leben Jesus gleich mehrmals: „Jetzt ist meine Seele zutiefst erschüttert“ heißt es etwa in der Perikope von der Auferweckung des Lazarus (Joh 12,27). Jesus hat diese Erschütterung, die ihn auch angesichts des eigenen nahen Todes überwältigte, nicht zu verbergen gesucht. Sie packte ihn am Grab seines Freundes Lazarus. Sie packte ihn auch, als Judas den Abendmahlssaal verließ und er akzeptieren musste, dass es nun kein Ausweichen mehr gab. Und schließlich packte sie ihn in der Nacht des Ringens am Ölberg: hier wird sogar von Agonie, also von Todeskampf, gesprochen. Ja, Jesus ringt darum, sein Leiden und seinen Tod annehmen zu können. Er hat seine Angst und Erschütterung nicht einfach so bewältigt, unangefochten und erhaben. Er hat die Situation nicht wie in einem Heldenepos gemeistert. Nein, er hat sich als Schwacher und Ohnmächtiger seiner Angst gestellt, hat sich ihr ausgesetzt, hat sie durchlitten bis zum Letzten – bis zur Ergebung hinein in das Vertrauen auf Gottes alles überwindende und rettende Liebe. Das Wort am Schluss seiner Abschiedsreden bestätigt noch einmal diese Erfahrung: „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt“ (Joh 16,33). Der erschütterte Herr in all seiner Ohnmacht, Angst und Schwäche –  entspricht das nicht genau dem Lebensgefühl, das die meisten von uns heute haben? Dürfen wir uns deshalb nicht in dieser weltumspannenden Corona-Fastenzeit in besonderer Weise von ihm verstanden und mit ihm verbunden fühlen?

Drei große Arten von Ängsten treiben viele derzeit um: Die Angst vor dem Nichts, vor der Vernichtung, vor dem Tod. Die Angst vor Einsamkeit, vor Verlassenheit, vor dem Alleinsein. Und schließlich die Angst vor dem Dunkel, vor Leere und Sinnlosigkeit. Durch alle diese Ängste ist Jesus am Karfreitag hindurchgegangen. Wenn wir den Mut finden, uns wie er auf unsere Ängste einzulassen, uns in sie hineinzuwagen, dann kann es sein, dass wir in aller Einsamkeit und Trostlosigkeit auf einmal ein Stück Geborgenheit spüren, dass wir im absurdesten Widersinn einen Sinn erahnen und dass wir angesichts unausweichlicher Vernichtung etwas vom Unzerstörbaren und Unvernichtbaren erspüren. Was uns in solchen Momenten, auch wenn sie noch so kurz sein mögen, aufgeht, ist letztlich Gott selbst. Die Erfahrung der Angst kann zur Erfahrung des lebendigen Gottes und zum Geschenk einer ganz persönlichen Begegnung mit ihm werden.

Sören Kierkegaard, der große dänische Philosoph und Theologe des 19. Jahrhunderts, schrieb einmal: „Eines fehlt mir noch, das suche ich: mein unsicheres, geängstigtes Leben auf etwas gründen zu können, was nicht mein Eigenes ist, worin ich mich mit den tiefsten Wurzeln meiner Existenz einlassen könnte; sozusagen in das Göttliche eingewurzelt und verankert, auch wenn die ganze Welt zusammenstürzt. Danach suche und strebe ich …“

Streben wir danach nicht alle – zu allen Zeiten und heute ganz besonders?

Werfen wir nun einen Blick auf die Passionsgeschichte des Karfreitags. Auf seinem Kreuzweg begegnet Jesus vielen ganz unterschiedlichen Menschen. Auch dort ist die Angst allgegenwärtig. Selbst Pilatus, der Vertreter der römischen Machthaber, hat Angst – um seine Macht, um seine Ehre und um seinen Ruf. „Er fürchtet sich noch mehr“, heißt es in Joh 19,9, als die aufgebrachte Menge zu schreien beginnt: „Ans Kreuz mit ihm!“. Zuvor schon hatte Petrus, der Fels, auf dem Jesus seine Kirchen bauen will, Angst, sich zu seinem Meister zu bekennen. Gleich dreimal verleugnete er ihn – aus purer Angst, dass es auch ihn treffen könnte. Immerhin war er Jesus noch bis zum hohenpriesterlichen Palast gefolgt. Die anderen Jünger hatten da schon längst die Flucht ergriffen und beobachteten das Geschehen nur von Weitem, aus sicherer Entfernung. Einzig die Frauen, die tapferen und bedingungslos liebenden, überwanden ihre Angst und gingen Jesu Kreuzweg mit bis zum bitteren Ende.

Dann, so berichten es die Evangelien: „kam Finsternis über das ganze Land,“ – kosmische Finsternis, Gottesfinsternis. „Gottesfinsternis,“ so sagte einmal der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, „ist der Charakter der Weltstunde, in der wir jetzt leben.“ Diese Gottesfinsternis ist wohl die tiefste aller menschlichen Ängste. Das jüdische Volk hat sie durchlitten – zu allen Zeiten bis zur Shoah. Und auch Christus hat sie durchlitten, als er um die neunte Stunde auf Golgatha schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). In seiner Todesstunde kommt er uns noch einmal ganz nah, identifiziert sich mit uns, den Zweiflern, den Verängstigten und Kleingläubigen. Er verlässt die Welt nicht als strahlender Held, sondern mit der Frage nach dem „Warum?“ auf den Lippen. Genau hier, in dieser immer wieder und immer neu gestellten Frage nach dem Warum, wird vielleicht das große Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus besonders erfahrbar. Am Kreuz leidet Gott auch unsere Angst, unsere Verlassenheit, unser Sterben mit. Er schafft unser Elend nicht ab, er steht es mit uns durch. Gott hat sich in die Grausamkeit unserer Welt hineinbegeben, mitten hinein in alle ungelösten Fragen. Aus dem KZ Auschwitz ist uns ein Vorfall überliefert, der unser ganzes gewohntes Gottesbild in Frage stellt. Ein Junge soll gehängt werden, weil er Untergrundnachrichten weitergegeben hat. Alle Blockinsassen mussten zusehen, wie er lebendig an einen Pfahl gehängt wurde und einen qualvollen Todeskampf durchlitt. Einer der Umstehenden rief leise, anklagend: „Wo ist denn jetzt Gott, wo ist er?“ Der Jude Elie Wiesel, erinnert daran, wie er da eine Stimme in seinem Inneren antworten hörte: „Dort hängt er, – dort am Galgen.“

Gott am Kreuz, er verwandelt unser Leid nicht, indem er es wegnimmt, sondern indem er in den untersten Grund der Not zu uns herabsteigt. Gott ist kein bequemer und berechenbarer Gott. Mit dem Kreuz streicht er alle Gottesbilder durch, die nur unseren menschlichen Wunschträumen entstammen. Vielleicht fängt Glaube dort ganz unten an, in Ohnmacht und Verzweiflung. Vielleicht wagen wir das einmal: zulassen, dass Gott uns fallen lässt, – ins Ungewisse, ins Bodenlose, ohne Licht und Trost. Wo Glaube eigentlich sinnlos geworden ist und Liebe lächerlich, wo es keinen Menschen mehr gibt – dort, ganz unten, an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt, da wartet Er, um uns aufzufangen und nicht mehr loszulassen. Vielleicht geht es nur um diesen Glauben, der durchhält: das Unbegreifliche stehen lassen, die Durchkreuzungen unseres Lebens akzeptieren, unsere Ängste annehmen und sie Gottes verwandelnden und erlösenden Händen übergeben. Vielleicht ist dieser Durchhalteglaube das einzige, was wirklich zu tragen vermag. Nicht nur am Karfreitag.

Von Sr. Philippa Rath