„Ob er/sie Eifer hat, Widerwärtiges zu ertragen“
Dieses Ich, das Wahrste meines Ichs, das Ich vor mir und das Ich über mir: Unruhe. Als Gott über meinen Erdenstand blies,um in ihn meine Seele einzupflanzen, muss er wohl zu heftig geblasen haben. Ich habe mich nie erholt von diesem Anhauch Gottes. Ich habe nie aufgehört, wie eine Kerze zu zittern,wie eine flackernde Kerze zwischen zwei Welten. Und doch …
(Marie Noël)
Das dritte O des 58. Kapitels der Benediktusregel fragt den Mönch, ob er Eifer hat für die „obprobria“. Der neue Regel-Text übersetzt das Wort mit „Widerwärtigkeiten“, während in alten Übersetzungen von „Verdemütigungen“ die Rede war. Wie immer man dieses in jedem Fall unbequeme Wort übersetzen mag, es geht um die Erfahrung, dass es in einem konsequent gelebten christlichen Leben manchmal hart und rauh zugehen kann. Der hl. Benedikt betont eigens: „Im voraus sage man ihm [dem Neuankommenden), wie rauh und schwierig der Weg ist, der zu Gott führt“(Benediktusregel Kap. 58,8). Diese Erfahrung trifft jeden von uns. Es kann sein, dass uns über lange Strecken unseres Lebensweges Gegen-wind ins Gesicht bläst. Wir geraten in die Feuerprobe, wie es in Psalm 66 heißt: „Gott, du hast uns geprüft und uns im Feuer geläutert, wie man Silber im Feuer läutert“. Solche Zeiten der Krise, in denen wir bisweilen an der Richtigkeit und Sinnhaftigkeit unserer Lebensentscheidungen zweifeln, sind oft nur schwer zu bestehen.
Sie konfrontieren uns unausweichlich mit uns selbst. Wir entdecken unsere Grenzen, unsere Schwächen, unser Ausgesetztsein, auch die Abgründigkeit des eigenen Herzens. Und es kann noch schlimmer kommen: wir erfahren nicht selten das Scheitern all unserer geistlichen Bemühungen. Alles, an dem wir uns bisher orientieren und festhalten konnten, geht verloren, nicht selten auch das Gebet. Nichts scheint dann mehr zu tragen. Solche Erfahrungen hinterlassen in uns bleibende Spuren, Wunden, die immer wieder aufbrechen können, vielleicht ein Leben lang. In solchen Zeiten sind wir geneigt, vom einmal eingeschlagenen Weg abzuweichen oder ihn sogar ganz aufzugeben.
Wie können wir solche Situationen bewältigen? Eine wichtige Einsicht scheint mir zunächst einmal zu sein, dass solche Widerwärtigkeiten, wir könnten auch sagen Schwierigkeiten, Niederlagen, Enttäuschungen zum Leben eines jeden unabdingbar dazu gehören. Sie sind ein Teil der conditio humana – der hl. Benedikt hat dies sehr wohl gewusst. Er kennt Zeiten der Krise sehr genau, wenn er z.B. im 29. Kapitel vorsieht, dass ein Bruder, der das Kloster verlässt, „bis zu drei Malen wieder aufgenommen werden soll“ (RB 29,3). Ganz praktische Erfahrungen stehen sicher auch dahinter, wenn er im 4. Kapitel als Werkzeuge der geistlichen Kunst u.a. nennt: „Sich nicht zu Taten des Zorns hinreißen lassen; nicht im Groll verharren; keine Falschheit im Herzen tragen; nicht heuchlerisch Frieden bieten; von der Liebe nicht lassen; nicht Böses mit Bösem vergelten; an Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln“ (RB 4, 22-25. 29. 74).
Krisenzeiten sieht der hl. Benedikt als Chance an, als Zeiten des Wachsens und Reifens, um letztlich immer mehr der Gestalt Christi ähnlich zu werden. Er erwartet von uns, dass wir Widriges geduldig annehmen, nicht den Mut verlieren und nicht davonlaufen: „Er erträgt das alles, denn er denkt an das Wort der Schrift: Wer bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet, und das andere Wort: hab festen Mut und ertrage den Herrn“ (RB 7, 36.37). Letztlich geht es also um das Aushalten Gottes. Er selbst ist es, dem wir in den Obprobria, in den Engführungen unseres Lebens begegnen. Gotteserfahrung steht für den, der sich auf den Weg der Nachfolge begeben hat, unabwendbar im Zeichen des Kreuzes. Wir werden ganz konkret und hautnah in die Leidensgemeinschaft mit dem Herrn hineingenommen – propter te – um deinetwillen. Dieses Geheimnis unseres Glaubens und unserer Berufung dürfen wir nicht aufgeben, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen.
Johannes Tauler hat den geistlichen Sinn der Krise, die uns in die Entscheidung bringt, einmal als Wiedergeburt beschrieben: „Bleibe nur bei dir selber, leide dich aus und suche nicht etwas anderes. Bleibe ohne allen Zweifel dabei; nach der Finsternis kommt der lichte Tag, der Sonnenschein … Es erhebt sich kein Gedränge im Menschen, Gott wolle denn eine neue Geburt in ihm vornehmen.“
Vielleicht ist es gut, unser eigenes Leben einmal als durch-kreuztes Leben zu betrachten. Durch-kreuztes Leben möchte heißen: Leben, das eben nicht immer glatt verläuft, das Umwege enthält und viele Stolpersteine, das durchkreuzt wird von Menschen, Ereignissen und Widerfahrnissen, die unbequem sind, schmerzen und verwunden. Durch-kreuztes Leben heißt auch: Wegkreuzungen, Gabelungen, die zur Entscheidung zwingen, die herausfordern, eine Möglichkeit zu erfassen und andere hinter sich zu lassen. Fragen wir uns, welche Kreuze und Durch-Kreuzungen es sind, die uns so haben werden lassen, wie wir sind. Bin ich mir am Ende vielleicht selbst das schwerste Kreuz? Kann ich mich annehmen, wie ich bin oder hadere ich nur allzu oft mit mir selbst und damit letztlich auch mit meinem Schöpfergott?
Ich möchte exemplarisch drei Punkte herausgreifen, die Kreuze in unserem Leben sein können und die uns, sofern sie nicht angenommen werden, auf dem Weg der Nachfolge oft schmerzlich behindern können.
Da sind zunächst die eigenen Lebenswunden, die oft ungewollt und unbewusst unseren ganzen Lebensweg prägen. Fragen wir uns: Gibt es Erinnerungen, die noch immer schmerzen; Wunden, die nie verheilt sind; Ereignisse und Erfahrungen, mit denen ich niemals abgeschlossen habe? Auf welche Weise sind vielleicht auch mein Gottes- und mein Menschenbild von diesen Kreuzen und Durchkreuzungen geprägt worden? Bin ich überhaupt bereit, mich innerlich zu versöhnen, mich sozusagen selbst zu überspringen? Es gehört Mut dazu und manchmal auch einen sanften Anstoß von außen. Aber ich denke, nur so können wir der Gegenwart, in die wir heute hineingestellt sind, gerecht werden. Wichtig ist dabei, dass wir alles so anschauen, wie es ist. Alles darf sein, denn jeder Schatten verleiht dem Bild des Lebens erst Kontur. Oder, um es mit Johannes Bours zu sagen:
„Ich kann auch dann ein Segen für andere sein, wenn ich einen schweren Schatten mit mir trage. Ja, gerade dann. Nur: ich muss ein daran Leidender sein, ich muss dazu stehen, dass ich ein armer, verwundeter Mensch bin.“
Als zweiten Punkt möchte ich die Versöhnung mit den einmal getroffenen Lebens-Entscheidungen, mit den Kreuzungen in unserem Leben nennen. Wir wissen, dass viele Menschen mit ihren Lebensentscheidungen hadern. Irgendwann einmal haben wir uns festgelegt. Aus verschiedenen Möglichkeiten haben wir uns für ein Lebensprojekt, einen Lebensentwurf, einen Lebensstand entschieden. Bisweilen hat auch das Leben für uns entschieden. Was danach kam, war dann „nur“ noch das Ausfüllen und Einlösen dieser einen Entscheidung. Das ist eine Lebensaufgabe, die sich auf allen Altersstufen wieder neu und auf je andere Weise stellt. Jede Entscheidung im Leben fordert von uns gleichzeitig das Zurücklassen einer Vielzahl anderer Möglichkeiten – und das ist für viele Menschen heute ein Problem. Wir müssen uns im wahrsten Sinne bescheiden lernen und zwangsläufig auf vieles verzichten. Der verstorbene Aachener Bischof Klaus Hemmerle hielt uns einmal einen Vortrag zum Thema „Die verschenkten Lebensmöglichkeiten“ und beschrieb darin gerade diesen Verzicht als das entscheidende Kriterium für die Armut im Geiste. Solcher Verzicht hat etwas mit Hingabe zu tun: ich gebe etwas hin im Blick auf ein je Größeres, Wertvolleres, Erfüllenderes. Die Versuchung ist groß, solche Akte der Hingabe – manchmal auch scheibchenweise – später im Leben wieder zurückholen zu wollen. Denn auch das Größte, Schönste und Wichtigste verliert irgendwann seinen Glanz, kann öde und langweilig werden. Manchmal kann uns dann sogar ein Gefühl der Ohnmacht beschleichen, des im wahrsten Sinne des Wortes Festgenagelt-Seins. Hüten wir uns davor, dann mit neidvollem Blick auf andere zu schauen, die es scheinbar besser getroffen haben. Richten wir unseren Blick lieber auf das Kreuz und den Kreuzweg Jesu und nehmen wir unser kleines Kreuz bewusst auf die Schulter. Tapferkeit und Treue sind dann gefragt, vielleicht auch nur ein klarer und nüchterner Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Der hl. Benedikt ermahnt uns immer wieder, im Hier und Heute zu leben, die Hand an den Pflug zu legen, nicht zurückzuschauen und auch keinen Trugbildern oder falschen Träumereien nachzulaufen. Ein Schlüsselwort des 58. Kapitels ist: „nihil sibi reservans ex omnibus“ (ohne sich irgendetwas zurückzubehalten). Das gilt nicht nur für den äußeren Besitz, sondern das gilt für alles, was uns hindert auf dem Weg zu Gott.
Ein dritter Punkt, der uns zum Kreuz werden kann, erscheint mir unbewältigte und verdrängte Schuld zu sein. Schon mancher ist an echter oder vermeintlicher Schuld zerbrochen. Sie kann zu einem Strudel werden, der uns immer mehr in die Tiefe ziehen kann – in die Tiefe von Depressionen oder aber im anderen Extrem zu einem bloß oberflächlichen Dahinleben. Wer schuldig wird, spürt zumindest dunkel, dass er am Sinn seines Lebens vorbeilebt. Dabei beginnt die Verstrickung nur allzu oft im ganz Kleinen und Unscheinbaren; der Prozess geht sozusagen lautlos vonstatten. Wirkliche Schuld (nicht die diffusen Schuldgefühle, die vielen von uns auch immer wieder zu schaffen machen) hat meist eine längere, unbemerkt gebliebene Vorgeschichte. Kleine Unterlassungen können ihre eigene Dynamik entwickeln und stoßen bald hartnäckig ins Zentrum, wenn unsere geistige Wachsamkeit erlahmt. Fragen wir uns ganz nüchtern: wo stimmt meine konkrete Lebensführung im Grunde schon lange nicht mehr mit dem überein, was ich einmal als gut und richtig erkannt und gelobt habe? Es gibt ein heilsames Erschrecken vor der eigenen Schwäche und der eigenen Schuld. Hier gilt es innezuhalten, Abstand zu sich selbst zu gewinnen und neu anzufangen. Sonst kann das Kreuz der eigenen Schuld am Ende zum Kreuz für die anderen werden.
Wir dürfen die Kreuze und Durchkreuzungen unseres Lebens Gott und seinem für uns gekreuzigten Sohn Jesus Christus selbst hinhalten und sie von ihm verwandeln lassen.
Vielleicht können dabei drei Fragen helfen:
- Welche Kreuze hat Jesus in seinem eigenen Leben erfahren und durchlitten? (z.B. Ausgrenzung, Heimatlosigkeit, Angst, Einsamkeit, Versuchung, Verleumdung, Entblößung u.v.m.)
- Welchen Kreuzen ist Jesus im Umgang mit den Menschen begegnet? (z.B. Blindheit, Besessenheit, Verlassenheit, Unglaube, Schuld u.v.m.)
- Wie hat Jesus die Menschen von ihren Kreuzen befreit? (z.B. durch Handauflegung, durch den verwandelnden Blick, durch Annahme und Zuwendung, durch Vergebung u.v.m.)
Wir dürfen vor Gott treten, so wie wir sind. Beladen mit Ängsten; Unsicherheiten, Zerstreuungen, Verwirrungen, Hoffnungen – mit allem, was uns im Leben ein Obprobrium war und ist. Er wird uns vielleicht keine großartigen Antworten geben, aber das alles entscheidende Wort bereithalten: „Ich bin da!“ Im Vertrauen darauf wächst dann langsam und leise vielleicht auch in uns etwas Neues. Und wir werden wieder neu mit unserem ganzen Leben antworten können: „Ich bin da“.
von Sr. Philippa Rath OSB